Full text: [[Teil 2], Oberstufe, Teil 1] ([Teil 2], Oberstufe, Teil 1)

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IV. Aus der weiten Welt. 
stämmiger Fichten und Eichen. Das war die Wohnung des fürchterlichsten 
unter den Riesen, wo er nachts mit allen seinen Ziegen und Schafen hauste; 
denn Herden zu weiden war seine einzige Beschäftigung. Er war ein Sohn 
Poseidons, und Polyphem war sein Name. Auf der Stirn hatte er wie alle 
Cyklopen ein einziges, aber entsetzliches Auge, und in seinen Armen lag eine 
Kraft, Felsen wegzuwälzen und Granitblöcke wie Kiesel durch die Lust zu 
schleudern. Einsam zog er auf den Bergen umher, und keiner der andern 
Cyklopen hatte Umgang mit ihm; denn er war roh und sann nur aus Ver¬ 
derben und boshaften Frevel. Ich Unglücklicher, das nicht vorher zu wissen! 
Ich ging mit zwölf der tapfersten Genossen auf die offene Höhle zu, die wir 
sogleich betraten. Wir fanden ihn nicht darinnen, denn noch war die Sonne 
nicht untergegangen, und er weidete in der Ferne noch seine Herden. Wunderbar 
erschien uns der Anblick der Ställe umher, die voll von Lämmerchen und 
jungen Ziegen waren, jede Gattung besonders eingesperrt. Da standen Körbe 
ulld Kübel mit Käse und Milch, auch Molken in großen Gefäßen und Eimer 
zum Melken. Meine Begleiter hatten große Lust, ein paar Körbe mit Käse 
aufzuladen, eine Partie Lämmer und Zicklein vor sich hinzutreiben und so auf 
dem Schiffe schnell wieder zu entfliehen, ehe der grause Höhlenkönig nach 
Hause käme. Aber das verbot ich, denn ich war allzu begierig, den Mann 
kennen 31t lernen, und hoffte, wohl im guten ein Gastgeschenk von ihm zu 
bekommen, wie es unter gastfreien Menschen Sitte ist. Aber wie hatte ich 
mich geirrt! 
Wir setzten uns nieder in der Höhle, zündeten ein Feuer an zum Opfer 
und aßen zum Zeitvertreib ein paar Käse, bis der Cyklop zurückkornmen würde. 
Erst am Abend erschien er mit seiner ganzen Herde vor dem Eingänge; wir 
traten erschrocken beiseite, und er sah uns nicht gleich. Auf seiner Schulter 
trug er eine gewaltige Last gespaltenen Holzes, das er sich mitgebracht hatte, 
um das Abendessen zu bereiten. Mit lautem Getöse stürzte er die ganze 
Ladung auf den Boden nieder. Da krachte der Felsen, und wir flohen aus 
Furcht in den innersten Winkel der Höhle. Dann trieb er die Ziegen und 
Schafe herein, und nun verrammelte er den Eingang mit einem Felsstück, das 
zweiundzwanzig vierrädrige Wagen nicht von der Stelle gezogen haben würden. 
Jetzt waren wir gefangen und in der Gewalt des Ungeheuers. 
Noch sahen wir ihm unbemerkt ein Weilchen zu, wie er sich gemächlich 
auf die Erde setzte und ein Tier nach dem andern heranzog, um es zu melken, 
wie er dann die Milch in die dichtgeflochtenen Körbe goß und rings herum¬ 
stellte und wie er zuletzt die Glut in der Asche aufschürte, um sich ein neues 
Feuer anzuzünden. Jetzt schlug die helle Flamme auf, und nun erblickte er 
uns, die wir noch immer zusammengedrängt in den Winkeln standen. Einen 
Augenblick starrte er auf uns, dann donnerte er uns mit einer fürchterlichen 
Stimme an: „Heda! Fremdlinge, sagt, wer seid ihr? Woher kommt ihr? He?" 
Die Kniee zitterten uns vor dem Gebrüll des Ungetüms. Aber dennoch faßte 
ich mich geschwind und antwortete dreist: „Griechen sind wir, die von -troja
	        
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