Full text: Deutsche Prosa und Poesie (Teil 4, [Schülerbd.])

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Lächeln. „Vergelt's Gott!" flüsterte die Herrin und streifte einen Ring 
von ihrer Hand. „Da, nimm!" Er nahm ihn zwischen seine starken 
Finger und betrachtete den rotsunkelnden Stein. — — — — — — 
Vom Brunnen her kamen die Bauern und umringten Wagen und 
Reiter. „Ich hab's Euch versprochen," erklärte Ohlschmid, „und wir wollen's 
auch halten." „Aber alle Truhen," rief ein andrer, „alle Truhen dürst Ihr 
nit mitnehmen, einen Teil davon müssen wir schon ausmachen und müssen 
nachsehn, was drinnen ist." Viele Arme griffen nach der Ladung und rissen 
Truhe auf Truhe herab. Wortlos hielt die Gräfin auf ihrem weißen Pferde. 
Ein glückseliges Lächeln, nur ein glückseliges Lächeln hatte sie für die Worte 
der Bauern. Und in weite, weite Ferne blickten ihre großen, klaren Augen. 
„Halt!" befahl endlich der Führer. „Was jetzt übrig ist, gehöret Euch. 
Machet das Tor auf!" 
Langsam rollte der halbleere Wagen über die Zugbrücke, langsam 
folgten ihm die Berittnen. 
40. Gustav Frenssen. 
„Die Sandgräfin“. Berlin. G. Grote. 1902. 
1. Me der deutsche Küstenbewohner die Nordsee besiegte. 
1. Über der Landschaft und über der Nordsee flimmert heller Sonnen¬ 
schein. Die See geht in langgezognen, weichen Wellen, man hört sie in 
der Ferne rauschen. Ein warmer, weicher Südwest, wie er an dieser Küste 
so häufig ist, legt sich sanft auf die Wellen, springt mit leichtem Sprung 
über den niedrigen Deich, schlägt zierliche Bogen in die großen Weizen¬ 
felder der Marsch und steigt dann leise, mühsam atmend, die Düne hinauf, 
deren Heide er kaum zu rühren vermag. 
Man sieht von den langgestreckten, hohen Dünenrücken in die Marsch 
hinunter, in jenes Vorland, über welches einst die wilden Meereswellen 
rollten, gelben Dünensand ans Ufer warfen und zu Bergen türmten. Das 
ist schon lange her ... 
Es kam eine andre Zeit. Der Meeresboden hob sich, oder die Was¬ 
ser des Meeres traten zurück, und die Menschen stiegen mit ihren Schafen 
und Rindern von den Dünen hinunter auf die neue Erde und weideten 
ihr Vieh . . . Aber es war ein unbehaglicher und rauher Aufenthalt. 
Sie wohnten in armseligen Hütten, die mit schweren, dicken Rasenstücken 
belegt waren, und die Springflut des Herbstes jagte sie wieder die Dünen 
hinauf auf das alte Land zur Mutter zurück, von der sie gekommen waren. 
Da fand nicht wenig Vieh und gar mancher Hüter in dem grauen Salz- 
wasser den bittern, harten Wellenlod; ihre Körper wurden gegen die
	        
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