Full text: Sieben Bücher deutscher Dichtungen

I. Älterer Zeitabschnitt (1740 — 1800). 
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Dann zieht sich auch der Hirt in die beschneiten Hütte», 
Wo fetter Fichten Dampf die dürren Balken schwärzt. 
Hier zahlt die süße Ruh' die Müh', die er erlitten, 
Der sorgenlose Tag wird freudig durchgescherzt. 
Und wenn die Nachbarn sich zu seinem Herde sehen, 
So weiß ihr klug' Gespräch auch weise zu ergötzen. 
Der eine lehrt die Kunst, was uns die Wolken tragen, 
Im Spiegel der Natur vernünftig vorzusehn. 
Er kann der Winde Strich, den Lauf der Wetter sage», 
Und sieht in Heller Luft den Sturm von weitem wehn; 
Er kennt die Kraft des Mondes, die Wirkung seiner Farben, 
Er weiß, was im Gebirg ein früher Nebel will; 
Er zählt im Märzen schon der fernen Ernte Garben 
Und hält, wenn alles mäht, bei nahem Regen still; 
Er ist des Dorfes Rat, sein Ausspruch macht sie sicher, 
Und die Erfahrenheit dient ihm für tausend Bücher. 
Ein junger Schäfer stimmt indessen seine Leier, 
Dazu er ganz entzückt ein neues Liedchen singt. 
Natur und Liebe gießt in ihn ein heimlich' Feuer, 
Das in den Adern glimmt, das nie die Müh' erzwingt; 
Die Kunst hat keinen Teil an seinen Hirtenliedern, 
Im ungeschmückten Lied malt er den freien Sinn; 
Auch wenn er dichten soll, bleibt er bei seinen Widdern, 
Und seine Muse spricht wie seine Schäferin; 
Sein Lehrer ist sein Herz, sein Phöbus seine Schöne, 
Die Rührung macht den Vers und nicht gezählte Töne. 
Bald aber spricht ein Greis, von dessen grauen Haaren 
Sein angenehm' Gespräch ein höh'res Ansehn nimmt; 
Die Vorwelt sah ihn schon, die Last von achtzig Jahren 
Hat seinen Geist gestärkt und nur den Leib gekrümmt: 
Er ist ein Beispiel noch von unsern Helden-Ahnen, 
In deren Faust der Blitz und Gott im Herzen war; 
Er malt die Schlachten ab, zählt die ersiegten Fahnen, 
Bestürmt der Feinde Wall und rühmt die kühnste Schar. 
Die Jugend hört erstaunt und ivallt in oen Geberden 
Mit edler Ungeduld, noch löblicher zu werden. 
Ein andrer, dessen Haupt, mit gleichem Schnee bedecket, 
Ein lebendes Gesetz, des Volkes Richtschnur ist, 
Lehrt, wie die feige Welt in's Joch den Nacken strecket, 
Weil eitler Fürsten Pracht das Mark der Länder frißt; 
Wie Tell mit kühnem Akut das harte Joch zertreten, 
Das Joch, das heute noch Europa's Hälfte trägt; 
Wie um uns alles darbt und hungert in den Ketten 
Und Welschlands Paradies gebeugte Bettler hegt; 
Wie Eintracht, Treu' und Mut, mit unzertrennten Kräften 
An eine kleine Macht des Glückes Flügel heften. 
Bald aber schließt ein Kreis um einen muntern Alten, 
Der die Natur erforscht und ihre Schönheit kennt; 
Der Kräuter Wunderkraft und ändernde Gestalten 
Hat längst sein Witz durchsucht und jedes Moos benennt;
	        
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