§ 54. Die moderne Literatur. Konrad Ferdinand Meyer.
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Konrad Aerdinand Weyer (1825—1898).
Konrad Ferdinand Meyer wurde am 12. Oktober 1825 als
Sohn eines wohlhabenden Staatsbeamten zu Zürich geboren. In Lausanne
widmete er sich vorzugsweise der französischen Literatur und schwankte dann
lange Zeit, ob er sich der Rechtswissenschaft, der Malerei oder der Dichtung
widmen solle, bis ihn erst die Ereignisse von 1870 der deutschen Literatur
zuwandten. Seine Bedeutung zeigt sich daher erst im hohen Mannesalter.
Die Dichtung in Versen „Huttens letzte Tage" erschien 1871, der Roman
„Jörg Jenatsch, eine Bündnergeschichte", deren Schauplatz das Engadin
in Graubünden ist, 1874, seine historischen, farbenprächtigen Novellen
zwischen 1872 und 1891; wir nennen aus diesen als die vollendetsten
„Der Heilige" (die der Geschichte freilich nicht voll gerecht werdende Dar¬
stellung des Kanzlers Thomas Bellet), „Die Hochzeit des Mönchs", „Die
Versuchung des Pescara", romanartig gehalten, und „Die Richterin".
Sie zeigen durchweg einen großen Wurf, feine Charakterentwicklung und
Meisterschaft im Stil, der jedoch in seiner Kürze vom Leser volle Auf¬
merksamkeit verlangt. Seine lyrischen Gedichte und Balladen
zeigen ernste und strenge, oft herbe Weisen, aber durchweg reife Künstler¬
schaft. Sein Landsmann Gottfried Keller rühmt an ihnen „den un¬
gewohnt schönen und kernigen Ton". Der Dichter starb am 28. November
1898 auf seiner Besitzung Kilchberg bei Zürich.
1. Zn Harmesnachten.
Die Rechte streckt ich schmerzlich oft
In Harmesnächten
Und fühlt' gedrückt sie nnverhofft
Von einer Rechten. —
Was Gott ist, wird in Ewigkeit
Kein Mensch ergründen,
Doch will er treu sich allezeit
Mit uns verbünden.
2. Lenzfahrt.
Am Himmel wächst der Sonne Glut,
Aufquillt der See, das Eis zersprang,
Das erste Segel teilt die Flut,
Mir schwillt das Herz wie Segeldrang.
Zu wandern ist das Herz verdammt,
Das seinen Jugendtag versäumt.
Sobald die Lenzessonne flammt,
Sobald die Welle wieder schäumt.
Verscherzte Jugend ist ein Schmerz
Und einer ew'gen Sehnsucht Hort,
Nach seinem Lenze sucht das Herz
In einem fort, in einem fort!
Und ob die Locke dir ergraut
Und bald das Herz wird stille stehn,
Noch muß es, wann die Welle blaut.
Nach seinem Lenze wandern gehn.