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Neunte Abth eil un g.
so titel- und rangsüchtig ist, wie in der Vorzeit, so heißt
es doch noch: Ehre dem die Ehre gebühret; und man gibt
Jedem die Benennung, welche sein Amt und Stand ihm ver
schafft, und nennt ihn nicht blos bei seinem Namen, z. B.
nicht Herr Franz, statt: Herr Schullehrer, Cantor, Organist,
Sekretär Franz. Den Vornehmern läßt man zur rechten
Hand, oder bei mehreren Personen in der Mitte gehen, wenn
nicht der Weg dieß unthunlich macht. Man öffnet ihm die
Thür, wenn er ein- oder ausgehen will, läßt ihn voran gehen,
geht ihm entgegen, und begleitet ihn nach den Umständen bis
an die äußerste Thür; leuchtet ihm im Finstern die Treppe
hinab. Sehen wir, daß Jemand herauf oder herab kommt,
so wartet man, bis er vorüber ist, zumal wenn das Aus¬
weichen schwierig ist. Den Kindern der Vornehmen um der
Eltern willen schmeicheln, ist unschicklich, und den Kindern
schädlich; verlangen es diese oder mißhandeln sie barsch be¬
fehlend die ihren Eltern dienenden Personen, so wissen sie
nicht, was sie jetzt noch sind.
Bei der Höftichkett vermeide man die Complimentirsucht,
die im Verbeugen, im Entschuldigen, in der Weigerung ein
Geschenk anzunehmen, in dem Loben und im Danken kein
Ende findet, und aus vermeinter Artigkeit lästig wird; wie
z. B. ein Wirth, der seinen hohen Gast, wieder aus dem
Schlafe pockte, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Auch
beschwere man nicht seine Obern und die Vornehmen durch
lange Besuche, und raube ihnen und andern Geschäftsleuten
nicht durch weitschweifige Erzählungen die kostbare Zeit.
ee) Bei Personen aus den untern Ständen suche man
sich in Achtung zu erhalten, lasse sich nicht Dienste erweisen,
wodurch man in ihre Gewalt kommt, und sich viele Unschick¬
lichkeiten muß gefallen lassen. Aber nian suche auch durch
Güte und Freundlichkeit sich Liebe zu erwerben. Man gestatte
seinen Kindern zwar keine allzugroße Vertraulichkeit mit den
Dienstboten, zumal wenn bei den letzter» die Sitten verdächtig
sind; aber es ehrt doch auch Kinder der Vornehmen, wenn
sie selbst im reifern Alter ihre ehemaligen Wärter und Pfleger
nicht stolz vergessen, sondern die ihnen und ihren Eltern er¬
wiesenen Dienste dankbar belohnen.
st) Gegen Wohlthäter spreche man nicht von ihren Ge¬
fälligkeiten als von Kleinigkeiten; gebe das Geborgte nicht
zu spät und auch unbeschädigt, z. B. ein Buch ohne Flecken