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60. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.
Ueberall, wo der Mensch gehet und stehet, umschweben ihn Gefahren.
Der Boden, auf dem du stehest, kann sich unter dir öffnen und dich verschlingen,
wie er schon ganze Städle mit alt' ihren Bewohnern verschlang; das Haus, in
dem du wohnst, kann über dir zusammenstürzen und dich in seinen Trümmern
begraben; das Feuer, das du schürest, kann dein Kleid ergreifen und deinen Leib
mit Brandwunden bedecken; der Stein, den du wälzest, kann deiner Hand ent¬
gleiten und sich gegen deine Füße wenden. Darum danken wir an jedem Mor¬
gen, an dem wir gesund und froh erwachen, Gott für den Schutz, den er uns
gewährte, als wir bewußtlos in den Armen des Schlafes lagen. Aber nicht
bloß der Gesundheit und dem Leben des Menschen, auch dem, was er sein
Eigenthum nennt, drohen beständig Gefahren. Sein Haus kann der Blitz ent¬
zünden ; seine Saaten kann der Hagel zerschlagen; sein Vieh kann eine Seuche
hinwegrasfen.
Niemand hofft aus eine Gefahr, sondern man fürchtet sie; demnach ist sie
ein Uebel. Die Gefahren jedoch, die den Menschen stets umschweben, sino
nicht wirklich vorhandene, sondern nur mögliche Uebel. Daher könnte man
sagen: „Die Gefahr ist ein mögliches Uebel, oder sie ist die Möglichkeit eines
Uebels." Wenn aber die Rosse vor dem Wagen, in dem ich sitze, scheu werden
und durchgehen; wenn der Sturm das Schiff, aus dem ich mich befinde, bald
in die Tiefe taucht, bald in die Höhe schleudert: dann steht mir eine Gefahr
bevor; ich bin mitten in ihr; sie umgibt mich; sie ist ein vorhandenes Uebel.
Da man sagt: „Sich in einer Gefahr befinden," so kann man auch sagen:
„Sich in eine Gefahr begeben." Wer es thut, der begibt sich in eine Lage, in wel¬
cher irgend ein Gut seines Leibes oder seiner Seele bedroht ist. Das vorange¬
stellte Sprüchwort behauptet, daß derjenige, welcher sich in eine Gefahr begebe,
auch darin umkomme oder sein Leben oder das auf's Spiel gesetzte Gut
verliere.
Die Behauptung des Sprüchworts erregt Widerspruch. Der brave Mann,
dessen edle That der Dichter Bürger besungen hat, begab sich in eine sehr große
Gefahr und kam nicht darin um; der Förster im westlichen Rußland, der sei¬
nen Gast, den cholerakranken Müller, zu retten suchte, begab sich in eine große
Gefahr und kam nicht in derselben um. Diese beiden Fälle, welche gegen die
Behauptung des Sprüchworts zeugen, veranlassen die Frage: „In welcher Ab¬
sicht kann sich Jemand in eine Gefahr begeben?"
Ein Menschenfreund dringt in ein brennendes Haus, um ein Kind, das
man in der Bestürzung zurückgelasien, zu holen. Er begab sich in eine Gefahr
— aus Pflicht. Ein Schiff ist leck geworden und droht zu sinken. Wen die
Boote nicht aufnehmen, der sucht sich durch Schwimmen zu retten. Da begeben
sich Viele, um einer gewissen Gefahr zu entgehen, in eine andere ungewiße
Gefahr — aus Noth. Ein berühmter Reiter-General ritt oft unter den Flü¬
geln einer Windmühle weg, während dieselbe im Gange war. Ihn trieb weder