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XIX. Allegorie und Vergleichung.
Mit lustigen Gefährten
Bei freiem, kühnem Spiel.
6. Und als es kam zu Jahren,
Ward es die schönste Frau,
Mit langen, goldnen Haaren,
Mit Augen dunkelblau;
In Gang, Gebärde züchtig,
In Reden treu und schlicht,
In aller Arbeit tüchtig,
Nur mit der Spindel nicht.
7. Viel stolze Ritter giengen
Der Holden Dienste nach,
Heinrich von Ofterdingen,
Wolfram von Eschenbach.
Sie giengen in Stahl und Eisen,
Goldharfen in der Hand.
Die Fürstin war zu preisen,
Die solche Diener fand.
8. Mit Degen und mit Speere
Waren sie stäts bereit,
Den Frauen gaben sie Ehre
Und sangen widerstreit 4).
Sie sangen von Gottesminne 2),
Von kühner Helden Muth,
Von lindem Liebessinne,
Von süßer Maienblut3 *).
9. Von alter Städte Mauern
Der Wiederhall erklang,
Die Bürger und die Bauern
Erhuben frischen Sang 4).
Der Senne hat gesungen,
Der über den Wolken wacht;
Ein Lied ist aufgeklungen
Tief aus des Bergmanns Schacht3).
10. In einer Mainacht blinkten
Die Sterne wunderschön,
Der Fürstin war, als winkten
Sie ihr zu Thurmes Höhn.
Sie stieg hinauf zum Dache,
Die Zarte, ganz allein:
Da fiel aus einem Gemache
Ein trüber Lampenschein.
11. Ein Weiblein, grau von Haaren,
Dort an dem Rocken spann,
Sie hatte wol nichts erfahren
Vom strengen Spindelbann.
Die Fürstin, die noch nimmer
Gesehen solche Kunst,
Sie trat in Weibleins Zimmer:
„Wer bist du, mit Vergunst^)?"
12. „Man nennt mich, schönes Liebchen,
Die Stubenpoesie:
Denn ans dem trauten Stübchen
Verirrt ich mich noch nie.
Ich sitz am lieben Platze
Beim Rocken wandellos;
Meine alte, blinde Katze
Die spinnt7 *) aus meinem Schoß.
13. Lange, lange Lehrgedichte
Die spinn ich recht mit Fleiß;
Flächsene Heldengedichte
Die haspl ich schnellerweis3).
Mein Kater maut Tragödie,
Mein Rad hat lyrischen Schwung,
Meine Spindel spielt Komödie
Mit Tanzbelustigung 9),"
14. Die Fürstin thät erbleichen,
Als man von Spindeln sprach;
Sie wollte flugs entweichen,
Die Spindel sprang ihr nach;
Und an der morschen Schwelle
Da fiel das Fräulein jach *0);
Offenbar zu eng und einseitig: der Dichter sagt, die Poesie wurde nicht in der dumpfen Kammer, in
der Studierstube, in der Schule rc-, sondern in der freien Natur erzogen. — 1) Ein altes Adv., mhd.
in widerstrit — in Widerstreit, um die Wette. — 2) „Die vier Hauptgegenstände der ältern deutschen
Dichtung waren Andacht lGottesminue), die alte (Helden-) Sage, Frauendienst (Frauenminne) und
Frühling." Gotzing er. Vgl. „Sängers Fluch" Str. 7. — 3) Mhd. der, die bluot — das Blühen
und die einzelne Blüte. In der Volkssprache ist die Blut ----- Blüte noch gebräuchlich; auch Lessing
sagt: Die kurze Dauer ihrer (der Lilie) Blut. 3, 440. — 4) „Von den Höfen und Burgen zog sich
die Poesie endlich auch in die Städte." Götzinger. Es ist der Meistergesang gemeint. —
5) Deutet auf die Volkslieder hin, deren Blütezeit ins 16. Jahrh, fällt, s. S. 70. — 6) Mit
Vergönntsein, Erlaubniß. — 7) Spinnen wird nach der Ähnlichkeit des Tones vom behaglichen
Schnurren der Katzen gesagt. — 8) Nach Schnellern zählt man in Schwaben die Fäden des ab¬
gehaspelten Garns, nach dem an der Spule angebrachten Schneller, welcher jedes 100 von Fäden
durch einen kleinen Krach anzeigt. Das Maß des Gebindes ist verschieden von 240 bis 1000. In
Norddeutschland hat man dafür Strähn, in Mitteldeutschland Strang. — 9) Es ist die auf den
Meistergesang und das Volkslied gefolgte „Gelehrtenpoesie" des 17. Jahrh, gemeint, die bis in 18.
hinein dauerte. — 10) Schnell, plötzlich, Nebenform von jähe.