Jeutsches esebuch
für
Hõhere Mäoͤchenschulen.
rrn
Herausgegeben
Paul Vollert,
Direktor der Städtischen höhern Mädchenschule
in Ludwigshafen.
Nürnberg.
Verlag der Friedr. Kornschen Buchhandlung.
von
Deutsches esebucgy
für
Hõhere Mäoͤchenschulen.
2oo
24 Banß.
Bearbeitet
Emil Grimm,
Bezirksoberlehrer in Nürnberg.
Nürnberg.
Verlag der Friedr. Kornschen Buchhandlung.
von
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Die Umschlag-Zei
schlag⸗Zeichnung ist von Lorenz Neinhard Spitzenpfeil
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in Kulmbach.
Inhalts⸗Verzeichnis.
(* bezeichnet Gedichte.)
I. Märchen. Seite
1. Marienkind (Brüder Grimm)....- —e
2. Die Gänsemagd (Brüder Grimm).. ves
3. Der verrostete Ritter (Volkmann-Leander)n. u———
4. Der Schlangenkönig (Seidell... —ERrE—
5. Die Hühnerburg (Blüthgen) . .. 24
II. Sagen und Legenden.
es kleinen Volkes Überfahrt (Kopisch). .
Roggenmuhme (Loewenberg)
daumannlein (Geißlerrr
a. Der goldene Tod (Avenarius)..
10. Die Jungfrau am See (Schöppners Sagenbuch) ——
11. Der König Watzmann (Aurbacher).....
12. Die Entstehung des Pfahl (Bronner) ..
13. Der Fischer am Arber⸗See (E. Grimm).. ——
14. Die steinerne Brücke von Regensburg (Heindl). —
15. Der Neustädter Geißbock (Aufsberg.. ————
16. Der beste Trunk (Aufsberg) . .. ———
17. Das verlorene Kind (Schöppners Sagenbuch) .. ———————
18. Das Goldlaiblein (Schöppners Sagenbuch). ———
M Die Venediger im Fichtelgebirg (E. Grimm) .. —353
29. Zeitelmoos (Kopisch) .. m— — 3
Walters Grab Kleßßß —
2⸗. Der Traum (Ruseler). . oe —535
cCegende (Goethe E 66
1.Legende (Lilieneronß — 638
5. Der Kreuzschnabel (Mosen). 69
Von St. Georg dem Ritter Benz). — 6090
Vom heiligen Christophorus (Benz) ... 61
III. Allerlei Scherz.
28. Abenteuer der Sieben Schwaben (Aurbacher). 65
1. Die Sieben Schwaben waffnen sich. e
2. Die Sieben Schwaben schwimmen durch ein blaues Meer
3. Die Sieben Schwaben bestehen den Strauß
ZSeite
«29. Schwäbische Kunde (Uhland) .
30. Schildbürgerstreiche (Nach dem Volksbuchj..
1. Die Schildbürger bauen ein Rathaus ..
. Die Schildbürger verurteilen einen Krebs zum Tod. 7
Schilda geht zugrunde E 178
. Zwei Stücklein vom Till Eulenspiegel (Volksbuchj..60
1. Eulenspiegel als Bäckerknechht. 80
2. Eulenspiegel lehrt einen Esel lesen. 81
*32. Der betrogene Teufel (Seidel. E2
33. Die Träume (Seidel 66
34. Der geheilte Patient (Hebel) 7—
*35. 's Dirndl (Stieler). ———
*36. Der Schlosser und sein Gesell (Grübel) 90
*37. Der Apfeldieb (Weikert) E 1
*38. Rätsel⸗Ecle᷑· 92
IV. Bilder aus dem Menschenleben.
*39. Das Erkennen (Vogl) . .— E 95
*40. Die Schnitterin (Falke) .. 5966
41. Wie das Zicklein starb (Rosegger). 97
*42. Auf der Straßenbahn (Loewenberg) 1092
43. Christbrot (Krausbauer) . 103
*44. Das Kind am Brunnen (Hebbel) 108
45. Waldlilie im Schnee (Rosegger) — 109
*46. Der Fischer (Stieler) . . E
47. Der Geißbub von Solnhofen (K. Stöber). 112
48. Wie eine Mausmutter ihre Jungen rettet (Krausbauer) 23217
*49. Herr von Ribbek (Fontane) .. —— 120
50. Ein gutes Rezept (Hebel. 122
*51. Sommernacht (Keller). . 123
52. Der arme Musikant und sein Kollege (W. O. v. Horn) 124
153. Das Lied vom braven Mann (Bürger)..— 4128
54. Der kluge Richter Gebel 31
155. Der Bauer und sein Sohn (Gellert) . 132
56. Kannitverstan (Hebel). . E 134
*57. Hoffnung (Geibel). . 3 136
*58. Frühlings Einzug (Wilh. Müller) .137
*59. Der Strom (Reinick) 139
*60. Der Wind (Zoozmann) . — 140
»61. Herbst (EEichendorff). . c—22
*62. Der Winter (Hebel). 3
463. Was die Weisheit unsrer Dichter spricht·
64. Was die „Weisheit auf der Gasse“ spricht 46
Ateae
V. Land und Leute.
65. Arbeitergestalten aus den Bergen (Haushofer)
1. Der Holzikneehtt 3 —E
2 Der Zager
. Fischer auf dem Chiem⸗—See. 153
Die Sennerin .. 155
66. Das Münchener Oktoberfest (Schaarwächter) 122
67. vindau Heer — B2
68. Im Urwald (Hochstetter). —6*
69. Wie die Bing-⸗Höhle entdeckt wurde (E. Grimm). 165
70. Frankenwald⸗Flößer (E. Grimm) .. . 11
71. Aus dem Bauernleben in der Rhön (E. Grimm). 174
VI. Bilder aus dem Tierleben.
72. Ein flatterhaftes Wesen (Braeßß. 1278
73. Einsiedlerleben unter der Erde (Braeß) . . 180
74. Eine Zgelfamilie (Lönsf 183
75. Nachtleben am Fuchsbau (Meerwarth) ... 185
76. Eichhörnchen im Winter (Löns) .. 186
77. Gemswild im Frühling und Sommer (Meerwarth). 2189
78. Elefantenbad (Behnisch⸗Kappstein)... ÊQo
79. Nachbescherung (Behnisch⸗Kappstein) .. 193
2 2—
Quellen⸗Verzeichnis.
(Die Stücke mit vorgesetztem fsind leicht geändert.)
