Full text: Realienbuch (Teil 2, [Schülerbd.])

46 41. Der Baumstamm. 
4- »Der rauhe Besen gefällt mir sehr; 
Doch Birke, was schenkst du mir noch mehr?“ 
„Ich schenke dir einen Peitschenstiel; 
Den schwingst du über den Rossen viel.“ 
5- »Der Peitschenstiel gefällt mir sehr; 
Doch Birke, was schenkst du mir noch mehr?“ 
„Ich schenke dir einen zähen Ast, 
Damit du den Reif zum Weinfass hast.“ 
6. „Der zähe Ast gefällt mir sehr; 
Doch Birke, was schenkst du mir noch mehr?“ 
„Ich schenke dir auch den Wein dazu; 
Lass träufeln mein Blut, so hast du Ruh!“ 
7- Der Birkensaft gefällt mir sehr; 
Doch Birke, was schenkst du mir noch mehr?“ 
„Nachdem ich alles gegeben dir, 
Bleibt nichts als das nackte Leben mir; 
Doch um nicht zu leben mir selbst zur Pein, 
So komme ich noch und heize dir ein.“ 
41. Der Baumstamm. 
Sehe ich auf meinem Wege einen gefällten Baumstamm 
liegen, so kann ich nicht vorübergehen, ohne den Toten zu be¬ 
trachten und fein Geschick zu erforschen. Ich zähle die Ringe 
auf der Durchschnittsfläche und weiß nun, wie alt er ge¬ 
worden, wie viele Jahre er gegrünt und geblüht hat. Ich sehe, 
daß einige der Jahres ringe dünner und schmäler ausgefallen 
sind, als die übrigen, z. B. der sechste und siebente: das sind 
Hungerjahre für den Verstorbenen gewesen, da hat er mit 
9t ah rungssorgen zu kämpfen gehabt. Dagegen finde ich 
den zwölften ungemein breit; in diesem Jahre ist es ihm wohl- 
ergaugen, da hat es an Sonnenschein und Regen nicht gefehlt. 
Ich bemerke ferner, daß der Kernpunkt, das Mark, nicht 
in der Mitte der Durchschnittsfläche liegt, daß auf der linken 
Seite des Stammes die Jahresringe enger zusammen stehen, 
als auf der rechten, und weiß nun, daß nach seiner rechten Seite 
die Nahrung ihm reichlicher zugeströmt ist, als nach der linken. 
Vielleicht hat der Tote, der jetzt am Wege liegt, einst am Saume 
eines Waldes gestanden; vom Walde, wo er mit vielen seiner 
Brüder die Nahrung zu teilen hatte, konnte ihm nicht so viel 
gespendet werden, als von der Waldwiese. Doch ich sehe an 
meinem Stamme, daß nur die erste Hälfte seines Lebens diese 
Erscheinung bietet, die z w e i t e H ä l f t e hat die Jahresringe rings 
herum gleichmäßig stark angesetzt. Wahrscheinlich sind seine 
Nachbarn früher gefallt worden, als er; ihn, als einen Spätling, 
hat man noch eine Zeit lang stehen lassen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.