276 190. Ein Brief Sailers an die Kinder seiner Schwester.
dem Hause seines Vaters bereitet hatte. Selig sind, die
ein reines Herz haben; denn sie werden Gott schauen.
Als ich an ihrem Grabe betete und die rotgeweinten
Augen der Verwandten und Nachbarn sah, mußte ich mit¬
weinen; denn sie starb mir so recht von meinem Herzen weg.
Sic starb aber nicht nur mir, sondern auch Euch und Eurem
treuen Vater und vielen andern Menschen wie von der
Seele weg.
Da wir nun ihr menschliches Auge nicht mehr sehen
können, so bleibt uns nichts übrig, als mit festem Blicke
auf das Bild zu sehen, das sie in unsere Herzen gegraben
hat. Sie konnte so in sich gesammelt sein und erfassen und
behalten alle Worte des Lebens, die sie hörte und las
Gott — Christus, Tod — Ewigkeit waren ihre trautesten
Gedanken. Gerne verweilte sie aus dem Leidensberge, am
Fuße des Kreuzes Christi, und fühlte sich hinein in die
Leiden seiner Bcutter. Euch, Ihr Lieben, um sich zu haben.
Euch von ihren frommen Eltern erzählen, war ihr schönster
Himmel auf Erden. Wie oft führte sie Euch an das Sterbe¬
bett ihrer längst verblichenen Mutter! Immer hatte sie eine
Ermahnung für Euch aus der Zunge oder einen Wink für
Euch im Auge, oder eine Freude für Euch im Herzen, oder
eine Gabe für Euch in der Hand. — Ihre zwei Hände,
lvas für eine unabsehbare Reihe von Arbeiten brachten sie
in einem Jahre zu stände! Im Hause, im Stalle, auf dem
Felde, in der Kirche — war sie die unermüdliche Arbeiterin.
Wie glänzte das Kirchenpflaster, das ihre Hände fegten!
Wie fleißig spannen ihre Finger am Flachse für Euch, Ihr
Lieben, bis in die späten Nachtstunden — spannen noch in
ihrer letzten Lebenswoche, bis der Todesfinger sie berührte
und ihren Lebensfaden löste, daß er brach. Wie viel Ab¬
bruch in allem, was Aufwand fordert, konnte sie sich selber
thun, um Sparpfennige zu sammeln, damit Ihr, wenn ihr
Gebein schon vermodert sein würde, noch Mutterpfennige
von ihr hättet! Eurem guten Vater wußte sie sein Leben