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nordischen Märchen, als Punktierkunst, die alle Geheimnisse zu enthüllen ver¬
mag. Und in unsere soziale Verhältnisse versetzt, führt er wie Voltaires „iu-
Käuu" nach unseren Begriffen vollends die tollsten Stücke aus.
Anders der Mensch, welcher die moderne Kultur in sich ausgenommen hat.
Er sieht den Mond in seiner Bahn zeitweilig in den Erdschatten eintreten. Er
fühlt in Gedanken die Erwärmung des Wassers im Kessel der Lokomotive, er
fühlt zugleich die wachsende Spannung, welche den Kolben fortschiebt. Wo er
nicht unmittelbar folgen kann, greift er nach Maßstab und Logarithmentafel,
die seine Gedanken stützend entlasten, ohne sie zu beherrschen. Die Meinungen
der Menschen, welchen er nicht zustimmen kann, sind ihm doch bekannt, und er
weiß ihnen zu begegnen.
Worin besteht nun der Unterschied zwischen beiden Menschen? Der Ge¬
dankenlauf des ersteren entspricht nicht den Dingen, die er sieht. Er wird auf
Schritt und Tritt überrascht. Die Gedanken des zweiten folgen den Er¬
scheinungen und eilen ihnen voraus, sie sind dem größeren Beobachtungs- und
Wirkungskreis angepaßt, er denkt sich die Dinge, wie sie sind. Wie sollte auch
ein Wesen, dessen Sinne immer nach dem Feinde spähen müssen, dessen ganze
Aufmerksamkeit und Kraft durch das Beschaffen der Nahrung in Anspruch
genommen wird, den Blick in die Ferne richten können? Dies wird erst
möglich, wenn uns unsere Mitmenschen einen Teil der Sorge ums Dasein
abnehmen. Dann gewinnen wir die Freiheit der Beobachtung, und leider auch
oft jene Einseitigkeit, welche uns die Hilfe der Gesellschaft mißachten läßt.
Wenn wir in einem bestimmten Kreise von Tatsachen uns bewegen,
welche mit Gleichförmigkeit wiederkehren, so passen sich unsere Gedanken
alsbald der Umgebung so an, daß sie dieselbe unwillkürlich abbilden. Der
auf der Hand ruhende Stein fällt, losgelassen, nicht nur wirklich, sondern auch
in Gedanken zu Boden, das Eisen fliegt auch in der Vorstellung dem Magnete
zu, erwärmt sich auch in der Phantasie am Feuer.
Der Trieb zur Vervollständigung der halbbeobachteten Tatsache in Gedanken
entspringt, wie wir wohl fühlen, nicht der einzelnen Tatsache, er liegt, wie
wir ebenfalls wissen, auch nicht in unserem Willen, er scheint uns vielmehr
als eine fremde Macht, als ein Gesetz gegenüberzustehen, welches Gedanken
und Tatsachen treibt.
Daß wir mit Hilfe eines solchen Gesetzes prophezeien können, beweist
eigentlich nur die für eine derartige Gedankenanpassung hinreichende Gleich¬
förmigkeit unserer Umgebung. In dem Zwange, der die Gedanken treibt,
und in der Möglichkeit der Prophezeiung liegt ja durchaus noch nicht die Not¬
wendigkeit des Zutreffens. In der Tat müssen wir ja jedesmal das Eintreffen
einer Prophezeiung erst abwarten. Und Mängel derselben werden immer be-
merklich, nur sind sie klein in Gebieten von so großer Stabilität wie etwa der
Astronomie.
Wo unsere Gedanken den Tatsachen mit Leichtigkeit folgen, wo wir den
Verlauf einer Erscheinung voraus fühlen, ist es natürlich zu glauben, daß