Aufsberg, Theod., Sagen und Geschichten aus Mittelfranken. 2. Aufl. Nürn—
berg, Korn.
Nr. 15. Der Neustädter Geißbock.
Nr. 16. Der beste Trunk.
Aurbacher, Ludw., Ein Volksbüchlein. 2 Tle. Leipzig, Reclam.
Nr. 11. König Watzmann.
Nr. 28. Die Sieben Schwaben.
Avenarius, Ferd. Stimmen und Bilder. München, Callwey.
Nr. 9. Der goldene Tod.
Behnisch⸗Kappstein, Anna, Meine zoologischen Freundschaften. Berlin 1907,
Verl. Continent.
Nr. 78. Elefautenbad.
Nr. 79. Nachbescherung.
Benz, Richard, Alte deutsche Legenden. Jena 1909, Diederichs.
Nr. 26. Von Sanlt Georg dem Ritter.
Nr. 27. Vom heiligen Christophorus.
Blüthgen, Vilt. Hesperiden. 6. Aufl. Stuttgart, Union.
Nr. 5. Die Hühnerburg.
Braeß, Dr. Martin.
Nr. 72. Ein flatterhaftes Wesen. (Aus: Tiere unsrer Heimat. Mün—
chen 1907, Callwey.)
fNr. 73. Einsiedlerleben unter der Erde. (Aus: Meerwarth, Lebens—
bilder aus der Tierwelt. Säugetiere. 2. Tl. Leipzig,
Voigtländer.)
Bronner, F. J.. Bayrisch Land und Volk. 3. Aufl. München, Kellerer.
Nr. 12. Die Entstehung des Pfahl.
Bürger, Gottfr. Aug., Ausgewählte Werke. 2 Bde. Hrsg. von R. M. Werner.
Stuttgart 1898, Cotta.
Nr. 53. Das Lied vom braven Mann.
Eichendorff, Jos. Freih. v., Dichtungen. Leipzig, Insel-Verlag.
Nr. 61. Herbst.
Fallke, Gust. Hohe Sommertage. Hamburg 1903, Janssen.
Nr. 40. Die Schnitteriu.
Fontane, Theod., Gedichte. Stuttgart 1908, Cotta.
Nr. 49. Herr von Ribbeck.
Geibel, Emanuel, Gesammelte Werke. 4 Bde. Stuttgart, Cotta.
Nr. 57. Hoffnung.
Geißler, Max, Gedichte. Volksausg. Leipzig 1908, Staackmann⸗
Nr. 8. Taumänulein.
Gellert, Christ. Fürchteg. Dichtungen. Hsg. von Schullerus. Leipzig 1891,
Bibl. Institut.
Nr. 55. Der Bauer und sein Sohn.
Goethe, Joh. Wolfg., Werke. 6 Bde. Herausg. von Erich Schmidt. Leipzig
1910, Insel-⸗Verl.
Nr. 23. Legende.
Grimm,. Emil.
Nr. 13. Der Fischer am Arber-See.
Nr. 19. Die Venediger im Fichtelgebirg.
Nr. 69. Wie die Binghöhle in der Fränlischen Schweiz gandschrift-
entdeckt wurde. liche
Nr. 70. Frankenwald-Flößer. Beiträge des
Unter Benützung eines Aufsatzes von Hans Dörfel Heraus⸗
in der „Jugendlust“ 28. Jahrg.) ben
Nr. 71. Bauernleben in der Rhön. e
Quellen: Bronner, Bayrisch Land und Volk;
Schneider, Rhön⸗Führer. Würzburg, Stürtz.)
Grimm, Jatk. u. Wilh., Kinder-⸗ u. Hausmärchen gesammelt durch die Brüder
Grimm. Vollst. Ausg. Leipzig 1907, Hesse.
Nr. 1. Marienkind.
Nr. 2. Die Gäusemagd.
Grübel, Konrad, Sämtliche Werke. 8. Aufl. Nürnberg 1897, Heerdegen-Barbeck.
Nr. 36. Der Schlosser und sein Gesell.
Haushofer, Max, Arbeitergestalten aus den Bergen. Bayr. Bibl. 4. Bd. Bam⸗
berg 1890, Buchner.
fNr. 65. Arbeitergestalten aus den Bergen.
Hebbel, Friedr. Sämtliche Werke. Hsg. von R. M. Werner. Berlin, Behr.
Vr. . Das Kind am Brunuen.
Hebel, Joh. Peter, Werke. 2 Bde. Herausg. von O. Behaghel. Berlin, Spemann.
Nr. 34. Der geheilte Patient.
fNr. 50. Ein gutes Rezept.
fNr. 54. Der kluge Richter.
Nr. 56. Kannitverstan.
Nr. 62. Der Winter.
Heer, J. C., Freiluft. Bilder vom Bodensee. Konstanz, Ackermann.
Nr. 67. Lindau.
Heindl, Hans, Weiß und Blau. Von Frietinger u. Heindl. 2 Tle. München,
Oldenbourg.
Nr. 14. Die steinerne Brücke von Regensburg.
dochstetter, Dr. Ferd. v.
Nr. 68. Im Urwald. (Nach dem Jahrbuch der k. k. geologischen
Reichsanstalt. Bd. 6 u. 7. Wien 1855/56.)
Horn, W. O. von (Wilh. Dertel), Silberblicke. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1892,
Sauerländer.
Nr. 52. Der arme Musikant und sein Kollege.
Keller, Gottfr. Gesammelte Werke. Berlin, Hertz.
Vr. 51. Sommernacht.
Klee, Gotthold, Sieben Bücher deutscher Volkssagen. 2. Aufl. Gütersloh 1806,
Bertelsmann.
Nr. 21. Walters Grab.
Kopisch, Aug., Gedichte für die Jugend. München, Kellerer.
Nr. 6. Des kleinen Volkes Überfahrt.
Nr. 20. Zeitelmoos.
Krausbauer, Theod., Bilder aus meinem Leben. 1. Bd. Stuttgart 19807,
Benzinger.
Nr. 43. Christbrot.
Nr. 48. Wie eine Mansmutter ihre Juugen rettet.
Lilieneron, Detl. v. Sämtliche Werke. Berlin, Schuster & Löffler.
Nr. 214. Legende.
Loewenberg, Jaklob.
Nr. 7. Die Roggenmuhme. (Aus: Falke u. Loewenberg, Steht
auf, ihr lieben Kinderlein. Köln, Schaffstein.)
