Full text: Sieben Bücher deutscher Dichtungen

Sechstes Much. 
Das zweite klassische (goldene) Zeitalter. 
(1740—1830.) 
I. Älterer Zeitabschnitt. 
(1740 — 1800.) 
Die Tugend. 
Freund! die Tugend ist kein leerer Name, 
Aus dem Herzen keimt des Guten Same, 
Und ein Gott ist's, der der Berge Spitzen 
Rötet mit Blitzen. 
Laß den Freigeist mit dem Himmel 
scherzen, 
Falsche Lehre fließt aus bösem Herzen. 
Und Verachtung allzu strenger Pflichten 
Dient für Verrichten. 
Nicht der Hochmut, nicht die Eigen¬ 
liebe, 
Nein, vom Himmel eingepflanzte Triebe 
Lehren Tugend, und daß ihre Krone 
Selbst sie belohne. 
Jst'sVerstellung,dienns selbstbekämpfet, 
Die des Jähzorns Feuerströme dämpfet, 
Und der Liebe viel zu sanfte Flammen 
Zwingt zu verdammen? 
Ist es Dummheit oder List des Weisen, 
Der die Tugend rühmet in dem Eisen, 
Dessen Wangen, mitten in dem Sterben, 
Nie sich entfärben? 
Ist es Thorheit, die die Herzen bindet, 
Daß ein jeder sich im andern findet 
Und zum Lös'geld seinem wahren Freunde 
Stürzt in die Feinde? 
Füllt den Titus Ehrsucht mit Erbarmen ? 
Der das Unglück hebt mit milden Armen, 
Weint mit andern, und von fremden 
Würdigt zu bluten? (Ruten 
Selbst die Bosheit ungezäumter Jugend 
Kennt der Gottheit Bildnis in derTuaend, 
Haßt das Gute und muß wahre Weisen 
Heimlich doch preisen. 
Zwar die Laster blühen und vermehren, 
Geiz bringt Güter, Ehrsucht führt zu 
Ehren, 
Bosheit herrschet, Schmeichler betteln 
Tugenden schaden. (Gnaden, 
DochderHimmelhat noch seineKinder' 
Fromme leben, kennt man sie schon minder, 
Gold und Perlen find't man bei den 
Weise bei Thoren. (Mohren, 
Aus der Tugend fließt der wahreFriede, 
Wollust ekelt, Reichtum macht uns müde, 
Kronen drücken, Ehreblend't nicht immer, 
Tugend fehlt nimmer. 
Drum, o Dämon! geht's mir nicht nach 
Willen, 
So will ich mich ganz in mich verhüllen, 
Einen Weisen kleidet Leid wie Freude, 
Tugend ziert Beide. 
Zwar der Weise wühlt nicht sein 
Geschicke, 
Doch er wendet Elend selbst zum Glücke; 
Fällt der Himmel, er kann Weise decken, 
Aber nicht schrecken. von Haller. 
Der Morgen. 
(Das älteste der Hallerckchen Gedichte. Der Ver¬ 
fasser hatte das 17. Jahr noch nicht zurückgelegt.) 
Der Mond verbirgst sich, der Nebel 
grauer Schleier 
Deckt Luft und Erde nicht mehr zu; 
Der Sterne Glanz erblaßt, der Sonne 
reges Feuer 
Stört alle Wesen aus der Ruh'. 
Der Himmel färbet sich mit Purpur 
und Saphiren, 
Die frühe Morgenröte lacht: 
Und vor der Rosen Glanz, die ihre Stirne 
zieren. 
Entflieht das bleiche Heer der Nacht. 
Durchs rote Morgen - Thor der 
heitern Sternen-Bühne 
Naht das verklärte Licht der Welt; 
Die falben Wolken gliihn voll blitzendem 
Rubine, 
Und brennend Gold bedeckt das Feld. 
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