Friedrich Rückert. (1789—1866.)
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2. Er ist niemals gestorben,
Er lebt darin noch jetzt;
Er hat im Schloß verborgen
Zum Schlaf sich hingesetzt.
3. Er hat hinabgenommen
Des Reiches Herrlichkeit
Und wird einst wiederkommen
Mit ihr zu seiner Zeit.
4. Der Stuhl ist elfenbeinern.
Darauf der Kaiser sitzt,
Der Tisch ist marmelsteinern,
Worauf sein Haupt er stützt.
5. Sein Bart ist nicht von Flachse,
Er ist von Feuersglut,
Ist durch den Tisch gewachsen,
Worauf sein Kinn ausruht.
6. Er nickt, als wie im Traume,
Sein Aug' halb offen zwinkt.
Und je nach langem Raume
Er einem Knaben winkt.
7. Er spricht im Schlaf zum Knaben:
„Geh' hin vor's Schloß, o Zwerg,
Und sieh', ob noch die Raben
Herfliegen um den Berg.
8. Und wenn die alten Raben
Noch fliegen immerdar,
So muß ich auch noch schlafen
Verzaubert hundert Jahr."
Die hohle Weide.
1. Der Morgentau verstreut im Thale
Sein blitzendes Geschmeide;
Da richtet sich im ersten Strahle
Empor am Bach die Weide.
2. Im Nachttau ließ sie niederhangen
Ihr grünendes Gefieder,
Und hebt mit Hoffnung und Verlangen
Es nun im Frührot wieder.
3. Die Weide hat seit alten Tagen
So manchem Sturm getrutzet,
Ist immer wieder ausgeschlagen.
So oft man sie gestutzet.
4. Es hat sich in getrennte Glieder
Ihr hohler Stamm zerklüftet,
Und jedes Stämmchen hat sich wieder
Mit eigner Bork' umrüstet.
5. Sie weichen auseinander immer,
Und wer sie sieht, der schwöret,
Es haben diese Stämme nimmer
Zu Einem Stamm gehöret.
6. Doch wie die Lüfte drüber rauschen,
So neigen mit Geflüster
Die Zweig' einander zu und tauschen
Noch Grüße wie Geschwister.
7. Und wölben überm hohlen Kerne
Wohl gegen Sturmes Wüten
Ein Obdach, unter welchem gerne
Des Liedes Tauben brüten.
8. Soll ich, o Weide, dich beklagen,
Daß du den Kern vermissest,
Da jeden Frühling auszuschlagen
Du dennoch nie vergissest?
9. Du gleichest meinem Vaterlande,
Dem tief in sich gespaltenen,
Von einem tiefern Lebensbande
Zusammen doch gehaltenen.
Das rechte Maß.
Thu', was du kannst, und laß das andre dem, der's kann;
Zu jedem Werk gehört ein ganzer Mann.
Zwo Hälften machen zwar ein Ganzes, aber merk':
Aus halb und halb gethan entsteht kein ganzes Werk.
5 Wer halb und halb gesund, der mag nur krank sich nennen,
Und gar nicht kennen wir, was halb und halb wir kennen.
Wenn etwas Ganzes würd' aus noch so vielem Halben,
Ganz gut! Es wimmelt jetzt von Halben allenthalben.
In jeder Halbheit wohnt ein Trieb zur Übertreibung;
io Bei Übertreibung bleibt nicht aus die Unterbleibung.
Zuwenig und Zuviel ist beides ein Verdruß;
So fehl ist überm Ziel, wie unterm Ziel der Schuß.
Zuwenig und Zuviel ist gleichsehr unvollkommen;
Im Ernst ist und im Spiel das rechte Maß willkommen.
Das innere Auge.
Dein Auge kann die Welt trüb oder hell dir machen;
Wie du sie ansiehst, wird sie weinen oder lachen.