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„So liegt meine Waldlilie im Schnee begraben," sagt der Verthold.
Dann geht er zu andern Holzern und bittet, wie diesen Mann kein Mensch
noch so hat bitten gesehen, daß mau komme und ihm das tote Kind
suchen helfe.
Rm Rbend desselben Tages haben sie die waldlilie gefunden. Ab¬
seits in einer waldschlucht, im finsteren, wild verflochtenen Dickichte junger
Fichten und Gezirme, durch das keine Schneeflocke zu dringen vermag
und über dem die Schneelasten sich wölben und stauen, daß das junge
Gestämme darunter ächzt, in diesem Dickichte, auf den dürren Fichten¬
nadeln des Vodens, inmitten einer Rehfamilie von sechs Röpfen ist die
liebliche blasse Waldlilie gesessen.
Ls ist ein sehr wunderbares Ereignis. Das Kind hat sich auf dem
Rückweg in die Waldschlucht verirrt, und da es die Schneemassen nicht
mehr hat überwinden können, sich zur Rast unter das trockene Dickicht
verkrochen. Und da ist es nicht lange allein geblieben. Raum ihm die
Rügen anheben zu sinken, kommt ein Rudel von Rehen an ihm zusammen,
alte und junge,' und sie schnuppern an dem Mädchen, und sie blicken es
mit milden Rügen völlig verständig und mitleidig an, und sie fürchten sich
gar nicht vor diesem Menschenwesen, und sie bleiben und lassen sich nieder
und benagen die Däumchen und belecken einander und sind ganz zahm;
das Dickicht ist ihr Winterdaheim.
Rm andern Tag hat der Schnee alles eingehüllt. Waldlilie sitzt in
der Finsternis, die nur durch einen Dämmerschein gemildert ist, und sie
labt sich an der Milch, die sie den Ihren hat bringen wollen, und sie
schmiegt sich an die guten Tiere, auf daß sie im Froste nicht ganz erstarre.
So vergehen die bösen Stunden des Verlorenseins. Und da sich die Wald¬
lilie schon hingelegt zum Sterben und in ihrer Einfalt die Tiere gebeten
hat, daß sie getreulich bei ihr bleiben möchten in der letzten Sterbestunde,
da fangen die Rehe jählings ganz seltsam zu schnuppern an und heben
ihre Röpfe und spitzen die Ghren, und in wilden Sätzen durchbrechen
sie das Dickicht, und mit gellendem pfeifen stieben sie davon.
Jetzt arbeiten sich die Männer durch Schnee und Gesträuche herein und
sehen mit lautem Jubel das Mädchen, und der alte Rüpel ist auch dabei
und ruft: „hab' ich nicht gesagt, kommt mit herein, zu sehen, vielleicht ist
sie bei den Rehen!"
So hat es sich zugetragen; und wie der Berthold gehört, die Tiere
des Waldes hätten sein Rind gerettet, daß es nicht erfroren, da schreit er
wie närrisch: „Nimmermehr! Mein Lebtag nimmermehr!" Und seinen
Rugelstutzen, mit dem er seit manchem Jahre Tiere des Waldes getötet,
hat er an einem Stein zerschmettert.
Peter Rosegger.