Full text: Lehrbuch zur Kenntniß der verschiedenen Gattungen der Poesie und Prosa für das weibliche Geschlecht, besonders für höhere Töchterschulen

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gemalten Sperlinge lernt das Kind den draußen vor der Scheune gewiß nicht 
kennen. Die Natur gab dem Kinde die Freude am Sehen, Hören, Tasten, 
und dem Weibe die Freude am Nennen, und zehnmal Nennen, bis es nach¬ 
genannt wird. Stube, Haus, Hof, Garten, Feld, Thierwelt geben reichen 
Stoff, und ein stummes Weib ist gewiß entweder durch eigene Erziehung 
verderbt, oder durch's Schicksal verstimmt. Meine Frau hat keine Erziehungs¬ 
schriften gelesen. Ich hüte mich auch.wohl, ihr Theorien zu geben. Aber 
sie ist ein natürliches Weib, das ihre Kinder liebt, und jetzt mit ihnen spielt, 
wie sie vor einem Vierteljahrhundert mit ihren Puppen gespielt haben mag. 
Sie läßt die Natur walten, und meine Kinder befinden sich geistig und kör¬ 
perlich wohl dabei. Jetzt steht sie am Schranke. Sie nennt ihn, zeigt dem 
Kinde die Thüre, trommelt auch wohl daran, macht sie aus, wieder zu u. 
s. w. Sie nimmt sich aber wohl in Acht, lange dabei zu verweilen. Sie 
geht weiter. Sie kommt zum Ofen, zum Fenster, und macht's ebenso. Sie 
fragt: wo ist der Ofen? wo der Schrank? u. s. w. Und so wachsen ihre 
Unterhaltungen, wie das Kind wächst. Da verhält sich nun das Buch zu 
meiner Frau, wie der Batteux *) zum Homer, oder wie die Akustik **) zum 
Orpheus. Nennen, zeigen, nähern, entfernen, betasten lassen, theilen, zum 
Nachweisen und Nachsprechen auffordern, das lehrt die Natur jedes unver¬ 
dorbene Weib, und selbst die lebhafte Wärterin thut's, anfangs aus langer 
Weile, dann aus Gewohnheit, dann aus Liebe zur Sache und zum Kinde. 
Und wenn das geschieht, so ist für die Bildung des Anschauungsvermögens 
in dem Alter, in welchem jetzt Ihre Serena steht, genug gethan, versteht sich 
(was ich bei Ihnen voraussetze), wenn deutlich vorgesprochen, und deutliches 
Nachsprechen verlangt wird. Das lange Verweilen bei Einem Gegenstände, 
das Zergliedern desselben in seine kleinsten, dem Kinde noch kaum erreichba¬ 
ren Momente ist Unnatur, die sich entweder durch Widerwillen, oder durch 
Gedankenlosigkeit, Mechanismus rächt. 
Aber, werden Sie sagen, der Herr Professor der Moral sagt nicht ein 
Wort von der Begründung der Moralität, mit der doch beim dreijährigen 
Kinde der Anfang gewiß schon gemacht werden, oder vielmehr gemacht sein 
muß. Wohlan! so hören Sie auch hier meinen Rath. Verderben Sie nur 
die Natur nicht. Die Natur, vorausgesetzt, daß das Kind gesund ist, die 
Natur verdirbt das Kind gewiß nicht. Im Kinde finden Sie vier Dinge 
vor, die Sie ihm nur zu lassen, die Sie, wo sie sich äußern, nur zu be¬ 
nutzen haben: Gefühl der Abhängigkeit, Liebe, Nachahmungs¬ 
trieb,Thätigkeitstrieb. Dies sind die vier Pfeiler der Sittlichkeit. Die 
Erziehung braucht sie nicht anzusetzen; sie darf sie nur nicht untergraben. 
Das Kind ist nichts durch sich selbst, kann nichts durch sich selbst, erlangt 
nichts durch sich selbst. Kein Bewußtsein wird ihm früher klar, als das: ich 
stehe in fremder Hand. Ein herrschendes Kind ist Unnatur, und für die 
*) Batteur war ein gelehrter Franzose, der eine Theorie der schönen Wissen¬ 
schaften herausgab. 
**) Akustik, d. i. die Lehre vom Schall. 
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