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64. Die ehrliche Schuldnerin.
Eine arme Frau kam zu eisem Kaufmann und
sagte: „mein Vater hat bei Ihrem Vater eine Schuld
von einem Thaler und zwoͤlf Groschen gemacht, er
starb duͤrftig und konnte das Geld nicht bezahlen.“
Der Kaufmann antwortete; „davon weiß ich nichts.“
— AIch aber weiß es,“ sagte sie, „und der liebe Gott.“
„Nehmen Sie das Geld, ich habe es sauer verdienen
muͤssen.“
Sie legte das Geld auf den Tisch — und ging
davon.
Sey ehrlich auch in Kleinigkelten,
So wird Dich Gottes Huld begleiten!
62. Das bescheidene Toͤchterchen.
Giezu das Kupfer: das Veilchen)
Die kleine Veronika ging an einem schoͤnen Fruͤh⸗
lingsmorgen, nach einem langen Winter, zuerst wieder
in den Garten. Mit Vergnuͤgen wurde sie gewahr,
daß der Platz, wo die Veilchen standen, ganz gruͤn
war. Rasch eilte sie nach demselben hin, und sah ein
ganzes Heer aufgebluͤhter Veilchen.
„Du bist doch ein schoͤnes Bluͤmchen,“ sagte sie
zu sich selbst. „Stehst so verborgen und unbemerkt im
Grase, und Dein Geruch ist doch so suͤß. Bescheiden⸗
heit, Du bist die Zierde des Veilchens! Wie manche
Blume prangt mit den schoͤnsten Farben, und hat doch
einen uͤblen Geruch. So bescheiden will ich auch seyn,
wie das Veilchen es ist, und meinen Werth darin
setzen, daß ich fromm fleißig, folgsam und gut bin.
Was hilft mir aller Putz, das beste Kleid, das schoͤnste
Gesicht,