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III. 30. Mengs:
beobachtet und schön gemacht, so ist dieses ein Zeichen, daß besagte Teile die
Hauptabsicht und Wahl des Meisters gewesen: wenn er aber Teile in einigen
Stücken findet, in andern nicht, so ist das ein Zeichen, daß in diesen Teilen
nicht die Stärke des Meisters besteht, und sie also nicht seine Absicht noch
Geschmack gewesen, und darum also auch nicht die Ursachen der Schönheit
seiner Werke und seines Geschmackes sind.
5 In der Malerei sind aber zwei Teile, worin Schönheit zu bezeichnen
ist, nämlich Form und Farben: zur Form gehört auch Licht und Schatten;
durch die Form werden alle Bedeutungen der Regursachen bezeichnet, durch
Farben die Eigenschaften. Regursachen nenne ich alle menschlichen Leiden¬
schaften, Eigenschaften aber alles, was man weich, hart, feucht, trocken
und dergleichen nennt. Also sage ich zum Exempel: Raphael hat die Be¬
deutungen aufs höchste besessen, und diese sind Ursache seiner Schönheit:
diese findet man in allen seinen Werken, in den schönsten und in den
schlechtesten. Obgleich er in seinen besten Gemälden die Regeln von Licht
und Schatten und des Kolorits gut beobachtet hat, so gründen sich diese
Schönheiten nicht aus Überlegung, sondern sind die Früchte der Nachahmung
der Natur. Folglich ist in seinen Werken der Teil der Bedeutung zu be¬
trachten und zu erlernen. Die Vollkommenheit der Bedeutung besteht darin,
daß zum Exempel ein zorniger, ein fröhlicher, ein trauriger Mensch —
und so durch alle Leidenschaften — nichts anderes als eben das bedeuten
könne, und in solcher Stärke und solchem Maß, als es in jeder Geschichte
nötig ist, damit man in einem Werke durch die Gestalten die Geschichte er¬
kenne, nicht aber durch die Geschichte nur die Bedeutungen finde.
6 So betrachte man die Werke des Correggio, man wird in ihnen
mehr Annehmlichkeit als in aller andrer Meister Werken sinden; es muß also
der Maler wissen, welcher Teil der Malerei die höchsten Annehmlichkeiten ver¬
ursache. Die Malerei wird durch die Augen angenehm, die Augen aber finden
in der Ruhe ihr Vergnügen; diese Ruhe der Augen zu verursachen, und zu
schmeicheln ist kein Teil der Malerei tauglicher, als Licht und Schatten und
Harmonie, und diese waren der Teil des Correggio. Man betrachte alle seine
Werke, um in allen diese Teile beobachtet zu finden. Indem er die Ruhe
der Augen suchte, fand er auch die Großheit der Formen, weil alles Kleine
die Augen mehr als das Große bemüht, und dieses war die Ursache seiner
ganzen Schönheit. So suchte Tizian die Wahrheit, nicht aber auf demselben
Wege wie Raphael: Raphael bildete den ganzen Menschen, hauptsächlich aber
die Seele, und die Ursache des Menschen und der menschlichen Wirkungen;
Tizian aber suchte die Wahrheit in der Materie des Menschen und aller
anderen Sachen. Darum befliß er sich, aller Dinge Eigenschaft und Sein