84
III. Periode.
Von dem Tode Karl's des Großen bis auf die Zeiten Gre-
gor's VII. oder von dem Verfalle des Frankenreiches bis
auf die Kreuzzüge. 814—1100,
§• 62.
Die Karolinger. Bleibende Trennung von Leutschland und Frankreich.
Nach Karl's Tode trat bald eine Zeit heilloser Verwirrung ein;
denn es fehlte die kräftige Hand, welche ein so großes Reich hätte
regieren und Zusammenhalten mögen. Die großen Vasallen, ver¬
gessend des gemeinsamen Vaterlandes, waren auf nichts bedacht, als
auf Erweiterung ihrer Rechte und Besitzungen, und ergriffen nicht
selten die Waffen gegen die Könige, während äußere Feinde, wie
Normannen und Ungarn, verheerend und plündernd das Reich
anft'elen. So gin^ manche hoffnungsvolle Aussaat Karls des Gro¬
ßen bei der Schwache seiner Nachfolger, die von ihm die Karo¬
linger heißen, durch die Stürme der Zeit wieder unter; aber ein
unverwüstlicher Grund für Gesittung und Bildung war in einem
großen Theile von Europa durch Ausbreitung des Christenthums ge¬
legt, auf welchem bald ein schöneres Leben erblühen sollte. Insbe¬
sondere hat der heil. Anscharius, der Apostel des Nordens, im An¬
fänge des 9. Jahrhunderts um die Ausbreitung des Christenthums
in Dänemark und Schweden große Verdienste.
Ludwig der Fromme (814—840), wohlgesinnt und nicht
ohne Kenntnisse, hatte als König von Aquitanien noch während
der Lebzeit seines Vaters löblich regiert; aber ein so großes Reich zu
beherrschen war er unfähig durch Schwäche und Nachsicht gegen seine
Söhne und die Großen des Reiches. Bereits fühlten die Teutschen
in den eroberten römischen Provinzen bei ihrer Vermischung mit den
früheren Einwohnern das Bedürsniß, einen eigenthümlichen Entwick¬
lungsgang zu gehen. Daher theilte Ludwig schon im dritten Jahre
seiner Regierung das Reich unter seine älteren Söhne, jedoch sollten
sie ihm als Vater und Kaiser unterthan sein. Aber Ludwig änderte
wiederholt diese Theilung zu Gunsten seines geliebten jüngern Soh¬
nes, Karl des Kahlen. Dies erbitterte die älteren, die sogar zu
den Waffen griffen, und, in siuchwürdigem Kriege gegen den eigenen
Vater, diesen mehrmals gefangen nahmen, so auf dem Lügen¬
felde bei Colmar (833). Jm Bußgewande und kniend legte Lud¬
wig ein öffentliches Bekenntniß seiner Sünden ab. Aber der Re¬
gierung und Kaiserwürde zu entsagen, konnte er nicht vermocht wer¬
den. Nach dem Tode des Vaters (840) setzten die entarteten Brü¬
der den Streit um das Erbe unter sich fort, bis das Volk selbst, des
ruchlosen Kampfes müde, dessen Beilegung verlangte. So kam der
in seinen Folgen so wichtige Vertrag von Verdun 843 zu Stande,