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Mitten in Berlin liegt der Bahnhof Friedrichstraße, eine
ungeheure Halle aus Eisen und Glas mit einer Reihe gleichlaufender
Geleise, zwischen denen sich Bahnsteige befinden. Wer Zeit hat, gehe
einmal dorthin, ganz einerlei zu welcher Stunde. Unaufhörlich stürmen
Leute aus und ein, die Treppen hinauf und hinunter, stellen sich an den
Schaltern auf, und Dienstmänner drängen sich mit Koffern und Reise—
taschen auf dem Rücken. Unausgesetzt erfüllt betäubendes Getöse die
mächtige Halle, wo Schnellzüge hin und her fahren. Kaum sind die
Reisenden aus- und eingestiegen, so werfen die Schaffner auch schon
die Türen wieder zu, und die schwere Wagenreihe stürmt aus der Halle
hinaus, um schnellstens dem nächsten Zug Platz zu machen. Wenn du
keine Eile hast, so bleibe einmal eine halbe Stunde auf einem der
Bahnsteige stehen und überzeuge dich, ob nicht alle zwei Minuten ein
Zug an dir vorübereilt, und zwar nicht nur am Tage, sondern auch
während des größeren Teils der Nacht. Was kann es Nervenerschüttern—
deres geben, als auf diesem Bahnhof verantwortlicher Vorsteher zu sein!
Jeder Zug, der in die Halle rollt, kommt ja wie ein Sturmwind vom
Meere herein.
Da gehe ich lieber nach dem nahen Platz, wo die Siegessäule sich
über Berlin erhebt mit drei Reihen vergoldeter, in Frankreich eroberter
Kanonen in den Rillen. Oder ich flüchte mich in die schattigen
Wege des Tiergartens, wo ganz Berlin am Sonntag mit Weib und
Kind zu lustwandeln pflegt. Und wenn ich mich dann nach Osten wende,
komme ich durch ein gewaltiges Tor, das Brandenburger Tor, dessen
Säulen das Viergespann der Siegesgöttin in getriebenem Kupfer tragen.
Durch dieses Tor zog das deutsche Heer in Berlin ein, als Frankreich
besiegt und das Deutsche Reich gegründet war.
Jenseit des Tores erstreckt sich eine der berühmtesten Straßen Eu—
ropas. Denn wenn Deutschland zur mächtigsten Großmacht unserer
Zeit heranwächst und Berlin sein Herz ist, so ist die Straße „Unter den
Linden“ wieder das Herz Berlins. Wohl gibt es längere Straßen als
diese, die nur ein Kilometer lang ist, aber kaum breitere, denn ihre
Breite beträgt sechzig Meter. Zwischen den Fahrdämmen und Bürger⸗—
steigen, die miteinander abwechseln, bringen vier doppelte Linden—
und Kastanienreihen einen wohltuenden Gruß der freien Natur mitten
in diese große Steinstadt mit ihren regelmäßigen Straßen und ihren
schweren, grauen, würfelförmigen Häusern.
Hier „Unter den Linden“ liegen die fremden Gesandtschaftsge—
bäude und die deutschen Ministerien, weiterhin das Schloß des alten