„Ihr wißt's nicht?" fragte der Nachbar. „Seht doch nur in
den Lindenbaum hinein!"
Die Kinder sahen in den Baum. Es war eine ganze Welt voll
Bienen in dem Baume, die aus den Blüten den süßen Saft sogen.
Den Kindern gefiel das fröhliche Leben, das Summen und Ar¬
beiten der kleinen Geschöpfe, und Julie wurde ihr Bäumchen noch
lieber. „Ja, kommt nur, ihr lieben Bienen," rief sie, „und holt
euch allen Saft aus den Blüten; wir hören so gern euer Summen!"
2.
Im Herbste kam der Nachbar mit einem Teller, auf welchem
zwei Honigscheiben lagen. „LiebeJulie," sprach der freundliche Mann,
„du hast meine Bienen im Sommer so freundlich auf deine Linde
eingeladen; heute habe ich Honig geschnitten, und die Bienen, die sich
in deinem Bäumchen so oft ein Leckermäulchen gemacht, haben
mir streng befohlen, dir diese Scheiben zu bringen, damit sie
wieder kommen dürfen, wenn die Linde wieder blüht!"
Freudig dankte Julie dem Nachbar. Den Bienen, die so
dankbar und klug waren, wurde die Erlaubnis gegeben, immer
zu kommen, wenn der Baum blühe.
Julie bat nun die Mutter, den Honig unter alle zu teilen.
Die Mutter tat es und gab Brötchen dazu. Die Kinder aßen den
Honig gern und hatten drei Tage genug daran. Sie lobten den
Baum und die Bienen und vor allem die gütige Schwester, die
so willig geteilt hatte.
„Wir haben deinem Baume unrecht getan," sprach Eduard,
„er trägt wohl etwas — Honig trägt er —; wir wollen ihn
den Honigbaum nennen."
Mit jedem Jahre wuchs der Baum zusehends. Als die Kinder
erwachsen waren, war er schon ein großer Baum geworden. Der
Vater ließ eine Bank um den Stamm desselben machen. Oft saß die
Familie in dem Schatten des Baumes, erfrischte sich in seiner
Kühlung bei der Hitze des Tages und aß des Abends unter seinen
Zweigen das Abendbrot. Mit Wohlgefallen sog man den Duft seiner
Blüten ein und hörte die Bienen summen und die Vögel in seinem
dichten Laube zwitschern. Auch die Nachbarn freuten sich auf die Zeit
seiner Blüte, denn sie genossen auch den köstlichen Duft, welcher
sich weitumher verbreitete. Allen war der Baum lieb und wert.
Christian töhr.