Full text: Lesebuch für städtische und gewerbliche Fortbildungsschulen

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Nettelbeck. Er umklammerte Gneisenaus Knie und rief: „Ich bitte 
Sie um Gotteswillen! verlassen Sie uns nicht; wir wollen Sie auch 
nicht verlassen, so lange wir noch einen warmen Blutstropfen in 
uns haben, sollten auch alle unsere Häuser zu Schutthaufen werden." 
Die Verteidigung wurde nunmehr mit voller Kraft betrieben. Je¬ 
doch auch Gneisenau konnte einer vierfachen Übermacht nicht stand¬ 
halten. Ein Außenwerk nach dem andern ging unter verzweifelten 
Kämpfen verloren. 
Nettelbeck war unermüdlich tätig. Nach einem mißglückten 
Ausfall brachte er die Verwundeten unter großer Gefahr in Sicher¬ 
heit. Aber auch die Toten gönnte er dem Feinde nicht. Am anderen 
Morgen schritt er, ein an einen Stock gebundenes Weißes Tuch 
schwingend, mutig auf die französischen Vorposten los und erlangte 
die Herausgabe der Toten. Gab es Tote zu beerdigen, um die sich 
in der allgemeinen Trübsal nicht gleich jemand kümmerte, so trug 
Nettelbeck Sorge, daß sie die letzte Nutze in der Erde fanden. Als es 
an Geld zu mangeln begann, führte man auf Nettelbecks Vorschlag 
eine Art Papiergeld ein. Häufig steckten die einschlagenden feind¬ 
lichen Geschosse Häuser in Brand. Nettelbeck forschte oft von Haus 
zu Haus, ob die Feuereimer und Wasservorräte vorschriftsmäßig 
zur Hand waren. Durch seine Klugheit, Gewandtheit und Uner¬ 
schrockenheit erlangte er von den Feinden, zu denen er wiederholt als 
Parlamentär geschickt wurde, mancherlei Vergünstigungen für die 
bedrängte Stadt. Die Erhaltung des größeren Teils des wertvollen 
Rathauses, das während der Nacht in Brand geschossen worden 
war, war allein der Umsicht und Ausdauer Nettelbecks zu danken. 
Am 2. Juli stieg die Not aufs höchste. Die Stadt brannte an 
fünf Stellen. Immer näher rückte der Feind und rüstete sich zum 
Sturm. Gneisenau und Nettelbeck waren zum letzten Kampfe bereit. 
Plötzlich verstummten die feindlichen Geschütze. Der Waffenstill¬ 
stand von Tilsit rettete die Stadt, und Kolberg blieb dem König er¬ 
halten. 
. Nettelbeck erhielt das goldene Verdienstkreuz und ein herzliches, 
königliches Kabinettschreiben. Der Krieg hatte ihm alles geraubt; 
sein Haus war zerstört, sein Garten verwüstet, sein Vermögen hatte 
er dem Vaterland freiwillig geopfert. Er war ein armer Mann 
geworden. Voll Ergebung sagte er aber mit Hiob: „Der Herr hat's 
gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt!" 
Zu darben brauchte er jedoch nicht; denn der König bewilligte ihm 
ein Gnadengehalt von 600 Mark als Entschädigung für die gehabten 
Verluste. 
Auf die Jahre des Kampfes und der Trübsal folgten Jahre der 
Ruhe und Freude. Nettelbeck sah sein Volk sich erheben und Gottes 
Strafgericht aus den unersättlichen Eroberer hereinbrechen. Von 
der Mitwelt hoch geehrt, starb er, 86 Jahre alt. Bei der Nachwelt 
gilt er als ein herrliches Vorbild echter Bürgertugend. 
Nach Richard Roth.
	        
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