Nr. 42. Auf der Straßenbahn. (Aus: Freudenberg, Was der
Jugend gefällt. Dresden, Köhler.)
Löns, Herm. Mümmelmann. 3. Aufl. Hannover 1910, Sponholtz.
Nr. 74. Eine Igelfamilie.
Nr. 76. Eichhörnchen im Winter.
Meerwarth, Herm., Lebensbilder aus der Tierwelt. Säugetiere. 2 Bde. Leipzig,
Voigtländer.
Nr. 75. Nachtleben am Fuchsbau.
Nr. 77. Gemswild im Frühling und Sommer.
Mosen, Julius, Gedichte. Halle 1898, Hendel.
Nr. 25. Der Kreuzschnabel.
Müller, Wilh., Gedichte. 2 Tle. Leipzig 1858, Brockhaus.
Nr. 58. Frühlings Einzug.
Reinick, Rob., Gedichte, Erzählungen und Märchen. 2. Boch. Hsg. von Kretschmar
u. Osternai. Dresden 1911, Köhler.
Nr. 59. Der Strom.
Rosegger, Peter, Als ich noch der Waldbauernbub war. 1. Tl. Leipzig 1905,
Staackmann.
Nr. 41. Wie das Zitlein starb.
Der Waldschulmeister. Rom. Leipzig, Staackmann.
Nr. 45. Waldlilie im Schnee.
Ruseler, Georg, Die gläserne Wand. Berlin⸗Schöneberg 1908, Hilfe-Verlag
Nr. 22. Der Traum.
Schaarwãchter, R.
Nr. 66. Das Münchener Oltoberfest. (Aus: Deutsches Land und Volk.
Hsg. von Dr. Wohlrabe. 14. Bdch. Halle, Gebauer &
Schwetschke.)
Zcherer, Georg, Rätselbuch. 6. Aufl. München, Braun & Schneider.
Nr. 38. Rätsel-Ecke.
Schöppuer, Dr. A., Sagenbuch der Bayerischen Lande. 3 Bde. München 1866,
M. Rieger.
Nr. 10. Die Jungfrau am Set.
MNr. 17. Das verlorene Kind.
Nr. 18. Das Goldlaiblein. (Von J. Ch. Holtzmann.)
Seidel, Heinr., Wintermärchen. 7. Aufl. Stuttgart, Union.
Nr. 4. Der Schlangenkönig.
— Gesammelte Schriften. Stuttgart, Cotta.
Nr. 32. Der betrogene Teufel.
Nr. 33. Die Träume.
Ztieler, Karl, Gesammelte Gedichte in oberbayrischer Mundart. Stuttgart 1907,
Bonz.
Nr. 35. !s Dirndl.
Nr. 46. Der Fischer.
Ztöber, Karl, Erzählungen. Gesamtausgabe. 1. Bd. Leipzig u. Dresden 1861,
Naumann.
Nr. 47. Der Geißbub von Solnhofen.
uUhland, Ludw., Werke. Hsg. von R. v. Gottschall. Leipzig 1899, Hesse.
Nr. 29. Schwübische Kunde.
Bogl, Joh. Nepom., Gedichte. Linz, Lehrerhaus⸗Verein.
Nr. 39. Das Erkennen.
Bolkmann⸗Leander, Rich. v. Träumereien an französischen Kaminen. Leipzig,
Breitkopf & Haertel.
Nr. 3. Der verrostete Ritter. (Kleine Auslassung.)
Bollsbũcher.
Nr. 30. Schildbürgerstreiche. (Nach: Schwab, Die Schildbürger.
Linz, Lehrerhaus-Verein.)
Nr. 31. Vom Till Eulenspiegel. (Nach der Ausgabe von Gerlach,
Wien) —
Weilert, Joh. Wolfg. Ausgewählte Gedichte in Nürnberger Mundart. Hssg.
v. Dr. G. K. Frommann. 2. Aufl. Nürnberg 1868, J. L. Schmidt.
Nr. 37. Der ÄÜpfeldieb.
Zoozmann, Richard.
Nr. 60. Der Wind. (Aus: Freudenberg, Was der Jugend gefällt.)
l. Märchen.
1. Marienkind.
Vor einem großen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner
Frau; der hatte nur ein einziges Kind, das war ein Mädchen
von drei Jahren. Sie waren aber so arm, daß sie nicht mehr
das tägliche Brot hatten und nicht wußten, was sie ihm sollten
zu essen geben. Eines Morgens ging der Holzhacker voller Sorgen
hinaus in den Wald an seine Arbeit und wie er da Holz hackte,
stand auf einmal eine schöne große Frau vor ihm, die hatte eine
Krone von leuchtenden Sternen auf dem Haupt und sprach zu
ihm: „Ich bin die Jungfrau Maria, die Mutter des Christkindleins;
du bist arm und dürftig, bring mir dein Kind, ich will es mit
mir nehmen, seine Mutter sein und für es sorgen.“ Der Holz—
hacker gehorchte, holte sein Kind und übergab es der Jungfrau
Maria; die nahm es mit sich hinauf in den Himmel. Da ging
es ihm wohl, es aß Zuckerbrot und trank süße Milch und seine
Kleider waren von Gold und die Englein spielten mit ihm.
Als es nun vierzehn Jahr alt geworden war, rief es einmal
die Jungfrau Maria zu sich und sprach: „Liebes Kind, ich habe eine
große Reise vor, da nimm die Schlüssel zu den dreizehn Türen
des Himmelreichs in Verwahrung; zwölf davon darfst du auf—
schließen und die Herrlichkeiten darin betrachten; aber die drei—
zehnte, wozu dieser kleine Schlüssel gehört, die ist dir verboten.
Hüte dich, daß du sie nicht aufschließest, sonst wirst du unglücklich!“
Das Mädchen versprach gehorsam zu sein und als nun die Jungfrau
Maria weg war, fing sie an und besah die Wohnungen des Himmel⸗
reichs, jeden Tag schloß es eine auf, bis die zwölfe herum waren.
In jeder aber saß ein Apostel und war von großem Glanz um—
geben und es freute sich über all die Pracht und Herrlichkeit
und die Englein, die es immer begleiteten, freuten sich mit ihm.
