Full text: [Teil 2, [Schülerband]] (Teil 2, [Schülerband])

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war eine Flaschenscherbe, und weil es so glänzte, so redete die Stopf¬ 
nadel es an und stellte sich als Busennadel vor. 
„Sie sind wohl ein Diamant?“ 
„Ja, so etwas der Art!“ Und da glaubte eines vom anderen, 
es wäre etwas recht Kostbares. Und sie sprachen davon, wie doch 
die Welt so hochmütig sei. 
„Ich bin bei einer Mamsell in der Schachtel gewesen,“ sagte 
die Stopfnadel, „und diese Mamsell war Köchin; an jeder Hand 
hatte sie fünf Finger; etwas so Eingebildetes wie diese Finger habe 
ich nie gesehen, und sie waren doch nur da, um mich aus der Schachtel 
zu nehmen und wieder in die Schachtel zu legen!“ 
„Waren sie denn vornehm?“ fragte die Flaschenscherbe. 
„Vornehm?“ sagte die Stopfnadel; „nein, aber hochmütig! Es 
waren fünf Brüder, alles geborene ,Finger*. Sie hielten sich stolz 
nebeneinander, obgleich sie von verschiedener Länge waren: der 
äußerste, der Däumling, war kurz und dick, der ging außen vor 
dem Gliede, hatte auch nur ein Gelenk im Rücken und konnte nur 
eine Verbeugung machen; aber er sagte, wenn er vom Menschen 
abgehackt würde, so taugte der nicht mehr zum Kriegsdienste. 
Leckermaul, der zweite Finger, kam sowohl in Süßes wie in Saures, 
zeigte auf Sonne und Mond und gab den Druck, wenn sie schrieben. 
Langmann, der dritte, sah die anderen alle über die Achsel an. 
Goldrand, der vierte, ging mit einem goldenen Gürtel um den Leib, 
und der kleine Peter Spielmann tat gar nichts, und darauf war er 
stolz. Prahlerei war’s, und Prahlerei blieb’s, und darum ging ich fort!" 
„Und nun sitzen wir hier und glitzern!“ sagte die Flaschenscherbe. 
In demselben Augenblicke kam mehr Wasser in den Gossenstein, 
es strömte über seine Grenzen und riß die Flaschenscherbe mit sich fort. 
„So, nun wurde die befördert!“ sagte die Stopfnadel. „Ich 
bleibe sitzen, ich bin zu fein; aber das ist mein Stolz, und der ist 
achtbar!“ Und sie saß so stolz da und hatte viele große Gedanken. 
„Ich möchte fast glauben, ich wäre von einem Sonnenstrahle 
geboren, so fein bin ich! Kommt es mir doch auch vor, als ob die 
Sonnenstrahlen mich immer unter dem Wasser suchten. Ach, ich 
bin so fein, daß meine Mutter mich nicht finden kann. Hätte ich 
mein altes Auge, welches abbrach, ich glaube, ich könnte weinen; 
aber ich tät’s nicht; weinen, das ist nicht fein!" 
Eines Tages lagen ein paar Straßenjungen da und wühlten 
im Rinnsteine, wo sie alte Nägel, Pfennige und solche Sachen
	        
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