Full text: [Teil 2 = 4. u. 5. Schulj] (Teil 2 = 4. u. 5. Schulj)

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er wohl halbe Manneshöhe hatte, schüttelte seine Flügel, als wollte er 
sie probieren, erhob sich etwas über die Erde und rief dann: „Du hast 
mich erlöst! Nimm zum Dank den Ring, der in dem andern Ei gewesen 
ist! Es ist ein Wunschring. Wenn du ihn am Finger umdrehst und 
dabei einen Wunsch aussprichst, wird er alsbald in Erfüllung gehen. 
Aber es ist nur ein einziger Wunsch im Ringe. Ist der getan, so hat 
der Ring alle weitere Kraft verloren und ist nur wie ein gewöhnlicher 
Ring. Darum überlege dir wohl, was du dir wünschst, auf daß es dich 
nicht nachher gereue!“ Darauf erhob sich der Adler hoch in die Luft, 
schwebte lange noch in großen Kreisen über dem Haupte des Bauern 
und schoß dann wie ein Pfeil nach Morgen. 
2. Der Bauer nahm den Ring, steckte ihn an den Finger und begab 
sich auf den Heimweg. Als es Abend war, langte er in einer Stadt an. 
Da stand ein Goldschmied im Laden und hatte viele köstliche Ringe feil. 
Der Bauer zeigte ihm seinen Ring und fragte ihn, was er wohl wert 
sei. „Einen Pappenstiel!“ versetzte der Goldschmied. Da lachte der 
Bauer laut auf und erzählte ihm, daß es ein Wunschring sei und mehr 
wert als alle Ringe zusammen, die jener feilhielte. Doch der Goldschmied 
war ein falscher, ränkevoller Mann. Er lud den Bauern ein, über Nacht 
bei ihm zu bleiben, und sagte: „Einen Mann wie dich mit solchem Kleinod 
zu beherbergen, bringt Glück; bleibe bei mir!“ Er bewirtete ihn »aufs 
schönste mit Wein und glatten Worten, und als er nachts schlief, zog 
er ihm unbemerkt den Ring vom Finger und steckte ihm statt dessen 
einen ganz gleichen, gewöhnlichen Ring an. 
3. Am nächsten Morgen konnte es der Goldschmied kaum erwarten, 
daß der Bauer aufbräche. Er weckte ihn schon in der frühsten Morgen¬ 
stunde und sprach: „Du hast noch einen weiten Weg vor dir. Es ist 
besser, wenn du dich früh aufmachst.“ 
Sobald der Bauer fort war, ging er eiligst in seine Stube, schloß 
die Läden, damit niemand etwas sähe, riegelte dann auch noch die Tür 
hinter sich zu, stellte sich mitten in die Stube, drehte den Ring um und 
rief: „Ich will gleich hunderttausend Taler haben!“ 
Kaum hatte er dies ausgesprochen, so fing es an, Taler zu regnen, 
harte, blanke Taler, als wenn es mit Mulden gösse, und die Taler schlu¬ 
gen ihm auf Kopf, Schultern und Arme. Er fing an, kläglich zu schreien, 
und wollte zur Tür springen; doch ehe er sie erreichen und aufriegeln 
konnte, stürzte er, am ganzen Leibe blutend, zu Boden. Aber das Taler¬ 
regnen nahm kein Ende, und die Diele brach von der Last zusammen,
	        
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