Full text: Vaterland und Weite Welt (C. Oberstufe)

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In den engen, gewundenen Straßen standen die von Fachwerk erbauten 
und mit Stroh gedeckten, kleinen Häuser, mit dem Giebel nach der 
Straße gekehrt, häufig mit einer quergeteilten Hausthür versehen, so daß 
der Besitzer sich über die untere Hälfte hinauslehnen konnte; über der Thür 
hing an einem Schilde das gemalte Zeichen des Hauses, nach welchem der 
Besitzer oft genannt ward. Die Häuser stiegen nicht senkrecht in die Höhe, 
sondern der Oberstock sprang über den unteren vor und der zweite wieder 
über den ersten, so daß das oben hereinfallende Licht oft sehr beeinträchtigt 
ward. Die Straßenwand der vorspringenden oberen Stockwerke ward auch 
wohl durch Pfeiler gestützt, so daß zwischen diesen und dem eingerückten 
Erdgeschoß ein bedeckter Gang, eine sogenannte Laube, sich befand. 
Mit dem wachsenden Wohlstände aber und mit der schnellen Entwicklung 
aller Künste, die mit dem Handwerke in unmittelbarer Verbindung standen, 
gewann auch das Wohnhaus an Ausdehnung und Behaglichkeit. In der 
Reihenfolge der Geschlechter ward es ein anderes und blieb doch dasselbe; 
denn der Enkel baute mit sorgsamer Schonung das nur aus, was der 
Großvater gegründet hatte. So ward das Haus im tiefsten Sinne Eigen¬ 
tum der Familie, d. h. der fortblühenden Reihe von Geschlechtern, und so 
bekam es jenes eigentümliche Gepräge, das zu dem Einerlei unserer numerierten 
Wohnhäuser im merkwürdigsten Gegensatze steht. Noch zeigt uns Nürn¬ 
berg eine Menge solcher mittelalterlichen Häuser. Sie sind auf das Zu¬ 
sammenleben der Familie berechnet. Daher haben sie in der Regel einen 
großen, geräumigen Flur für Warenlager rc., breite Treppen, große Gänge 
und am Hof herumlaufende Galerien als Tummelplätze für die Jugend, 
große Familienzimmer. Die an den Decken hervortretenden Balken geben 
passende Gelegenheit zu Zieraten. Einen außerordentlichen Reiz aber besitzt 
das Haus in den vortretenden Erkern und Ecktürmchen, die, nach dem 
Familienzimmer offen, als gemütliche Arbeits- und Plauderwinkel dienen, 
nach außen aber durch ihre zierliche Gestalt, ihre Spitzdächer und Gesimse 
zur heiteren Belebung der Straßen beitragen. Hier ist denn auch außen 
die reichste Steinmetzarbeit angebracht, innen Tafelwerk und Holz¬ 
schnitzerei, bemalt und vergoldet und mit bedeutsamen Versen und 
Sprüchen geziert, und solch ein Erker erscheint dann am Hause, wie der 
Chor in der Kirche, als das schmuckreichste Heiligtum. 
Am frühesten aber entwickelte sich die Pracht der Baukunst an den 
öffentlichen Gebäuden. Denn zwischen Hütten und Strohdächern erhoben 
sich kunstvolle, riesige Bauten, die Gemeindezwecken dienten, Rathäuser und 
Kirchen. Je mehr sich der Wohlstand und das Behagen der Städte im 
vierzehnten Jahrhunderte steigerte, desto mehr wetteiferten sie, mit Stolz 
zu zeigen, was Geld und Arbeit vermögen. Es bildeten sich enggeschlossene 
Verbindungen der Baugewerkleute, namentlich der Maurer und der Steinmetzen, 
die sogenannten Bauhütten, die allmählich zu förmlichen Schulen der 
Baukunst wurden. Ihre Lehre war eine geheime, außer den Mitgliedern 
durste niemand die Hütte betreten. Aber aus dem unglaublichen Wetteifer 
und dem uneigennützigen Zusammenwirken der verschiedenen Baugewerke 
ging die Vollendung der gotischen Baukunst hervor. Jede größere Stadt
	        
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