69 und mußte bei jedem Tanze und bei jedem Feste sein; sie verursachte dadurch ihrer alten Mutter viel Kummer, und diese ermahnte sie oft genug, aber es half nichts. Im Spätherbst und Winter, wenn die jungen Mädchen zum Spinnen zusammenkamen, dann ging die Lust erst recht los; dann wurde bis in die späte Nacht gespielt, gelärmt, gesungen und getanzt, und Marie war beim Nachhausegehen immer die letzte. Die Mutter hatte das lange in Geduld angesehen, weil ihre Ermahnungen doch nichts halfen. Einmal aber, am Marientag, als Marie wieder zur Spinnstube ging, sagte sie zu ihrer Tochter: „Versprich mir nur heute, daß du vor Mitternacht nach Hause kommen und dich nicht auf der Straße herumtreiben willst. Heute ist Unserer lieben Frauen Tag, und wenn an dem die Kinder gegen ihre Eltern ungehorsam sind, so werden sie auf der Stelle bestraft". Marie versprach ihrer Mutter unter Tränen, zur rechten Zeit nach Hause zu kommen, so wahr der Mond am Himmel stehe. Sie nahm alsdann ihr Rad und ging. Aber sie hatte kaum eine Stunde gesponnen, als sich draußen Gesang und Musik hören ließ und die jungen Bursche des Dorfes ankamen. Sie hatten Spielleute geholt; die Spinnräder wurden beiseite geworfen, und alles tanzte und sprang; es war schon lange Mitternacht vorüber, als man sich endlich anschickte auseinander zu gehen. Die Musik zog mit, und als man am Kirchhofe vorbeikam und die Türe offen fand, raste die ausgelassene Schar auf den Kirchhof und fing dort von neuem an zu tanzen. Marie dachte nicht mehr an ihr Versprechen und tanzte lustig mit im hellen Mondenscheine. Die alte Mutter saß unterdessen unruhig in ihrem Stübchen und wartete mit Schmerzen auf ihre Tochter. Da hörte sie auf einmal aus der Ferne das Schreien und Lärmen auf dem Kirchhofe. Sie ahnte, wer dabei sei, und die Angst um ihr Kind trieb sie hinaus. Bald kam sie auf den Kirchhof und sah ihre Marie mitten in dem tollen Haufen. Das war ihr ein Stich ins Herz; sie rief das leichtsinnige Mädchen und befahl ihr, augenblicklich nach Hause zu kommen. Marie aber erwiderte ganz keck: „Ei Mutter, der Mond scheint noch so helle! Geh du nur, ich komme bald." Da war die Mutter im tiefsten Herzen ergrimmt und rief: „Ich wollte doch, daß das ungeratene Kind im Monde säße und dort spinnen müßte!" Kaum hatte die Alte diese Verwünschung ausgesprochen, als sie auch in Erfüllung ging. Wie ein Blitz flog Marie mit ihrem Rade in der Hand dem Monde zu, und da sitzt sie noch und spinnt, und wenn er ganz hell scheint, kann man sie deutlich sehen. Sie spinnt feine, zarte Fäden, die fallen zur Herbstzeit auf die Erde hinunter, der Wind jagt und zerreißt sie dann und treibt sie auf Hecken und Bäume, und die Leute nennen sie Sommerseide oder Marienfädchen, auch Alteweibersommer. Marie Schäling (Sagen aus preuß. Landen).