Nun war die verbotene Tür allein noch übrig; da empfand es
Lesebuch für Höhere Mädchenschulen. 1.
eine große Lust zu wissen, was dahinter verborgen wäre, und
sprach zu den Englein: „Ganz aufmachen will ich sie nicht und will
auch nicht hineingehen; aber ich will sie aufschließen, damit wir
ein wenig durch den Ritz sehen.“ „Ach nein,“ sagten die Englein,
„das wäre Sünde; die Jungfrau Maria hat's verboten und es
könnte leicht dein Unglück werden.“ Da schwieg es still; aber
die Begierde in seinem Herzen schwieg nicht still, sondern nagte
und pickte ordentlich daran und ließ ihm keine Ruhe. Und als
die Englein einmal alle hinausgegangen waren, dachte es: Nun
bin ich ganz allein und könnte hineingucken, es weiß es ja nie—
mand, wenn ich's tue. Es suchte den Schlüssel heraus und als
es ihn in der Hand hielt, steckte es ihn auch in das Schloß und
als es ihn hineingesteckt hatte, drehte es auch um. Da sprang
die Tür auf und es sah da die Dreieinigkeit in Feuer und Glanz
sitzen. Es blieb ein weilchen stehen und betrachtete alles mit
Erstaunen, dann rührte es ein wenig mit dem Finger an den
Glanz, da ward der Finger ganz golden. Alsbald empfand es
eine gewaltige Angst, schlug die Tür heftig zu und lief fort. Die
Angst wollte auch nicht wieder weichen, es mochte anfangen,
was es wollte, und das Herz klopfte in einem fort und wollte
nicht ruhig werden; auch das Gold blieb an dem Finger und
ging nicht ab, es konnte waschen und reiben, soviel es wollte.
Gar nicht lange, so kam die Jungfrau Maria von ihrer
Reise zurück. Sie rief das Mädchen zu sich und forderte ihm
die Himmelsschlüssel wieder ab. Als es den Bund hinreichte,
blickte ihm die Jungfrau in die Augen und sprach: „Hast du auch
nicht die dreizehnte Türe geöffnet?“ „Nein,“ antwortete es.
Da legte sie ihre Hand auf sein Herz, fühlte, wie es klopfte und
klopfte, und merkte wohl, daß es ihr Gebot übertreten und die
Tür aufgeschlossen hatte. Da sprach sie noch einmal: „Hast du
es gewiß nicht getan?“ „Nein,“ sagte das Mädchen zum zweiten⸗
mal. Da erblickte sie den Finger, der von der Berührung des
himmlischen Feuers golden geworden war, sah wohl, daß es
gesündigt hatte, und sprach zum drittenmal: „Hast du es nicht
getan?“ „Nein,“ sagte das Mädchen zum drittenmal. Da sprach
die Jungfrau Maria: „Du hast mir nicht gehorcht und hast noch
dazu gelogen, du bist nicht mehr würdig im Himmel zu sein.“
Da versank das Mädchen in einen tiefen Schlaf und als
es erwachte, lag es unten auf der Erde, mitten in einer Wildnis.
Es wollte rufen; aber es konnte keinen Laut hervorbringen. Es
sprang auf und wollte fortlaufen; aber wo es sich hinwendete,
immer ward es von dichten Dornhecken zurückgehalten, die es
nicht durchbrechen konnte. In der Einöde, in welche es einge—
geschlossen war, stand ein alter, hohler Baum, das mußte seine
Wohnung sein. Da kroch es hinein, wenn die Nacht kam, und
schlief darin, und wenn es stürmte und regnete, fand es darin
Schutz. Aber es war ein jämmerliches Leben und wenn es daran
dachte, wie es im Himmel so schön gewesen war und die Engel
mit ihm gespielt hatten, so weinte es bitterlich. Wurzeln und
Waldbeeren waren seine einzige Nahrung, die suchte es sich,
soweit es kommen konnte. Im Herbst sammelte es die herab—
gefallenen Nüsse und Blätter und trug sie in die Höhle; die Nüsse
waren im Winter seine Speise und wenn Schnee und Eis kam,
so kroch es wie ein armes Tierchen in die Blätter, daß es nicht
fror. Nicht lange, so zerrissen seine Kleider und fiel ein Stück
nach dem andern vom Leib herab. Sobald dann die Sonne
wieder warm schien, ging es heraus und setzte sich vor den Baum
und seine langen Haare bedeckten es von allen Seiten wie ein
Mantel. So saß es ein Jahr nach dem andern und fühlte den
Jammer und das Elend der Welt.
Einmal, als die Bäume wieder in frischem Grün standen,
jagte der König des Landes in dem Wald und verfolgte ein Reh,
und weil es in das Gebüsch geflohen war, das den Waldplatz
einschloß, stieg er vom Pferd, riß das Gestrüpp auseinander
und hieb sich mit seinem Schwert einen Weg. Als er endlich
hindurchgedrungen war, sah er unter dem Baum ein wunder—
schönes Mädchen sitzen, das saß da und war von seinem goldenen
Haar bis zu den Fußzehen bedeckt. Er stand still und betrachtete
es voll Erstaunen; dann redete er es an und sprach: „Wer bist
du? Warum sitzest du hier in der Einöde?“ Es gab aber keine
Antwort; denn es konnte seinen Mund nicht auftun. Der König
sprach weiter: „Willst du mit mir auf mein Schloß gehen?“
Da nickte es nur ein wenig mit dem Kopf. Der König nahm es
auf seinen Arm, trug es auf sein Pferd und ritt mit ihm heim
und als er auf das königliche Schloß kam, ließ er ihm schöne
Kleider anziehen und gab ihm alles im Überfluß. Und ob es gleich
nicht sprechen konnte, so war es doch schön und holdselig, daß er
es von Herzen lieb gewann, und es dauerte nicht lange, da ver—
mählte er sich mit ihm.
Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Königin
einen Sohn zur Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein in
ihrem Bette lag, erschien ihr die Jungfrau Maria und sprach:
„Willst du die Wahrheit sagen und gestehen, daß du die verbotene
Tür aufgeschlossen hast, so will ich deinen Mund öffnen und
dir die Sprache wieder geben; verharrst du aber in der Sünde
und leugnest hartnäckig, so nehm' ich dein neugebornes Kind
mit mir.“ Da war der Königin verliehen zu antworten; sie
blieb aber verstockt und sprach: „Nein, ich habe die verbotene
Tür nicht aufgemacht,“ und die Jungfrau Maria nahm das
neugeborne Kind ihr aus den Armen und verschwand damit.
Am andern Morgen, als das Kind nicht zu finden war, ging
ein Gemurmel unter den Leuten, die Königin wäre eine Menschen—
fresserin und hätte ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hörte
alles und konnte nichts dagegen sagen; der König aber wollte
es nicht glauben, weil er sie so lieb hatte.
Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn.
In der Nacht trat auch wieder die Jungfrau Maria zu ihr herein
und sprach: „Willst du gestehen, daß du die verbotene Tür ge⸗
öffnet hast, so will ich dir dein Kind wieder geben und deine
Zunge lösen; verharrst du aber in der Sünde und leugnest, so
nehme ich auch dieses neugeborne mit mir.“ Da sprach die Kö—
nigin wiederum: „Nein, ich habe die verbotene Tür nicht geöffnet,“
und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen weg und
mit sich in den Himmel. Am Morgen, als das Kind abermals
verschwunden war, sagten die Leute ganz laut, die Köñigin hätte
es verschlungen, und des Königs Räte verlangten, daß sie sollte
gerichtet werden. Der König aber hatte sie so lieb, daß er es
nicht glauben wollte, und befahl den Räten bei Leibes⸗ und
Lebensstrafe nichts mehr darüber zu sprechen.
Inm nẽãchsten Jahre gebar die Königin ein schönes Töchter⸗
lein; da erschien ihr zum drittenmal nachts die Jungfrau Maria
und sprach: „Folge mir!“ Sie nahm sie bei der Hand und führte
sie in den Himmel und zeigte ihr da ihre beiden ältesten Kinder,
die lachten sie an und spielten mit der Weltkugel. Als sich die
Königin darüber freute, sprach die Jungfrau Maria: „Ist dein
Herz noch nicht erweicht? Wenn du eingestehst, daß du die ver—
botene Tür geöffnet hast, so will ich dir deine beiden Söhnlein
zurückgeben.“ Die Königin antwortete zum drittenmal: „Nein,
ich habe die verbotene Tür nicht geöffnet.“ Da ließ sie die Jung⸗
frau wieder zur Erde herabsinken und nahm ihr auch das dritte
Kind.
Am andern Morgen, als es ruchbar ward, riefen alle
Leute laut: „Die Königin ist eine Menschenfresserin, sie muß
verurteilt werden!“ und der König konnte seine Räte nicht mehr
zurückweisen. Es ward ein Gericht über sie gehalten und weil
sie nicht antworten und sich nicht verteidigen konnte, ward sie
berurteilt auf dem Scheiterhaufen zu sterben. Das Holz wurde
zusammengetragen und als sie an einen Pfahl festgebunden
war und das Feuer rings umher zu brennen anfing, da schmolz
das harte Eis des Stolzes und ihr Herz ward von Reue bewegt
und sie dachte: Könnt' ich nur noch vor meinem Tode gestehen,
daß ich die Tür geöffnet habe! Da kam ihr die Stimme, daß sie
laut ausrief: „Ja, Maria, ich habe es getan!“ Und alsbald fing der
Himmel an zu regnen und löschte die Feuerflammen und über
ihr brach ein Licht hervor und die Jungfrau Maria kam herab
und hatte die beiden Söhnlein zu ihren Seiten und das neu⸗
geborne Töchterlein auf dem Arm. Sie sprach freundlich
zu ihr: „Wer seine Sünde bereut und eingesteht, dem ist sie
vergeben,“ und reichte ihr die drei Kinder, löste ihr die Zunge
und gab ihr Glück für das ganze Leben.
Brüder Grimm.
2. Die Gänsemagd.
Es lebte einmal eine alte Königin, der war ihr Gemahl
schon lange Jahre gestorben und sie hatte eine schöne Tochter.
Wie die erwuchs, wurde sie weit überfeld an einen Königssohn
versprochen. Als nun die Zeit kam, wo sie vermählt werden
sollten und das Kind in das fremde Reich abreisen mußte, packte
ihr die Alte gar viel köstliches Gerät und Geschmeide ein, Gold
und Silber, Becher und Kleinode, kurz alles, was nur zu einem
königlichen Brautschatz gehörte; denn sie hatte ihr Kind von
Herzen lieb. Auch gab sie ihr eine Kammerjungfer bei, welche
mitreiten und die Braut in die Hände des Bräutigams über—
liefern sollte, und jede bekam ein Pferd zur Reise; aber das
Pferd der Königstochter hieß Falada und konnte sprechen. Wie
nun die Abschiedsstunde da war, begab sich die alte Mutter in
ihre Schlafkammer, nahm ein Messerlein und schnitt damit
in ihre Finger, daß sie bluteten; darauf hielt sie ein weißes
Läppchen unter und ließ drei Tropfen Blut hineinfallen, gab
sie der Tochter und sprach: „Liebes Kind, verwahre sie wohl,
sie werden dir unterwegs not tun.“
Also nahmen beide voneinander betrübten Abschied; das
Läppchen steckte die Königstochter in ihren Busen vor sich, setzte
sich aufs Pferd und zog nun fort zu ihrem Bräutigam. Da sie
eine Stunde geritten waren, empfand sie heißen Durst und
sprach zu ihrer Kammerjungfer: „Steig ab und schöpfe mir mit
meinem Becher, den du für mich mitgenommen hast, Wasser
aus dem Bache; ich möchte gerne einmal trinken.“ „Wenn Ihr
Durst habt,“ sprach die Kammerjungfer, „so steigt selber ab,
legt Euch ans Wasser und trinkt; ich mag Eure Magd nicht sein.“
Da stieg die Königstochter vor großem Durst herunter, neigte
sich über das Wasser im Bach und trank und durfte nicht aus
dem goldenen Becher trinken. Da sprach sie: „Ach Gott!“ da
antworteten die drei Blutstropfen: „Wenn das deine Mutter
wüßte, das Herz im Leibe tät' ihr zerspringen.“ Aber die Königs—
braut war demütig, sagte nichts und stieg wieder zu Pferd. So
ritten sie etliche Meilen weiter fort; aber der Tag war warm,
die Sonne stach und sie durstete bald von neuem. Da sie nun
an einen Wasserfluß kamen, rief sie noch einmal ihrer Kammer—
jungfer: „Steig ab und gib mir aus meinem Goldbecher zu
trinken,“ denn sie hatte aller bösen Worte längst vergessen. Die
Kammerjungfer sprach aber noch hochmütiger: „Wollt Ihr
trinken, so trinkt allein; ich mag nicht Eure Magd sein.“ Da
stieg die Königstochter hernieder vor großem Durst und legte
sich über das fließende Wasser, weinte und sprach: „Ach Gott!“
und die Blutstropfen antworteten wiederum: „Wenn das deine
Mutter wüßte, das Herz im Leibe tät' ihr zerspringen.“ Und wie
sie so trank und sich recht überlehnte, fiel ihr das Läppchen, worin
die drei Tropfen waren, aus dem Busen und floß mit dem Wasser
fort, ohne daß sie es in ihrer großen Angst merkte. Die Kammer—⸗
jungf?r hatte aber zugesehen und freute sich, daß sie Gewalt
ber die Braut bekäme; denn damit, daß diese die Blutstropfen
verloren hatte, war sie schwach und machtlos geworden. Als
sie nun wieder auf ihr Pferd steigen wollte, das da hieß Falada,
sagte die Kammerfrau: „Auf Falada gehör' ich und auf meinen
Gaul gehörst du!“ und das mußte sie sich gefallen lassen. Dann
befahl ihr die Kammerfrau mit harten Worten die königlichen
Kleider auszuziehen und ihre schlechten anzulegen, und endlich
mußte sie sich unter freiem Himmel verschwören, daß sie am
königlichen Hof keinem Menschen etwas davon sprechen wollte,
und wenn sie diesen Eid nicht abgelegt hätte, wäre sie auf der
Stelle umgebracht worden. Aber Falada sah das alles an und
nahm's wohl in acht.
