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Doch wenden wir uns ab von diesen Verirrungen, welchen Grund
und Anlaß zu geben auch die mildeste aller Lehren, die Religion der Liebe
und Duldung, selbst nicht zu entgehen vermochte.
Anders war es in der römischen Welt, wo auf die Feststellung und
Bewahrung des reinen Lehrbegriffes, auf die Ordnung der Kirche und des
Gottesdienstes, aus die Stellung und das Verhältnis der Kirche zum Staat
und andere mehr äußerliche Dinge ein besonderes Gewicht gelegt ward.
Wie Rom einst die Mutter der weltlichen Gesetzgebung war, so wurde sie
auch jetzt der Mittelpunkt und das Organ der geistlichen Bestimmungen,
durch welche und in welchen das Kirchliche und Gemeindeleben allmählich
sich entwickeln sollte.
Innerlich, mit dem Gemüthe, erfaßten vor Allen die Deutschen das
Christenthum. Sie suchten nichts eifriger, als sich im Glauben der Per¬
son des Erlösers zu versichern, in Liebe und Treue sich ihm auf das Engste
zu verbinden. In dichten, von keiner Axt berührten Wäldern, bei frisch¬
sprudelnden Quellen, aus freien Bergeshöhen hatten die alten Germanen
ihre Götter angerufen, die sie als freiwaltende geistige Gewalten in tief¬
sinnigem Glauben verehrten. Sie waren nicht glaubenslos, wie die Rö¬
mer und Griechen, als das Evangelium von Christus in ihre Herzen drang.
„Sie wurden bekehrt, wie einst Paulus bekehrt ward, an die Stelle der
alten Liebe trat die neue." Die christliche Lehre stimmte mit dem urei¬
gensten Triebe des germanischen Wesens zusammen; sie brachte die Frei¬
heit der Kinder Gottes. Was als dunkle Ahnung in der alten germani¬
schen Götterlehre, was im Bewußtsein des Volkes verborgen lag, das Evan¬
gelium brachte es an das Licht. Wie dem deutschen Gemüthe das unmit¬
telbarste Verhältniß von jeher stets das nächste und liebste war, so ergriff
es auch hier das persönliche Verhältniß des Menschen zu seinem himmli¬
schen Vater und zu seinem Heiland mit allen Kräften seiner frischen und
unverdorbenen Natur. Während innerhalb des römischen Kirchenwesens
die Bekehrungsarbeiten der Kirchenväter und die Streitigkeiten der ver¬
schiedenen Sekten eine dogmatisch belehrende Glaubens- und Meinungs¬
literatur hervorgernfen hatten, war das erste deutsche Buch, von dem wir
überhaupt wissen, und welches uns mindestens theilweise erhalten ist, die
Bibelübersetzung des gothischen Bischofs Wulfilas.
Wohl mag auch hier in sehr früher Zeit die andächtige Poesie in
frommen Liedern ihren Ausdruck gefunden haben, da der christlichen Erhe¬
bung vor Allem die lyrische Weise nahe lag, und dem Gesang eine so
Stellung ohne Furcht und Schwindel bewahren und nach und nach die verschiedensten
Stellungen der Andacht annehmen. Er pflegte zuweilen aufrecht stehend mit ausge¬
streckten Armen in Form eines Kreuzes zu beten; seine gewöhnlichste Uebung war,
sich vom Scheitel bis zur Sohle unzählige Male niederzubllcken. „Der einsame Dul¬
der verschied, ohne von seiner Säule herabzusteigen." Tausende von minder heiligen
Anachoreten bevölkerten die syrische und ägyptische Wüste.