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B. Beschreibende Prosa. VI. Naturbilder.
des Eisbaches, bald überzieht sie die ganze Fläche des Berges, der sich
mit seinem Purpurteppich im Spiegel des Alpsees malt, oder streut
ihre Blüten gesellig in den vielfarbigen Flor der Alpen. Gleich freund¬
lich wie dem Menschen, dem sie oft, wenn er unaufhaltsam dem Ab¬
grunde zugleitet, ihre rettenden Stauden entgegenstreckt und dem sie in
bitterkalten Sommerlagen willig zum Feuerherde folgt, bietet sie im
harten Winter dem sanften Volke der Alpenhühner ihre zarten Sprossen
und Knospen, um es vor dem nagenden Hunger zu schützen. Der
Gebirgswanderer findet an diesen lieben Stauden so recht einen Ma߬
stab für die stufenweise Entwickelung der Alpenpflanzen. Bei 4000 Fuß
Seehöhe findet er die braunen Kapseln mit halbangereiftem Samen;
bei 5000 Fuß steht die herrliche Pflanze im höchsten Flor; bei 6000 Fuß
beginnt der sonnigste Knospenzapfen die erste Blüte aus der Pyramide
zu lösen, und 500 Fuß höher fangen die Knospen erst an sich zu
bräunen, ungewiß, ob dieser Sommer ihnen die Entfaltung vergönnen
werde. Der Schlag und die Tracht der Alpenrosen ist übrigens in den
verschiedenen Gebirgen sehr verschieden; nie haben wir sie üppiger, mit
größeren, tiefer gefärbten Glocken und Büscheln gesehen als in den
Gebirgen Graubündens. Die gewimperte, die rostfarbene und die rein
weiße Alpenrose sind besondere Arten.
Die reizende Königin der Alpenblumen ist von einem glänzenden
tofstaate umgeben, von dem aber niemand es wagt, mit ihr um die
unst des Menschen zu werben, so bunt, so reich die schönen Kinder
auch geschmückt sind. Unter ihnen treten besonders die Genzianen her¬
vor, die in den verschiedensten Formen und Farben den Alpenrasen
schmücken und viele Arten aufweisen. Die hohe Purpurgenziane, die
punktierte und die gelbe erheben stolz ihre leuchtenden Blumenwirtel
aus den niedrigen Kräutern der Nachbarschaft, während die süellose
und die Frühlingsgenziane millionenfältig ihre purpurblauen Glocken
über die keimende Rasendecke hinstreuen. Sowie der Schnee sein schmutzig
gewordenes Kleid von den hohen Triften zurückzieht, sprießt ungeduldig
oft dicht neben ewigem Gletscher das überaus zierliche Alpenglöcklein
mit seinen lilafarbenen, fein ausgezahnten Blumen aus dem feuchten
Grunde; die hochgelben, weit duftenden Aurikeln bekleiden mit den
niedlichen Steinbrecharten ganze Felsenpartieen; die rosenroten Silenen
bilden große, weithin leuchtende Rasenplätze; die prächtigen Anemonen¬
arten, die blauen und weißen Kugelblumen, die kräftigen Ranunkeln,
die weißen Alsineeen, die blauen und rötlichen Ehrenpreise, die Schaf¬
garben, Senecien, Fingerkräuter, der duftige Thymian, die herrliche
rotblütige Berghauswurz und der blaue Alpenaster, die zierliche Dryas,
die feinen Läusekräuter, die scharfriechenden Lauche, die oft ganze Geröll¬
halden durchwachsen, die zarten Veilchenarten, die bunten Orchideen,
unter ihnen das stark vanillenduftige Kammblümlein, die ebenso' stark
riechenden, schmucken Seidelbaste, die aromatischen Artemisien, die
Glockenblumen und schwerblütigen Habichtskräuter, die blaue Alpenaklei,
die bunten Huflattiche, die vielfarbigen Schmetterlingsblumen, die Alpen¬
sommerröschen und die Polster und Schnüre der Azaleen gehören zu