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für diesen Zweig der Arbeiterfürsorge in Deutschland täglich rund 1 Million
Mark aufgewendet. Eine gleich umfassende und reichliche Fürsorge für die
Arbeiter findet sich in keinem andern Staate; erst in den letzten Jahren
haben einzelne Negierungen angefangen die deutschen socialpolitischen Gesetze
teilweise nachzuahmen.
So liefert unsere Arbeiter-Gesetzgebung einen neuen glänzenden Beweis,
daß die Herrscher aus dem Hohenzollernhause nicht nur ein scharfes Schwert
gegen die Feinde ihres Landes führen, sondern auch in stiller, nachhaltiger
Friedensarbeit bemüht sind, Glück und Zufriedenheit in ihrem Volke zu ver¬
tu eiten. Hermann.
*263. Eine mittelalterliche Gerichtsverhandlung.
„Zwei Schwerter liess Gott auf Erden, zu beschirmen die Christenheit.
Dem Papste ist gesetzt das geistliche, dem Kaiser das weltliche.“ So beginnt
der Sachsenspiegel, das älteste deutsche Rechtsbuch, das von dem anhaitischen
Ritter von Repkow zu Anfang des 13. Jahrhunderts niedergeschrieben worden
war und in einigen deutschen Gauen jahrhundertelang in Geltung blieb.
Die Stadt Lüneburg besass von diesem Buche eine kostbare Pergament-Hand¬
schrift mit schweren Silberbeschlägen. Die grosse Schrift zeigte die Vollendung
der mittelalterlichen Schreibkunst. Der köstlichste Schmuck des Buches aber
waren die prächtigen Malereien auf allen Blättern, von denen keines dem
andern gleich war: ranken- und blumenreiche Randverzierungen mit Tierge¬
stalten, golddurchwobene Anfangsbuchstaben mit ihrem bunten Zierat, der
halbe Seiten bedeckte, Darstellungen aus Geschichte und Legende, die ganze
Seiten einnahmen.
Dieses Buch lag aufgeschlagen in der Gerichtslaube des Rathauses zu
Lüneburg auf einem Tische, hinter dem auf hohem Stuhle der Schultheifs
Herr von Elebek sass, um mit dem weltlichen Schwerte des Kaisers Gericht
zu halten nach altem Sachsenrecht. Es war aufgeschlagen beim 14. Kapitel
des zweiten Buches, wo geschrieben steht: „Alle Mörder und alle, die den
Pflug, Mühlen, Kirchen oder Kirchhöfe berauben, Verräter, Mordbrenner oder
die deren Auftrag vollziehen, die soll man alle radebrechen.“
Auf einer Bank zur Rechten des Schultheissen sassen die Schöffen, auf
der andern Seite die Ratsherren, sofern sie nicht als Zeugen berufen waren.
Auch Geschlechterherren und die Amtsmeister verschiedener Handwerke waren
zugegen, im ganzen weit über hundert Männer, die mit tiefernsten Gesichtern
dem Anfang des Gerichts entgegensahen. Die rechte Zeit, gerechtes Ding
(Gericht) zu hegen, war gekommen; denn es war hoch am Tag, und die all¬
sehende Sonne schien. Der Richter bedeckte das Haupt, zog mit der behand¬
schuhten Rechten sein Schwert aus der Scheide und legte es quer über den
offenen Sachsenspiegel; dann gebot er Frieden bei dem Halse und verbot
Dingflucht und Unlust. Auf seinen Wink führte der Fronbote, die von
reisigen Knechten bewachten Gefangenen und Angeklagten herein. Der
abgesetzte Bürgermeister Dalenborg und seine Spiessgesellen schritten bleich
und schlotternden Ganges einher (s. Nr. 109). Nach ihnen erschienen die
Amtsmeister, die unter Dalenborg im Rate gesessen hatten. Sie schienen
furchtlos und ruhig; denn sie waren sich keiner Schuld bewusst; nur hatten
sie sich von Dalenborg und seinen Genossen bei Seite schieben lassen, statt
thätigen Anteil am Regiment zu verlangen und durch Wachsamkeit und
Rechtschaffenheit Verrat, Betrug und Mord zu verhüten. Dennoch schämten