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II. Epische Dichtungen.
des Frühlings! Was für eigentümliche Dinge erzählt uns von ihm die
Naturgeschichte! Was Wunder daher, wenn noch weit Seltsameres die
Fabel und selbst der Aberglaube von ihm zu erzählen wissen!
Bekannt und den Kindern nicht weniger zur Lust als zur Lehre
dienend ist die Sage, welche sein scheues, unstätes Wesen daraus zu er¬
klären sucht, daß er kein gutes Gewissen hat und seiner jetzigen Gestalt
sich schämt*). Ehedem war nämlich ein sehr reicher Bäcker, welcher zur
Zeit der Teuerung den armen Leuten, für welche er Brot buk, etwas
von deut Teige stahl. Wenn dieser im Ofen ausgegangen wap, so riß
er davon ab, betrachtete sich wohlgefällig das gestohlene Gut und rief
freudig aus: Guck, guck, d. h. ei sieh ! Eines Tages wurde aber der Dieb
erwischt und zur Strafe seines Eigennutzes in einen Vogel verwandelt,
der mehlbestäubtes Gefieder hat und nun für immer auf seinen einförmigen
Ruf angewiesen bleibt. Dies ist der Kuckuck der Vogelsage! Lernen wir
nun den Kuckuck in der Fabel kennen!
Der Kuckuck.
„Und von der Amsel?" fuhr er fort.
„„Auch diese lobt man hier und
dort." "5)
„Ich muß dich doch noch etwas fra¬
gen«):
„Was," rief er, „spricht man denn
von mir?"
„ „Das," sprach der Star, „das weiß
ich nicht zu sagend);
denn keine Seele red't von dir.""
„So will ich," fuhr er fort, „mich an
dem Undank rächen«)
und ewig von mir selber sprechen."«)
II. Zum Verständnis des Einzelnen. 1. Stare und Papageien pflegt
man als die beredtesten Vögel anzusehen oder, richtiger gesagt, als die
schwatzhaftesten.
2. Seinem Herrn aus dem Bauer weggeflogen. In der Gefangen¬
schaft mochte er nicht nur größere Übung in der Schwatzhaftigkeit erlangt
haben, sondern vor allem hatte er in der Stadt desto bessere Gelegenheit
gehabt, die verschiedenen Ansichten der Menschen kennen zu lernen. Daß
er aus der Stadt entflohen sei, mußte er dem Kuckuck erzählt haben.
3. Melodien. Melodie ist der Zusammenklang, auch Wohlklang der
Töne, hier aber so viel als: unser Gesang. „Unsere Melodeien" sind
die der Vögel überhaupt, nicht etwa nur die des Kuckucks und des Stars.
Dem Kuckuck ist es nur darum zu tun, vom Stare zu erfahren, was
man über seinen eigenen Gesang urteile. Er will aber den Star nicht
stutzig machen und stellt zunächst die Frage ganz allgemein: Was spricht
*) Brockhaus: „Doch braucht er sich seiner Gestalt nicht zu schämen; er ist
sogar ein schöner Vogel, von der Größe einer Turteltaube, von blaugrauer Grund¬
farbe, mit langem, schwärzlichem Schwanz, dessen ^Federn weiße Flecken und
Spitzen tragen."
Der Kuckuck sprach mit einem Star*),
der aus der Stadt entflohen war?)
„Was spricht man," fing er an zu
schreien,
„was spricht mau in der Stadt von
unsern Melodeien?«)
Was spricht man von der Nachti¬
gall?"^)
„„Die ganze Stadt lobt ihre Lie¬
der." "
„Und von der Lerche?" rief er wieder.
„„Die halbe Stadt lobt ihrer Stimme
Schall."
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