1.
Gesang der Geister über den Wassern.
Von Goethe.
Werke. Stuttgart und Tübingen 1810.
Ues Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muß es,
Ewig wechselnd.
Strömt von der hohen
Steilen Felswand
Der reine Strahl,
Dann stäubt er lieblich
In Wolkenwellen
Zum glatten Fels,
Und leicht empfangen,
Wallt er verschleiernd,
L eisrausch end,
Zur Diese nieder.
II, 15. — 1807, herauSg. v. Gocdeke. II, 2a.
Ragen Klippen
Dem Sturz entgegen,
Schäumt er unmuthig
Stufenweise
Zum Abgrund.
Im flachen Bette
Schleicht er das Wiescnthal hin,
Und in dem glatten See
Weiden ihr Antlitz
Alle Gestirne.
Wind ist der Welle
Lieblicher Buhler;
Wind mischt von Grund aus
Schäumende Wogen.
Seele des Menschen,
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!
2.
Die Sonne und das Auge.
Von Schubert.
Geschichte der Seele 2. Ausl. Stuttgart 1833. I, 1.
Mitten in dem Reiche des Seins stehet eine Sonne, welche
alles trägt und hält, alles belebt und bewegt; und es ist ein Auge,
selber von Sonnennatur, für jene Sonne gemacht. Die Sonne
ist Gott, das Auge ist die Seele.
Nicht der Schrecken, nicht die Furcht, wenn sie auf dem
Fittiche des Ungewitters oder im Donner der stürzenden und
flammenden Berge vorübergezogen, haben es dem Menschen gesagt,
daß ein Gott sei;' er hat dies nicht erst in der Sternenschrift der Werke
gelesen. — Innig tief, wie das Sehnen, das ans dem neugeborenen
Kinde nach der noch ungekannten Mutter schreit; laut, wie das
Rufen der jungen Raben nach dem noch nie genossenen Futter;
mächtig und still, wie der Drang, womit das eben aus dem Dun¬
keln geborene Auge oder die aus der Samenhülle gebrochene Pflanze
das noch niemals empfundene Licht suchen, — wird in meinem Wesen
ein Sehnen vernommen nach der lebendigen Quelle alles Seins,
aus welcher ich bin.
Eolehorn u. Goedcke'S Lesebuch III.
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