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zeugen wollen, was an einem Gegenstände wesentlich oder zufällig ist, so muffen
wir mehrere derselben Art vergleichen, das Gemeinsame, Wesentliche zusammen-
faffen und das Besondere, Außerwesentliche fahren lassen, mit anderen Worten:
wir müssen denken. Je reicher ein Mensch an Anschauungen und Vor¬
stellungen ist, desto mehr Stoff hat sein Verstand zu bearbeiten und zu durch¬
denken, und je mehr sich ein Mensch im Denken übt, desto gebildeter wird sein
Verstand. Auch durch guten Unterricht, durch Umgang mit verständigen Menschen
und durch aufmerksames Lesen guter Bücher wird der Verstand gebildet. Die
Geschäfte des Kaufmannes, des Landmannes, des Handwerkers erfordern viel
Verstand, wenn sie mit Vortheil und Lust sollen betrieben werden. Durch unsern
Verstand ordnen wir unsere Kenntnisse, bilden Arten, Ordnungen und
Klassen, stellen Berechnungen und Messungen an, denken uns Verhält¬
nisse, sehen wir die Ursachen und Wirkungen der Dinge ein und fällen
Urtheile. —
Der Verstand heißt, in so fern er urtheilt, Urtheilsvermögen oder
Urthetlskraft. Vermag er die feinen Verschiedenheiten ähnlicher Dinge leicht
und schnell zu entdecken, so erhält er den Namen Scharfsinn; hat er die durch
Übung erhöhte Eigenschaft, die Begriffe bis auf ihren Ursprung zurückzuführen,
so heißt er Tieffinn; und wenn er die nicht leicht zu bemerkenden Ähnlichkeiten
verschiedener Dinge schnell auffindet, so wird er Witz genannt.
5. Unsere Seele hat aber auch das Vermögen, Gedanken hervorzubringen
und aufzunehmen, welche nicht zur Sinnenwelt gehören. Was recht und
unrecht, würdig und unwürdig, gut und böse, heilig und unheilig
rst, kurz, die Religion und alle ihre Wahrheiten und Forderungen gehören
nicht zur sinnlichen, sondern zur übersinnlichen Welt. Das Vermögen
der Seele, das Übersinnliche zu vernehmen, nennt man Vernunft. —
Vermöge seiner Vernunft ist der Mensck fähig, sich über die Körperwelt zu
einer höherN, unsichtbaren, geistigen Welt, zu Gott zu erheben und ihn als
die erste und einzige Ürsache aller erschaffenen Dinge zu erkennen. — Ver¬
stand und Vernunft nennt man auch das Denkvermögen, und zwar den Ver¬
stand das niedere, die Vernunft das höhere Denkvermögen. Das Anschau-
ungs- und Vorstellungsvermögen, das Gedächtniß, der Verstand
und die Vernunft bilden zusammen das Erkenntnißvermögen des Menschen.
6. Unsere Seele hat aber nicht bloß Kräfte zum Erkennen, sondern wir
werden auch in uns Bestrebungen oder Antriebe zum Handeln gewahr,
welche ihren Ursprung in unseren Gefühlen haben; die Bestrebungen der Men¬
schen sind aber verschiedener Art. Vermöge ihrer sinnlichen Natur streben sie
nach dem Angenehmen; sinnliches Wohlsein ist für den Sinnlichen oder
Fleischlichen das Ziel aller seiner Bestrebungen und Handlungen. Die Sinn¬
lichkeit aber hat der Mensch mit den Thieren gemein. Der Mensch ist fähig,
auch das geistig Angenehme zu empfinden, ein Wohlgefallen zu finden am
Wahren und Schönen, an Regelmäßigkeit und Ordnung, an dem,
was groß, erhaben und gut ist, dagegen ein Mißfallen an Allem, was ord¬
nungslos und unregelmäßig, unedel und geschmacklos, irrig und
unwahr, niedrig, häßlich und böse ist, und dieses bildet seine Sitt¬
lichkeit. Ruhm, Vortheil, Reichthum, Geiz, Neid, Haß, Rache,
Furcht, desgleichen Mitleid, Wohlwollen, Liebe, Treue, Dank¬
barkeit, Frömmigkeit u. s. w. sind Triebfedern, welche den Menschen
zum Handeln bestimmen können.
7. Es ist aber nicht einerlei, was uns zum Handeln antreibt, und was für
Handlungen wir ausüben. Gott pflanzte in unser Inneres das Gewissen, wel¬
ches uns zuruft, unsere Handlungen nach dem zu bestimmen, was wir als gut
und recht erkannt haben. Es treibt uns an, immerfort an unserer sittlichen
Vervollkommnung zu arbeiten, unsern Willen immer mehr zu heiligen und
uns des Wohlgefallens Gottes stets würdiger zu machen. Die Stimme
des Gewissens fordert uns auf, für das Glück unserer Nebenmenfchen zu
sorgen, gegen sie so zu handeln, wie wir wünschen, daß sie gegen-