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Viertes Buch. Dritter Abschnitt.
als allertheuerstes Gut ihren Kindern und Kindeskindern verbliebe. Das
beschworen die frommen Männer bei dem allmächtigen Gott und seinen
Heiligen. Dann gingen die Eidgenossen heim und erwarteten still und ver¬
schwiegen die rechte Stunde für ihr Werk.
Inzwischen hatte Geßler in seinem Argwohn sich vorgenommen, die
Herzen derer zu erforschen, welche seinem Regiment und dem Hause Oester¬
reich am meisten abhold wären. Deshalb ließ er im Lande Uri den Her-
zogshut von Oesterreich auf einer hohen Stange aufrichten, mit dem Ge¬
bot: Jeder, welcher des Weges käme, müsse sich vor dem Hute neigen und
demselben Ehrfurcht beweisen. Da kam Wilhelm Tell,'ein Mann aus
Bürgten in Uri, der auf dem Grütli mitgeschworen hatte, weit und breit
bekannt als der beste Schütze und als ein Mann, der zu Allem beherzt sei.
Der wollte dem Hut nicht Ehrfurcht beweisen. Als der Vogt dies ver¬
nahm, kam er voll Grimms herzu, ließ den Tell greifen und that nach
Uebermuth also mit ihm: Er ließ des Tells Kind an eine Linde hinstellen
und einen Apfel auf des Kindes Haupt legen, und gebot dem Vater, weil
er ein so guter Schütze sei, solle er zur Stelle den Apfel vom Haupt des
Kindes herabschießen. Mit Gottes Hülfe unterwand sich der Tell der That
und traf glücklich den Apfel, ohne seines Kindes Haupt zu verletzen. In¬
dessen hatte der Vogt genau auf des Tells Miene und Geberden geachtet
und wie Alle Gott priesen, daß Er dem braven Mann geholfen, sprach er
zu ihm: „Du bist ein wackrer Schütze! Doch sag mir an: Ich sah, wie
du einen andern Pfeil hinten ins Goller stecktest; wofür war der?" Da
säumte der Tell mit der Antwort und wollte sich entschuldigen: „das sei so
Schützenbrauch". Doch der Vogt in seinem Argwohn nahm dies nicht an
und sprach: „Tell, es ist ein andrer Grund; den sag mir fröhlich und
frei; du sollst deines Lebens sicher sein." Da erwiederte der Tell: „Wohlan,
Herr, weil ihr mich meines Lebens versichert habt, so will ich euch gründ¬
lich die Wahrheit sagen. Wenn ich mein Kind getroffen, dann hätte ich
euch selbst mit dem andern Pfeil erschossen, und eurer nicht gefehlt." Wie
der Vogt dies vernahm, sprach er: „Deines Lebens hab ich dich gesichert
und will dies halten. Weil ich aber deinen bösen Willen erkannt, so will
ich dich führen und hinlegen lassen an einen Ort, wo du Sonne und Mond
nimmermehr sehen sollst, damit ich vor dir sicher sei;" und ließ ihn fangen
und binden und führte ihn mit sich über den Waldstättersee; denn er wollte
ihn nach Küßnacht bringen auf sein Schloß und dort in den Thurm wer¬
fen. Wie sie aber dahin fuhren auf dem See, und jenseits des Grütli ka¬
men, da ward der wilde Wind los, welcher der „Föhn" heißt, der See
ging hohl und die Wellen schlugen hoch auf und tief nieder, daß den Vogt
ein Grausen ankam um sein Leben. In solcher Todesnoth ließ er dem Tell,
welcher gebunden da lag, die Fesseln lösen, daß er, als ein starker und der
Fahrt auf dem See wohl kundiger Mann, ihn errette. Nun führte der Tell
das Fahrzeug mit Macht gegen Wind und Wellen; wie sie aber an den
Arenberg kamen und der Tell eine Felsplatte ersah, drückte er das Schiff
hart daran, ergriff rasch sein Schießzeug, sprang aus dem Schiff aufTie
Platte und stieß das Schiff mit dem Fuß gewaltig in den See hinaus;
so war er aus des Vogts Gewalt frei. Jene Platte heißt seitdem die Tel¬
lenplatte. Hierauf entrann der Tell eiligen Fußes durch Schwyz und legte
sich in die hohle Gasse bei Küßnacht, wo der Geßler des Weges kommen
mußte. Und als derselbe heranritt, voll böser Anschläge auf den Tell, da
durchschoß ihn dieser mit dem zweiten Pfeil, daß er todt vom Rosse fiel; so