Full text: Für die Mittelstufe der Lehrerseminare (Band 3, [Schülerband])

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war schwer zu ertragen; selbst sein Sohn bebte vor dem Grolle des „Löwen“, 
wie er seinen Vater zu nennen pflegte. Die eiserne Willenskraft, die Otto schon in 
seiner Jugend verrieth, hat er bis an sein Ende bewahrt; treu blieb ihm das Stre— 
ben nach großen, würdigen Thaten und erfüllte noch am Abende seines Lebens die 
Seele mit Jugendkraft. Und auch die anderen, edlen Gaben, die man am Jüngling 
pries felsenfeste Treue gegen Freunde, Großmuth gegen gedemütigte Feinde, blieben 
ein Schmuck seines Alters. Niemals gedachte er wieder eines Vergehens, wenn er 
es einmal verziehen hatte. Von seiner königlichen und kaiserlichen Würde hatte er 
die höchste Vorstellung. Die Krone, die er einzig und allein Gottes besonderer 
Gnade zu danken meinte, setzte er nie auf das Haupt, ohne vorher gefastet zu haben. 
Wer sich gegen seine Majestät erhob, in dem sah er einen Frevler an Gottes Ge— 
bot. Er ist der einzige deutsche Kaiser, dem Mitwelt und Nachwelt den Namen des 
Großen nicht verweigert haben. 
40. Heinrich IV. 
Von W. von Giesebrecht. 
Geschichte der deutschen Kaiserzeit. Braunschweig 1862. Bd. IIl, S. 739. 
Tausendfach hat die Geschichte den Namen Heinrichs IV. genannt und wird 
immer von neuem von seiner unglücklichen Regierung berichten. Selten war einem 
gekrönten Haupte ein halbes Jahrhundert zum Regimente beschieden, nie wohl ist 
ein so langes Regiment in gleicher Weise eine ununterbrochene Kette von Gefahren, 
Kämpfen und Leiden gewesen; die Kraft des Erzählers ermüdet, wenn er dieses end— 
lose Anringen eines Sterblichen gegen unüberwindliche Mächte darzustellen hat. Die 
Aufgabe der Geschichte ist nicht, Heinrichs Vertheidigung zu führen, noch weniger 
den Bann abermals in die Gruft von Speier zu schleudern; sie hat nur einem 
Manne, der tief in die Geschicke des Abendlandes eingriff, nach seinen Absichten 
und seinen Thaten gerecht zu werden. 
Nicht gewöhnliche Gaben vereinigten sich in diesem Kaiser. Die Natur hatte 
ihm eine hohe Gestalt, schöne Gesichtszüge, ein flammendes Auge verliehen. Leicht 
gewann er durch ungesuchte Freundlichkeit die Gunst der Masse, mit Schrecken erfüllte 
die Hoheit seiner Erscheinung selbst mächtige und trotzige Widersacher. Vielen konnte 
er vieles sein. Nichts entging seinem scharfen Blicke und seinem lebhaften Geiste; 
mit bewunderungswürdiger Sicherheit traf er bei schwierigen Rechtsfällen den ent— 
scheidenden Punkt. Das Leben ließ ihm wenig Zeit, die stillen Künste des Friedens 
zu üben, doch umgab er sich gern mit Klerikern von ausgezeichneten Geistesgaben 
und erfreute sich an ihren wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen. Er war 
mitleidig und freigebig, besonders gegen die Geistlichkeit und die Armen; vor allem 
zu Speier wußte man davon noch lange zu erzählen. So mistrauisch fein Gemüth 
war, verzieh er doch leicht, zu leicht seinen Widersachern, wenn sie seine Gnade an— 
riefen; selbst Meuchelmörder, die gegen ihn gedungen waren, ließ er straflos von 
dannen ziehen. Eine durch und durch hochstrebende Natur, hätie er in anderen 
Zeiten ein Hort für die Nation sein können. 
Heinrichs durchdringenden Verstand, seine rastlose Thätigkeit haben selbst seine 
erbittertsten Feinde anerkannt; sie wußten am besten, wie schwer ihm ein nachhaltiger 
Erfolg abzuringen war. So lange er ein Heer hinter sich hatte, überließ er gern 
seine Sache der Waffenentscheidung. Nie isi er selbst vom Kampfe zurückgeblieben; 
meist sah man ihn mitten im Schlachtgetümmel. Im Siege war er dem Feinde 
furchtbar; aus der Niederlage raffte er sich schnell empor. Nicht selten faßte er im 
Misgeschicke übereilte Entschlüsse und gab verloren, was noch zu retten schien; niemals 
aber ließ er sein letztes Ziel aus dem Auge, niemals ruhte er, einen anderen Weg 
zu demselben zu finden, wenn ihm der eine versperrt war. 
Kehr u. Kriebitzsch, Deutsches Lesebuch. III. 2. Aufl. 
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