Full text: Vierunddreißig Lebensbilder aus der deutschen Litteratur

18. Gotthold Ephraim Lessing. 
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„Hirsch," sagte der Stier, „wenn uns der Löwe anfallen sollte, so laß uns für 
einen Mann stehen;, wir wollen ihn tapfer abweisen." „Das mute mir nicht zu," 
erwiderte der Hirsch; „denn warum soll ich mich mit dem Löwen in ein ungleiches 
Gefecht einlassen, da ich ihm sicherer entlaufen kann?" 
4. Der Rabe und der Fuchs. 
Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte Gärtner für die 
Katzen seines Nachbars hingeworfen hatte, in seinen Klauen fort. 
Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich ein Fuchs herbei¬ 
schlich und ihm zurief: „Sei mir gesegnet, Vogel des Jupiter!" —- „Für wen siehst 
du mich an?" fragte der Rabe. „Für wen ich dich ansehe?" erwiderte der Fuchs. 
„Bist du nicht der rüstige Adler, der täglich von der Rechten des Zeus auf diese Eiche 
herabkommt, mich Armen zu speisen? Warum verstellst du dich? Sehe ich denn nicht 
in der siegreichen Klaue die erflehte Gabe, die mir dein Gott durch dich zu schicken 
noch fortfährt?" 
Der Rabe erstaunte und freute sich innig, für einen Adler gehalten zu werden. 
„Ich muß," dachte er, „den Fuchs aus diesem Irrtum nicht bringen." — Großmütig 
dumm ließ er ihm also seinen Raub herabfallen und flog stolz davon. 
Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf und fraß es mit boshafter Freude. Doch 
bald verkehrte sich die Freude in ein schmerzhaftes Gefühl; das Gift fing an zu 
wirken, und er starb. 
Möchtet ihr euch nie etwas Anderes als Gift erloben, verdammte Schmeichler! 
5. Der Löwe und der Hase. 
Eine Löwe würdigte einen drolligen Hasen seiner näheren Bekanntschaft. „Aber 
ist es denn wahr," fragte ihn einst der Hase, „daß euch Löwen ein elender krähender 
Hahn so leicht verjagen kann?" 
„Allerdings ist es wahr," antwortete der Löwe, „und es ist eine allgemeine An¬ 
merkung, daß wir großen Tiere durchgängig eine gewisse kleine Schwachheit an uns 
haben. So wirst du zum Exempel von dem Elefanten gehört haben, daß ihm das 
Grunzen eines Schweins Schauder und Entsetzen erweckt." 
„Wahrhaftig?" unterbrach ihn der Hase. „Ja, nun begreif' ich auch, warum 
wir Hasen uns so entsetzlich vor den Hunden fürchten." 
6. Der Affe und der Fuchs. 
„Nenne mir ein so geschicktes Tier, dem ich nicht nachahmen könnte!" so prahlte 
der Affe gegen den Fuchs. Der Fuchs aber erwiderte: „Und du, nenne mir ein so 
geringschätziges Tier, dem es einfallen könnte, dir nachzuahmen." 
Schriftsteller meiner Nation-muß ich mich noch deutlicher erklären? 
7. Das Rotz und der Stier. 
Auf einem feurigen Rosse floh stolz ein dreister Knabe daher. Da rief ein wilder 
Stier dem Rosse zu: „Schande! von einem Knaben ließ' ich mich nicht regieren!" 
„Aber ich," versetzte das Roß; „denn was für Ehre könnte es mir bringen, 
einen Knaben abzuwerfen?" 
8. Der Besitzer des Bogens. 
Ein Mann hatte einen trefflichen Bogen von Ebenholz, mit dem er sehr weit 
und sehr sicher schoß, und den er ungemein wert hielt. Einst aber, als er ihn auf¬ 
merksam betrachtete, sprach er: „Ein wenig plump bist du doch! Alle deine Zierde 
ist die Glätte! Schade! — Doch dem ist abzuhelfen!" fiel ihm ein. „Ich will hin¬ 
gehen und den besten Künstler Bilder in den Bogen schnitzen lassen." — Er ging 
hin; und der Künstler schnitzte eine ganze Jagd in den Bogen; und was hätte sich 
besser auf einen Bogen geschickt als eine Jagd? 
Der Mann war voller Freuden. „Du verdienst diese Zieraten, mein lieber 
Bogen." Indem will er ihn versuchen, er spannt, und der Bogen — zerbricht.
	        
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