Die Kammerfrau stieg nun auf Falada und die wahre
Braut auf das schlechte Roß und so zogen sie weiter, bis sie end—
lich in dem königlichen Schloß eintrafen. Da war große Freude
über ihre Ankunft und der Königssohn sprang ihnen entgegen,
hob die Kammerfrau vom Pferde und meinte, sie wäre seine
Gemahlin; sie ward die Treppe hinaufgeführt, die wahre Königs⸗
tochter aber mußte unten stehen bleiben. Da schaute der alte
König am Fenster und sah sie im Hof halten und sah, wie sie
fein war, zart und gar schön, ging alsbald hin ins königliche
Gemach und fragte die Braut nach der, die sie bei sich hätte und
da unten im Hofe stände, und wer sie wäre. „Die hab' ich mir
unterwegs mitgenommen zur Gesellschaft. Gebt der Magd
was zu arbeiten, daß sie nicht müßig steht!“ Aber der alte König
hatte keine Arbeit für sie und wußte nichts, als daß er sagte:
„Da hab' ich so einen kleinen Jungen, der hütet die Gänse, dem
mag sie helfen.“ Der Junge hieß Kürdchen (Konrädchen), dem
mußte die wahre Braut helfen Gänse hüten.
Bald aber sprach die falsche Braut zu dem jungen König:
„Liebster Gemahl, ich bitte Euch, tut mir einen Gefallen Er
antwortete: „Das will ich gerne tun.“ „Nun, so laßt den Schinder
rufen und da dem Pferde, worauf ich hergeritten bin, den Hals
abhauen, weil es mich unterwegs geärgert hat.“ Eigentlich aber
fürchtete sie, daß das Pferd sprechen möchte, wie sie mit der
Königstochter umgegangen war. Nun war das so weit geraten,
daß es geschehen und der treue Falada sterben sollte; da kam
es auch der rechten Königstochter zu Ohr und sie versprach dem
Schinder heimlich ein Stück Geld, das sie ihm bezahlen wollte,
wenn er ihr einen kleinen Dienst erwiese. In der Stadt war
ein großes, finsteres Tor, wo sie abends und morgens mit den
Gänsen durch mußte; unter das finstere Tor möchte er dem
Falada seinen Kopf hinnageln, daß sie ihn doch noch mehr als
einmal sehen könnte. Also versprach das der Schindersknecht
zu tun, hieb den Kopf ab und nagelte ihn unter das finstere Tor fest.
Des Morgens früh, als sie und Kürdchen unterm Tor
hinaustrieben, sprach sie im Vorbeigehen:
„O, du Falada, da du hangest!“
Da antwortete der Kopf:
„O, du Jungfer Königin, da du gangest!
Wenn das deine Mutter wüßte,
Das Herz tät' ihr zerspringen.“
Da zog sie still weiter zur Stadt hinaus und sie trieben die Gänse
aufs Feld. Und wenn sie auf der Wiese angekommen war, saß
sie nieder und machte ihre Haare auf, die waren eitel Gold, und
Kürdchen sah sie und freute sich, wie sie glänzten, und wollte
ihr ein paar ausraufen. Da sprach sie:
„Weh, weh, Windchen,
Nimm Kürdchen sein Hütchen
Und laß 'n sich mit jagen,
Bis ich mich geflochten und geschnatzt
Und wieder aufgesatzt.“
Und da kam ein so starker Wind, daß er dem Kürdchen sein Hüt—
chen wegwehte über alle Lande, und es mußte ihm nachlaufen.
Bis es wiederkam, war sie mit dem Kämmen und Aufsetzen
fertig und er konnte keine Haare kriegen. Da war Kürdchen
bös und sprach nicht mit ihr und so hüteten sie die Gänse, bis
daß es Abend ward, dann gingen sie nach Haus.
Den andern Morgen, wie sie unter dem finstern Tor
hinaustrieben, sprach die Jungfrau:
„O, du Falada, da du hangest!“
Falada antwortete:
„O, du Jungfer Königin, da du gangest!
Wenn das deine Mutter wüßte,
Das Herz tät' ihr zerspringen.“
Und in dem Feld setzte sie sich wieder auf die Wiese und fing
an ihr Haar auszukämmen und Kürdchen lief und wollte danach
greifen; da sprach sie schnell:
„Weh, weh, Windchen,
Nimm Kürdchen sein Hütchen
Und laß 'n sich mit jagen,
Bis ich mich geflochten und geschnatzt
Und wieder aufgesatzt.“
Da wehte der Wind und wehte ihm das Hütchen vom Kopf
weit weg, daß Kürdchen nachlaufen mußte. Und als es wieder—
kam, hatte sie längst ihr Haar zurecht und es konnte keins davon
erwischen und so hüteten sie die Gänse, bis es Abend ward.
Abends aber, nachdem sie heimgekommen waren, ging
Qürdchen vor den alten König und sagte: „Mit dem Mädchen
will ich nicht länger Gänse hüten.“ „Warum denn?“ fragte
der alte König. „Ei, das ärgert mich den ganzen Tag.“ Da befahl
ihm der alte König zu erzählen, wie's ihm denn mit ihr ginge.
