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[§ 35]
Beseitigung ungewöhnlicher Notstände. Da indes die Gesetze bei
weitem nicht alle Fälle des praktischen Lebens vermittelst Bestim¬
mungen genau ordnen können, so ist ihre Anwendung und Auslegung
von größter Wichtigkeit. Entweder erläßt der Gesetzgeber oder der
Landesherr Erläuterungen (Deklarationen), die als legale oder
authentische Interpretation bezeichnet werden, oder es muß zur
systematischen Interpretation gegriffen werden, indem der genaue
Wortsinn (grammatische und logische Interpretation), sowie die Ent¬
stehung und der Zweck des Gesetzes, wie dies besonders in den
„Motiven" bei Einbringung des Gesetzes seitens des Gesetzgebers
zum Ausdruck gebracht worden ist, berücksichtigt wird (historische
Interpretation). Ergibt sich eine Lücke im Gesetz, so muß gemäß
der Analogie verfahren werden, die jedoch beim Strafgesetz aus¬
geschlossen ist.ff Bon besonderer grundsätzlicher Bedeutung sind
hierbei die Reichsgerichtsentscheidungen (vgl. § 36a). Die Bekannt¬
schaft mit den Gesetzen und Verordnungen wird bei jedermann
vorausgesetzt, — Rechtsunkenntnis schützt nicht vor Strafe und Be¬
nachteiligung; doch ist in einzelnen Fällen unter bestimmten Um¬
ständen der sog. Rechtsirrtum zulässig. Da der Staat die Erhaltung
des Rechtszustandes übernommen hat, so ist eigenmächtige Selbst¬
hilfe unstatthaft. Doch bestehen drei Ausnahmen: die Notwehr, d. i.
gemäß des § 53 des Strafgesetzbuches und § 227 des Bürgerlichen
Gesetzbuches (B. G. B.) „diejenige Verteidigung, welche erforderlich
ist, um einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff von sich oder
einem andern abzuwenden", weiter die Selbstverteidigung, d. i. ge¬
mäß 228 des B. G. B. die Beschädigung oder Zerstörung einer
fremden Sache, „um eine durch sie drohende Gefahr von sich oder
einem andern abzuwenden, wenn die Beschädigung oder die Zer¬
störung zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist und der Schaden
nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht," endlich die Selbsthilfe,
d. i. gemäß H 229 des B.G. B. die Wegnahme, Zerstörung oder Be¬
schädigung einer Sache, oder die Festnahme eines der Flucht ver¬
dächtigen Verpflichteten, oder die Beseitigung des Widerstandes „des
Verpflichteten gegen eine Handlung, die dieser zu dulden verpflichtet
ist . . wenn obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist, und
ohne sofortiges Eingreifen die Gefahr besteht, daß die Verwirk¬
lichung des Anspruchs vereitelt oder wesentlich erschwert werde";
doch darf die Selbsthilfe „nicht weiter gehen als zur Abwendung
der Gefahr erforderlich ist" (§ 230 des B. G. B.). Die Rechtsfähig¬
keit beginnt mit Vollendung der Geburt, doch tritt Volljährigkeit,
d. i. unbeschränkte Geschäftsfähigkeit in Rechtsgeschäften, erst mit
ff Hier darf demnach nur eine Verurteilung erfolgen, wenn die Tat genau
im Gesetz definiert ist. Darum erwies sich ein besonderes Gesetz für Entziehung
elektrischer Arbeit als notwendig, da das Reichsstrafgesetzbuch (1870) keine Be¬
stimmung darüber enthält.
Clausnitzer, Staats- und Volkswirtschaftslehre.
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