Stieler: Auf der Alm. 245 Oft viele Stunden weit ist der Weg von daheim auf die Alm, aber kaum hat die Herde die Lichtung, wo die Hütten liegen, erreicht, so dünkt ihr schon jeder Stein und Baum bekannt, und mit freudigem Gebrüll eilt jedes Tier auf seinen alten Platz inr Stall. Nun ist die neue Welt, die Freiheit wieder gewonnen, — der Sommer beginnt. Der Sommer aber führt nicht nur die vierfüßigen Gäste, sondern auch zahlloses zweibeiniges . Volk auf die Alm, und da gibt es nicht selten bedenkliches Aufeinanderstoßen. Mit zager Furcht umkreisen die Fremden die Hütte, unter deren schattiges Dach sich das Jung¬ vieh zusammendrängt, halbgewachsene Rinder, die eben in den Flegel- jahren stehen und deshalb anl übermütigsten mit den Fremden sind. Die Lage wird gefährlich, sobald gar ein junger Bulle zum An¬ griff gegen den Herrn Geheimrat aus Berlin und seine Gesellschaft von Damen herantrollt. Alles flieht entsetzt und voll Todesangst davon. Da klingt eine Helle Stimnie durchs Fenster, und mit lautem Lachen tritt die Sennerin unter die Tiür und ruft die Fliehenden zurück. „Und jetzt machts, daß ihr da weiterkommts, ihr Sapperadi," ruft sie dann zürnend den Kühen zu, „damit die Herrschaften rein können, — nur auseinander da, weiter, marsch!" „Ach Fräulein, wie Sie strenge und wie Ihnen die Kühe gehorsmn sind," flüstert die Frau Geheimrätin mit den: Gefühle der Erlösung, und zögernd trippelt die ganze Schar über die Stufen empor in die Hütte, die Sennerin aber erwidert mit Lachen: „Ja ja, scharf muß man schon sein; wenn man nicht manchmal recht aufbegehrt, na haben f kein Respekt vor ei'm, dös wissen die Viecher grad so gut als wie die Leut'." Um den Herd der kleinen Htitte gelagert, kehren die erschrockenen Gäste gar bald zur alten Lebenslust zurück imb mustern mit liebens¬ würdiger Neugier die rauchige Wand, wo lauter. Gegenstände hängen, deren Zweck und Name ihnen ewiges Geheimnis bleibt. Allein auch das hat feinen Reiz, man muß nicht alles verstehen. Nicht immer geht es indes bei solchen Abenteuern scherzhaft ab; manchmal weiß man von schweren Unglücksfällen zu berichten, die durch die zügellose Wildheit der Tiere auf den Almen veranlaßt wurden. Ich selber kannte eine Sennerin, die wegen ihrer Schönheit und ihres Gesanges beliebt war, und die mit selben Tage, wo ich noch fröhlich mit ihr zusammensaß, von dem Stier ihrer Herde getötet ward. Ja, auf einem der Berge, die den Walchensee umgeben, hausten vor etwa zehn Jahren drei solcher Ungetüme, die derart gefürchtet waren, daß niemand ohne Not den Berg beging, und auch in der Nähe des Spitzingsees gab es einen solchen kohlschwarzen Gesellen, der die Geißel aller Holzknechte war, die dort in den Wäldern beschäftigt waren.