Da sagte Kürdchen: „Morgens, wenn wir unter dem finstern
Tor mit der Herde durchkommen, so ist da ein Gaulskopf an
der Wand; zu dem redet sie:
„Falada, da du hangest!“
Da antwortet der Kopf:
„O, du Königsjungfer, da du gangest!
Wenn das deine Mutter wüßte,
Das Herz tät' ihr zerspringen.“
Und so erzählte Kürdchen weiter, was auf der Gänsewiese
geschähe, und wie es da dem Hut im Winde nachlaufen müßte.
Der alte König befahl ihm den nächsten Tag wieder hinaus—
zutreiben, und er selbst, wie es Morgen war, setzte sich hinter
das finstere Tor und hörte da, wie sie mit dem Haupt des Falada
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sprach, und dann ging er ihr auch nach in das Feld und barg
sich in einem Busch auf der Wiese. Da sah er nun bald mit seinen
eigenen Augen, wie die Gänsemagd und der Gänsejunge die
Herde getrieben brachten und wie nach einer Weile sie sich setzte
und ihre Haare losflocht, die strahlten von Glanz. Gleich sprach
sie wieder:
„Weh, weh, Windchen,
Faß' Kürdchen sein Hütchen
Und laß 'n sich mit jagen,
Bis daß ich mich geflochten und geschnatzt
Und wieder aufgesatzt.“
Da kam ein Windstoß und fuhr mit Kürdchens Hut weg, daß
es weit zu laufen hatte, und die Magd kämmte und flocht ihre
Locken still fort, welches der alte König alles beobachtete.
Darauf ging er unbemerkt zurück und als abends die Gänse—
magd heimkam, rief er sie beiseite und fragte, warum sie dem
allem so täte. „Das darf ich Euch nicht sagen und darf auch
keinem Menschen mein Leid klagen; denn so hab' ich mich unter
freiem Himmel verschworen, weil ich sonst um mein Leben ge—
kommen wäre.“ Er drang in sie und ließ ihr keinen Frieden;
aber er konnte nichts aus ihr herausbringen. Da sprach er: „Wenn
du mir nichts sagen willst, so klag' dem Eisenofen da dein Leid!“
und ging fort. Da kroch sie in den Eisenofen, fing an zu jammern
und zu weinen, schüttete ihr Herz aus und sprach: „Da sitze ich
nun von aller Welt verlassen und bin doch eine Königstochter,
und eine falsche Kammerjungfer hat mich mit Gewalt dahin
gebracht, daß ich meine königlichen Kleider habe ablegen müssen,
und hat meinen Platz bei meinem Bräutigam eingenommen
und ich muß als Gänsemagd gemeine Dienste tun. Wenn das
meine Mutter wüßte, das Herz im Leib tät' ihr zerspringen.“
Der alte König stand aber außen an der Ofenröhre, lauerte ihr
zu und hörte, was sie sprach.
Da kam er wieder herein und hieß sie aus dem Ofen gehen.
Da wurden ihr königliche Kleider angetan und es schien ein
Wunder, wie sie so schön war. Der alte König rief seinen Sohn
und offenbarte ihm, daß er die falsche Braut hätte, die wäre
bloß ein Kammermädchen; die wahre aber stände hier als die
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gewesene Gänsemagd. Der junge König war herzensfroh, als
er ihre Schönheit und Tugend erblickte, und ein großes Mahl
wurde angestellt, zu dem alle Leute und guten Freunde gebeten
wurden. Obenan saß der Braͤutigam, die Königstochter zur einen
Seite und die Kammerjungfer zur andern; aber die Kammer—
jungfer war verblendet und erkannte jene nicht mehr in dem
glänzenden Schmuck. Als sie nun gegessen und getrunken hatten
und gutes Muts waren, gab der alte König der Kammerfrau
ein Rätsel auf, was eine solche wert wäre, die den Herrn so und so
betrogen hätte, erzählte damit den ganzen Verlauf und fragte:
„Welches Urteils ist diese würdig?“ Da sprach die falsche Braut:
„Die ist nichts Besseres wert, als daß sie splitternackt ausgezogen
Uund in ein Faß gesteckt wird, das inwendig mit spitzen Nägeln
beschlagen ist, und zwei weiße Pferde müssen vorgespannt
werden, die sie Gasse auf Gasse ab zu Tode schleifen.“ „Das bist
du,“ sprach der alte König, „und hast dein eigen Urteil gefunden
und danach soll dir widerfahren.“ Und als das Urteil vollzogen
war, vermählte sich der junge König mit seiner rechten Gemahlin
und beide beherrschten ihr Reich in Frieden und Seligkeit.
Brüder Grimm.
3. Der verrostete Ritter.
Ein sehr reicher und vornehmer Ritter lebte in Saus und
Braus und war stolz und hart gegen die Armen. Deshalb ließ
ihn Gott zur Strafe auf der einen Seite verrosten. Der linke
Arm verrostete und das linke Bein, ebenso der Leib bis zur Mitte.
Nur das Gesicht blieb frei. Da zog der Ritter an die linke Hand
einen Handschuh, ließ ihn sich am Handgelenk fest zunähen und
legte ihn Tag und Nacht nicht ab, damit niemand sähe, wie
sehr er verrostet sei. Darauf ging er in sich und versuchte einen
neuen Lebenswandel anzufangen. Er entließ seine alten Freunde
und Zechgenossen und nahm sich eine schöne und fromme Frau.
Dieselbe hatte wohl manches Schlimme von dem Ritter gehört;
aber weil sein Gesicht gut geblieben war, glaubte sie es, wenn
sie allein war und darüber nachdachte, nur halb und wenn er
bei ihr war und freundlich mit ihr sprach, gar nicht. Darum nahm
sie ihn doch. Nach der Hochzeit aber merkte sie es, warum er
niemals den Handschuh von der linken Hand abzog und erschrak
heftig.
