Full text: Deutsches Lesebuch für höhere Lehranstalten

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und vertraute Bekanntschaft mit den Bergen, auf deren Abhänge, Gipfel 
und in deren innerste Winkelschluchten unmittelbar sein Geschäft führt, 
auch der Ackersmann muss ihr Vertrauter werden; denn nicht hat der, 
wie der Bauer der grossen Ebene, seine Felder in einem ununterbrochenen, 
ihm nahe und bequem gelegenen Ganzen beisammen, das er mit verhältnis¬ 
mässig leichter Mühe bebauen könnte; vielmehr ist im Alpenlande, ein¬ 
zelne gesegnete Striche abgerechnet, des fruchtbaren Erdreichs weniger, 
und dies wenige auf verschiedenen Stufen der Bodenerhebung weit zer¬ 
streut. Hier thut’s noth, jeden kleinen Fleck aufzusuchen und zu benu¬ 
tzen; fortwährend drängt diese Rücksicht und das ganze Verhältnis seiner 
Wirthschaft in alle Regionen und Zonen des Gebirges seine Thätigkeit: 
in die obersten, in denen sein Vieh weidet, in die mittleren, in denen 
er sein Holz findet, in die unteren, wo mancher kleine Streifen Feldes 
oder der kleine Weinberg zu bestellen ist, bis in die Thalsohle hinab, 
wo oft sein vornehmster Acker liegt. 
Und kann der Bewohner der Flecken und Städte, der Gebildete, der 
Handelsmann das Gebirge missen? Der Arzt muss seine Hülfe, der Prie¬ 
ster den Trost der Religion hinaufbringen in entlegene Hütten hinter Was¬ 
serstürzen und Gletschern, und der Verkehrsmann, sei es der Spitzen- 
und Schnittwaarenhändler aus Vorarlberg und dem Lechthale, der Hand¬ 
schuh- und Teppichverkäufer aus dem Ziller- und Defereggerthale, der 
Stubaier mit Eisenbarren, der Groedner mit Schnitzwaaren, der Viehhänd¬ 
ler aus Passeier oder der Wein- und Fruchthändler aus den gesegneten 
Etschgauen — sie alle ziehen über die Alpenpässe, aus einem Thale ins 
andere, vorüber an den gehörnten und gletscherbepanzerten Bergriesen, 
die in vielfachem Wechsel von Kleid und Miene sich ihrem Blicke dar¬ 
stellen: bald in der blendenden Hülle des Winters, bald im lachenden, 
bunten Frühlingskleide, bald von stürmenden Wolken umsaust, bald wie¬ 
der von Regenstrichen gepeitscht oder von Blitzen umzuckt, gestern von 
dicken Nebeln umzogen, heute vom Glanze der scheidenden Sonne ver¬ 
klärt. 
Mit dieser Natur von Jugend auf verwachsen, durch sie tagtäglich in 
Anspruch genommen, auf ihren Umgang fast allein hingewiesen, sollte 
nicht der Bewohner der Alpen vorzugsweise von lebendiger Liebe 
zur Heimat erfüllt werden? So ist es. Er bleibt damit erfüllt, auch wenn 
seine Gewandtheit in der Ferne Behaglichkeit und Glück des Lebens ihm 
erwirbt. Zurückgekehrt mit Reichthümern, wird er unmerklich von der 
Alpennatur dermassen wieder gefesselt, dass er sich, trotz jener, der ein¬ 
fachen alpinischen Lebensweise und den alten Gewohnheiten der Väter 
wieder zuwendet, fremde Bedürfnisse und fremde Weise alsbald ablegend. 
So sind in dieser Beziehung vorzugsweise zu erwähnen die Bewohner des 
durch Andreas Hofer zu europäischer Berühmtheit gelangten Thales 
Passeier im Centrum der Tyroleralpen. So weit sie auch als Händler hin 
und her wandern, es fliegt ihnen kein neues Bedürfniss an, und mit den 
einfältigsten Augen von der Welt ziehen sie an den Reichthümern dieser 
Erde vorüber. Sie bringen nicht einmal das Gefühl und Verständniss von 
Dingen, die nur einigermassen nach Bequemlichkeit des Lebens aussehen, 
aus der grossen Welt zurück. So sehr ist ihr sonst heiterer Sinn von der 
Härte des Lebens in ihrem strengen Thale gefesselt. 
Ich sagte vorhin: den alten Gewohnheiten wendet sich der Alpen¬ 
bewohner wieder zu. In der Abgeschlossenheit seines Thales, bei der Un¬ 
bekanntschaft mit der Aussenwelt, deren veränderliche und abweichende
	        
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