Full text: Deutsches Lesebuch für die oberen Klassen höherer Schulen

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Novalis. (1772—1801.) 
Andacht. 
Fern von Eitelkeit und llnnerm Trug, 
Nahe dich mit Andacht jedem Buch, 
Wo des Herzens stille Wahrheitskraft 
Neu die Welt der Liebe sich erschafft. 
Betend, wie am Altar Gottes Licht, 
So vernimm das heilige Gedicht, 
Ehre ist des Mannes Herz; 
Demut führt uns himmelwärts; 
Strenge, die sich selbst bezwingt, 
Wo des Lebens schmerzlich schönes Spiel 
Dich zurück senkt in das ewige Gefühl. 
Nur der Sehnsucht fließt der Schönheit 
Quell, 
Nur der Demut scheint die Wahrheit hell. 
Treue. 
Schafft im Leben, was gelingt; 
Treu' umfaßt sie alle drei, 
Lieb und Frieden noch dabei. 
Deutscher Sinn. 
Froh mit Freunden rasch gelebt, 
Herz zu Herzen hingestrebt, 
Von des Frühlings Lust getränkt, 
Geistes Aug' in Geist versenkt, 
Ist des Deutschen Sitt' und Art, 
Die noch nie gewandelt ward. 
Was in Kunst und Wissenschaft 
Fremder Himmel Hohes schafft. 
Das Alte 
Dieser folgt des Neuen Schein, 
Jener lobt das Alt' allein; 
Irdisch wirrt sich mehr die Zeit 
Durch der Zeiten Widerstreit. 
5 Eines doch ist mir erkannt, 
Ewig jung mit Recht genannt, 
Alter Sehnsucht tiefes Lied, 
Was durch alle Herzen zieht; 
Neu stets grünt des Lebens Baum, 
io Himmels Füll' in lichtem Raum, 
Garten Gottes, der einst blüht, 
Wenn das Irdische versprüht, 
Ward von ihm alsbald erkannt, 
Wuchs so mächt'ger seiner Hand. 
Eines ihm Verderben bringt, 
Wenn ihn fremde Sitte zwingt; 
Eins empöret sein Gefühl, 
Fremder Rechte loses Spiel; 
Ewig bleiben die uns fern, 
Ehr' und Freiheit unser Stern! 
und das Neue. 
Immer neu wächst die Gewalt, 
Und quillt dennoch ewig alt. 
io Wen das Band der Lieb' umflicht, 
Wer als Kind zum Vater spricht, 
Aufgenommen in das Licht, 
Fragt nach Alt' und Neuem nicht. 
Fragt ihr aber nach der Zeit, 
20 Wo der Mensch also gedacht, 
Sich in Demut dargebracht, 
O wie liegt sie jetzt uns weit! 
Und sie war doch einst, die Zeit. 
32. Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, 
.geboren aus einem Gute in der Grafschaft Mansfeld den 2. Mai 1772, auf der Schule zu Eisleben, studiert zu Jena 
Philosophie, zu Leipzig und Wittenberg die Rechte, geht 1797 nach Freiberg auf die Bergakademie, 1799 nach Weißensels 
als Assessor, lebt viel mit beiden Schlegel und Ludwrg Tieck, stirbt dort den 2b. Marz 1801. 
Werke: Heinrich von Ofterdingen. Geistliche Lieder. Fragmente. 
Erlösung. 
1. Was wär' ich ohne dich gewesen? 
Was würd' ich ohne dich nicht sein? 
Zu Furcht und Ängsten auserlesen, 
Ständ' ich in weiter Welt allein. 
Nichts wüßt' ich sicher, was ich liebte, 
Die Zukunft wär' ein dunkler Schlund; 
Und wenn mein Herz sich tief betrübte, 
Wem thät' ich meine Sorge kund? 
2. Einsam verzehrtvonLieb' und Sehnen, 
Erschien mir nächtlich jeder Tag, 
Ich folgte nur mit heißen Thränen 
Dem wilden Lauf des Lebens nach. 
Ich fände Unruh' im Getümmel 
Und hoffnungslosen Gram zu Haus; 
Wer hielte ohne Freund im Himmel, 
Wer hielte da auf Erden aus?
	        
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