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kes hin, wo noch ein uriverkümmertes Natnrleben, ein beinahe kind¬
licher Verkehr zwischen den Menschen und den Thieren bestand.
Was vor der Völkerwanderung lag, ward bis auf wenige dunkel
gewordene Einzelnheiten vergessen; aber allen germanischen Völkern
blieb die sagenhafte Erinnerung an die überstandenen Stürme der
Völkerwanderung, und daher hatten alle im Norden wie im Süden
dieselbe Heldensage. Wie der Krieg um Troja den Grund und Bo¬
den abgegeben hat für die epische Poesie der Griechen, so waren
die auf die Völkerwanderung sich beziehenden Sagen der lebendig
wuchernde Boden der Epik aller Germanenvölker. Mit der Völker¬
wanderung treten daher immer mehr gefeierte Helden auf den Schau¬
platz der Sage und des Gesanges: die Ostgothen-Könige Erma-
narich (S. 87) und Theodorich der Große oder Dietrich von
Bern, wie er in der Sage heißt (S. 120), die Burgunder-Kö¬
nige Günther, Giselher und Gernot, Attila der Hunnen-
König, in der Sage Etzel genannt, Walther von Wasichenstein
oder von Aquitanien, der Friesen- oder Hegelingen-König Hettel
mit seiner Tochter Gudrun, der Dänen-König Horant, die Nor¬
mannen-Könige Ludwig und Hartmut und endlich der Jüten-
König Beowulf. Die Heldensagen waren allen germanischen Völ¬
kern gemein; man sang von diesen wunderbaren Helden in Eng¬
land, in Dänemark und an den Alpen.
Nach dem Uebertritt der germanischen Völker zum Ehristenthum
standen sich längere Zeit Christenthum und Heidenthum als Frem¬
des und Heimathliches kämpfend gegenüber. Die Kirche, so römisch
sie war und so lateinisch die ganze Gelehrsamkeit der Geistlichen,
verschmähte den Gebrauch der Volkssprache nicht; aber sie verschmähte
für sich und verbot dem Laienstande die deutsche Poesie. Und wer
kann sie tadeln, daß sie feind war einem aus dem Heidenthum er¬
wachsenen und heidnischen Aberglauben bewahrenden Gesänge? daß
sie den Lärm der Tanzleiche, der bis in die Gotteshäuser, und
den unzüchtigen Spaß der Mädchen lieber, der bis zu den Non¬
nen in die Klöster drang, nicht dulden wollte? Daraus daß Karl
der Große den Klosterfrauen Mädchcnlieder zu schreiben verbot,
können wir auf den Ton und Inhalt derselben schließen. Es gab
ferner Spottgesänge, welche ebenfalls den Geistlichen verboten
waren. Alle diese Lieder des Volkes haben wir uns als episch zu
denken, sie waren zum Singen und Sagen d. h. zum Erzählen
bestimmt. Der Stoff wurde der Heldensage, der Zeitgeschichte, dem
eigenen Leben und der Thiersage entnommen. Die Thiersage mag
besonders da benutzt worden sein, wo mit dem Gesänge Tanz und
mit diesem Mummerei verbunden war. Denn was die Heiden bei
Opfer- und Leichenschmäusen und bei anderen Festlichkeiten getrie¬
ben hatten, das setzten auch die Neubekehrten an Sonn- und Feier¬
tagen des Christenthums fort und begleiteten auch die christliche Be-
gräbnißfeicr mit possenhaften Gebräuchen. Der Inbegriff von Tanz,
Spiel und Gesang, insofern Musik dieselbe leitete, wurde Leich
genannt, im Gegensatze znm Lied, das auch ein einzelner singen
konnte, und bei dem die Musik den Worten sich unterordnete. Zu
Liedern schlug man die Harfe. Die Lieder und Leiche waren zwar
Eigenthum des ganzen Volkes und aller Stände, es gab aber auch
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