Full text: Geographie, Geschichte und Naturkunde (Teil 2, [Schülerbd.])

108. Der Molm. 
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108. Z)er ZKotjri. 
1. Aus einem kleinen, braunen Samenkorn erwuchs 
die hübsche Pflanze. Der Stengel ist schlank und glatt; 
die Blätter sind ohne Stiele, sitzend; länglichrund sind sie 
geformt; ihr Rand ist schwach gezähnt. Ein eigener, grauer 
Schein liegt auf dem ganzen Kraut, als sei der Abendnebel 
auf ihm festgewachsen und verhülle wie ein Zauberschleier 
den Engel des Schlafes, der in dieser Pflanze wohnt. So 
straff und frisch die Blätter stehen, so lange die Pflanze 
noch im Boden wurzelt, so schnell verwelken sie und sinken 
schlaff zusammen, wenn sie abgepflückt dem Strauße oder 
dem Kranze einverleibt sind. Zu oberst erheben sich die 
Blüten. 
2. Träumerisch nickend hängen die Knospen, verhüllt 
vom bleichgrünen Kelche. Er verschließt die rote Glut der 
Blüte. Die Knospe ist einem Schlafenden vergleichbar. Von 
außen erscheint sie wie ein solcher, regungslos. Die Augen 
sind geschlossen. Aber sie öffnen sich, und wie ein Kind 
das Spielzeug fallen läßt, das es noch in der Hand hielt, 
als es der Schlaf überraschte, so fallen auch der Blume 
des Schlafes die beiden Kelchblätter zu Boden. Vier 
Blüteublätter quellen hervor, rot oder weiß mit raben¬ 
schwarzen Flecken am Grunde; sie bilden ein Kreuz, geformt 
aus Abendrot und Nacht. Inmitten der wundervollen 
Blüte steht ein grauer Kopf mit einer Strahlenkrone. In 
geheimnisvolles Silbergrau gekleidet, umstehen ihn eine große 
Anzahl Staubgefäße, wie eben so viel Ehrenwächter im purpur¬ 
ausgelegten Schlosse des Schlafes. Nur kurze Zeit prangt 
die schöne Blüte, gar bald sinkt sie, dem Kelche folgend, 
zur Erde nieder. Fallblume neunen sie deshalb in manchen 
Gegenden die Kinder. 
3. Fern von uns im heißen Morgenlande, wo die 
Sonne die Blumen liebevoller pflegt, so daß sie üppiger 
gedeihen als bei uns, dort wächst auch der Mohn viel 
höher, und seine Köpfe werden viel größer. Wenige Tage 
nach dem Abfallen der Blütenblätter, gerade wenn die 
runde Fruchtkapsel im vollsten Safte steht, durchwandeln 
die Leute ihre Mohnfelder und ritzen mit scharfem Messer 
jeden grünen Kopf. Ein weißer Saft von äußerst bitterem 
Geschmacke quillt heraus. Der heiße Sonnenstrahl dickt 
diesen Milchsaft ein, so daß er den Tag darauf schon klebrig 
Fischer, Lesebuch. 
B. 10
	        
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