54
deine Hand unschuldiger Knabe: auf deine Hand will ich
Treue geloben." Er that cs. Seine Gefährten standen
lange betroffen und schweigend. Dann aber sprachen sie zu
rhrem Hauptmanne: „Du bist unser Anführer auf der
Bahn des Verbrechens gewesen: sei er nun auch auf dem
Pfade der Tugend!" Alle schwuren Treue auf meine Hand
und eilten auf Befehl des Anführers, ihren Raub zurück
zu erstatten, besserten sich und wurden ehrliche Leute.
seltene Tugend führt Andere zur Tugend zurück.
69 Das hochzeitliche Kleid.
Auguste hatte von ihrer Großmutter ein schönes Kleid
zum Geschenk erhalten. Es war von weißer, glänzenderSeide
mit schön gestickten, rothen Blümchen übersäet, und dir Saum
mit feinen Spitzen verbrämt. Das Mädchen hatte daran
eine unbeschreibliche Freude. Mit Herzenslust sah sie es oft
an, und zeigte es jeder ihrer Gespielinnen. Der Gedanke
an das schöne Kleid war der erste bei ihrem Aufwachen und
der letzte vor ihrem Einschlummern. Als sie es aber am
Hochzeittage ihres Bruders zum erstenmal anzog, hatte sie
das Unglück, beim Essen einen Flecken in das hochzeitliche
Kleid zu machen. Bitterlich weinte das Mädchen, als es
nach Hause kam, und der Mutter den Unfall erzählte.
Nach einiger Zelt begegnete es ihr wieder, daß sie das
Kleid mit zwei andern Flecken beschmutzte. Es schmerzte
sie zwar, aber lange nicht mehr m einem so hohen Grade,
als das erstemal, und sie vergoß nun schon keine Thräne
mehr. „Sieh, meine Tochter," sprach jetzt die verständige
Mutter, welche dieses bemerkt hatte, „wie es dir mit dei¬
nem schönen Kleide ging, so geht es auch mit der Unschuld;
denn die Unschuld ist so recht das hochzeitliche Kleid der
unsterblichen Seele. Man achtet und schont das schöne Kleid,
so lange es rein und unbesieckt ist. Wird es aber mit dem
ersten Flecken verunstaltet, so betrübt man sich sehr. Indeß
jft's nun einmal geschehen, so schont und achtet n>an es
weniger. Viel gleichgültiger sieht man den zweiten Flecken
an, merkt kaum noch auf den dritten und vierten, und in
kurzer Zeit ist das schönste Festkleid ein verworfener Lappen.
Drum zittre vor dem ersten bösenSchritte! mit ihm sind,ach
schon bald die andern Tritte zu einem nahen Fall gethan!