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gewaltiger an. Im „Wintermärchen" wird Leontes' Eifersucht durch 
Paulinas vernünftige Vorstellungen nur auf das Äußerste gesteigert, und 
selbst das Orakel des delphischen Gottes bringt ihn nicht zur Besinnung. 
Othello gleicht ihm. Mit dem Moment, da die Eifersucht von seiner 
Seele Besitz genommen hat, hört und sieht er nur noch das, was der 
Leidenschaft als Stütze dient. Jago könnte ihm eine noch plumpere 
Intrige vorgaukeln; dem, der sich belügen lassen will, genügt jedes Blend¬ 
werk. Capulet, kein liebloser Vater, droht bei dem leisesten Widerspruch 
sein Kind auf die Straße zu werfen, eine Drohung, die Lear wirklich 
ausführt, obgleich Cordelia, die ihm teuerste von seinen Töchtern, dem 
hitzigen Alten nur die gewünschte Antwort schuldig geblieben ist. Die 
Leidenschaft bei Shakespeare kann niemals durch Vernunftgründe, sondern 
nur durch einen noch stärkeren Affekt überwunden werden. Daher 
kommen die plötzlichen Gefühlsumschlüge, deren Raschheit und Heftigkeit 
uns oft rätselhaft erscheinen, weil wir den Menschen im Gegensatz zu 
der Auffassung des Dichters als ein nach Überlegung handelndes Wesen 
zu betrachten gewohnt sind. In den „Beiden Veronesern" sehen wir die 
überraschende Sinnesänderung Valentins; in „Heinrich VI." ist Warwick 
der wildeste Anhänger Jorks, doch eine Kränkung (Dritter Teil III, 3) 
genügt, um ihn zum fanatische Vorkämpfer der Lancaster zu machen; 
im „Wintermärchen" endlich bedarf es nur eines falsch ausgelegten Blickes 
oder Händedruckes der Hermione, und Leontes' langjährige, erprobte 
Freundschaft zu Polixcnes räumt der Eifersucht und dem tödlichsten Hasse 
das Feld. Ein neuerer Forscher, Wetz, vergleicht vortrefflich die Um¬ 
stimmung des Herzogs von Burgund durch die Jungfrau von Orleans 
bei Schiller und Shakespeare. Der deutsche Dichter wendet sich an die 
edelsten Gefühle wie Vaterlandsliebe, Sittlichkeit und Gerechtigkeit; bei 
dem Engländer kommt cs nur darauf an, die Leidenschaft des Herzogs, 
die bis dahin gegen die Franzosen gewütet hat, in eine andere Richtung 
zu leiten und gegen seine bisherigen Bundesgenossen aufzustacheln. 
Unter demselben Gesetz steht auch die Liebe. Racines Menschen 
legen sich jedesmal die Frage vor, ob das Ziel ihrer Neigung diese herr¬ 
lichen Gefühle auch verdiene, bei Shakespeare hängt die Liebe nicht von 
Gründen ab. Einen unwürdigeren Gegenstand als Cleopatra, Cresfida 
oder Bertram in „Ende gut, alles gut" kann es nicht geben, aber sie 
werden mit nicht geringerer Inbrunst als Julia oder Jmogen geliebt. 
Das Gefühl ist eine Naturkraft, und als solche kann es nicht anders, 
als bei der ersten Begegnung der beiden füreinander bestimmten Wesen 
hervorbrechen. Racines Liebe dagegen ist eine Tugend, die man sich unter 
Anlehnung an berühmte Vorbilder allmählich anerziehen kann, ein weise 
gemäßigtes Gefühl, wie cs mit dem Zusammenleben einer hochkultivierten 
Gesellschaft verträglich ist. 
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