190. Ein Brief Sailers an die Kinder seiner Schwester. 277
so zu versüßen, daß er, im 81. Jahre seines Lebens noch
rüstig, froh und munter, kein Leid kennt, als ohne „sein:
Marianne" zu sein.
Die Nachbarschaft war ihr ein Heiligtum. Sie löschte
keinen rauchenden Docht aus, zerbrach kein wundes Rohr,
schrie nicht auf der Gasse und ging so still durch das Leben,
wie sie aus der Welt ging.
Wie sie den Nachbarn eine gute Nachbarin war, was
mußte sie ihren zweien Brüdern sein? Wie viele Scenen
der Liebe treten mir aus meiner Jugendgeschichte unter
Thränen in das Auge! Als ich, noch ein Schulknabe in
München, den Stein der lateinischen Sprachlehre wälzte,
konnte sie — es war die siebente Woche, seitdem ich das
väterliche Haus verlassen hatte — ihr Pfingstfest nicht feiern,
ohne mich gesehen zu haben, ging allein zwölf Stunden
weit und brachte mir Vatergrüße und Mutterbrot und ihr
Schwesternherz mit. Im nächsten Herbste kam sie wieder
und brachte mich nachhause. Und diese ihre Liebe war
nicht nur goldtreu, sie war auch goldrein. Einmal, als sie
mich in Ingolstadt besuchte und ich ihr ein Zwölf-Kreuzer¬
stück (meinen ganzen Reichtum) aufdringen und sie es nicht
nehmen wollte, standen wir in diesem Streite eine halbe
Stunde auf der Donaubrücke, und ich mußte am Ende den
Prozeß verloren geben; sie nahm meine Gabe nicht an und
ging wieder leer nachhause. Wenn ich in der Folgezeit ihren
Kindern kleine Gaben senden konnte, war sie wochenlang
traurig darüber, weil sie (ohne Grund) fürchtete, ich möchte
mir wehe thun, um ihren Lieblingen wohlzuthun.
Jedem Wunsche, den sie, besonders in ihren kranken
Tagen, bei irgend einem Anlasse äußerte, hängte sie das
Schlußwort au: Wenn es Gottes Wille ist. Meine Therese
möchte ich noch gerne sehen, wenn es Gottes Wille ist!
Mit meinem Bruder in Landshut möchte ich noch gerne
reden, wenn es Gottes Wille ist! Das war kein Kompliment,