Sie ließ sich jedoch nichts merken, sondern sagte am anderen
Morgen nur zu ihrem Manne, sie wolle in den Wald gehen um
in einer kleinen Kapelle, die dort stand, zu beten. Neben der
Kapelle aber befand sich eine Klause, in der lebte ein alter Eremit,
der hatte früher lange in Jerusalem gelebt und war so heilig,
daß die Leute von weit und breit zu ihm wallfahrteten. Den
gedachte sie um Rat zu fragen. Als sie nun dem Eremiten
alles erzählt hatte, ging er in die Kapelle, betete dort lange
zur Jungfrau Maria und sagte dann, als er wieder herauskam:
„Du kannst deinen Mann noch erlösen, aber es ist schwer. Fängst
du es an und bringst es nicht zu Ende, so mußt du selbst auch
verrosten. Viel Unrecht hat dein Mann sein Lebtag getan und
stolz und hart gegen die Armen ist er gewesen. Willst du für
ihn betteln gehen, barfuß und in Lumpen wie das allerärmste
Bettlerweib, so lange, bis du hundert Goldgulden erbettelt hast,
so ist dein Mann erlöst. Dann nimm ihn an der Hand, geh
mit ihm in die Kirche und lege die hundert Goldgulden in das
Kirchbecken für die Armen. Wenn du das tust, so wird Gott
deinem Manne seine Sünden vergeben, der Rost wird abgehen
und er wird wieder so weiß werden wie zuvor.“ „Das will
ich tun,“ sagte die junge Ritterfrau, „und wenn es mir noch
so schwer wird und es noch so lange dauert. Ich will meinen
Mann erlösen; denn er ist nur auswendig verrostet, das glaube
ich ganz sicher.“
Darauf ging sie fort, tief in den Wald hinein und nicht
lange, so begegnete ihr ein altes Mütterchen, welches Reisig
suchte. Es hatte einen zerlumpten, schmutzigen Rock an und
darüber einen Mantel, der war aus ebensovielen Flicken zu—
sammengesetzt, wie weiland das Heilige Römische Reich; was
aber die Flicken früher für eine Farbe gehabt, das konnte man
kaum mehr sehen; denn Regen und Sonnenschein hatten schon
viel Arbeit mit dem Mantel gehabt. „Willst du mir deinen Rock
und deinen Mantel geben, alte Mutter,“ sagte die Ritterfrau,
„so schenk' ich dir alles Geld, was ich in der Tasche habe, und
meine seidenen Kleider noch dazu; denn ich möchte gern arm
sein.“ Da sah die alte Frau sie verwundert an und sprach:
„Will's schon tun, will's schon tun, mein blankes Töchterchen,
benn's dein Ernst ist. Hab' schon viel gesehen auf der Welt,
auch viel Leute gefunden, die gern reich werden wollten; daß
aber jemand gern arm werden will, das ist mir noch nicht
vorgekommen. Wird dir schlecht schmecken mit deinen seidenen
Händchen und deinem süßen Frätzchen!“ Aber die Ritterfrau
hatte schon begonnen sich auszuziehen und sah dabei so ernst
und so traurig aus, daß die Alte wohl merkte, daß sie keinen
Scherz treibe. Sie reichte ihr also Rock und Mantel hin, half
ihr sie anlegen und fragte dann: „Was willst du nun tun, mein
blankes Töchterchen?“ „Betteln, Mutter!“ antwortete die
Ritterfrau. „Betteln? Nun, gräme dich nicht darum, das ist
keine Schande! An der Himmelstür wird's auch mancher tun
müssen, der's hier unten nicht gelernt hat. Aber das Bettel⸗
lied will ich dich erst noch lehren:
Betteln und lungern, Habt ihr was, schenkt mir was,
Dursten und hungern Ach, nur ein Häppchen,
Immerdar, allezeit Brot in den Bettelsack,
Müssen wir Bettelleut'. Suppe ins Näpfchen! —
Lederne Ranzen,
Röcke mit Fransen
Tragen wir Bettelleut'.
Was man erbettelt hat,
Wird verjuchheit! —
Nicht wahr, ein hübsches Lied?“ sagte die Alte. Damit
warf sie sich die seidenen Kleider um, sprang in den Busch und
war bald verschwunden.
Die Ritterfrau aber wanderte durch den Wald und nach
einiger Zeit begegnete ihr ein Bauer, der war ausgegangen
eine Magd zu suchen, denn es war um die Ernte und Leutenot.
Da blieb die Ritterfrau stehen, hielt die Hand hin und sagte:
„Habt ihr was, schenkt mir was, ach nur ein Häppchen!“ Aber
die andern Verse sagte sie nicht, weil sie ihr nicht gefielen. Der
Bauer sah sich die Frau an und da er fand, daß sie trotz ihrer
Lumpen schmuck und gesund war, fragte er sie, ob sie nicht bei
ihm Magd werden wolle. „Ich schenke dir zu Ostern einen
Kuchen, zu Martini eine Gans und zu Weihnachten einen Taler
und ein neues Kleid. Bist du damit zufrieden?“ „Nein,“ er—
widerte die Ritterfrau, „ich muß betteln gehen, der liebe Gott
will es so haben.“ Darüber wurde der Bauer zornig, schimpfte
und schmähte und sagte höhnisch: „Der liebe Gott will's so haben,
he? Du hast wohl mit ihm zu Mittag gegessen, was? Linsen
mit Bratwürsten, nicht wahr? Oder bist du vielleicht seine
Muhme, daß du so genau weißt, was er will? Eine faule Haut
bist du! Gut für den Knüttel, zu schlecht für den Büttel!“ Dar—
auf ging er seiner Wege, ließ sie stehen und gab ihr nichts. Da
merkte die Ritterfrau wohl, daß das Betteln schwer sei.
Sie ging jedoch weiter und nach abermals einiger Zeit
kam sie an eine Stelle, wo die Straße sich teilte und zwei Steine
standen. Auf dem einen saß ein Bettler mit einer Krücke. Da
sie nun müde geworden war, gedachte sie sich eine kurze Zeit
auf den leeren Stein zu setzen um auszuruhen. Kaum hatte
sie jedoch dies getan, als der Bettler mit der Krücke nach ihr
schlug und ihr zurief: „Mach', daß du fortkommst, du liederliche
Liese! Willst du mir mit deinen Lumpen und deinem zucker—
süßen Gesicht die Kundschaft abzwicken? Die Ecke hier habe
ich gepachtet. Mach flink, sonst sollst du sehen, was mein Krück—
holz für ein schöner Fiedelbogen ist und dein Rücken für eine
närrische Geige!“
Da seufzte die Ritterfrau, stand auf und ging soweit als
sie die Füße tragen wollten. Endlich kam sie in eine große,
fremde Stadt. Hier blieb sie, setzte sich an den Kirchweg und
bettelte und nachts schlief sie auf den Kirchenstufen. So lebte
sie tagaus tagein und es schenkte ihr der eine einen Pfennig
und der andere einen Heller; manche aber auch gaben ihr nichts
oder schimpften gar, wie es der Bauer getan hatte. Es ging
aber sehr langsam mit den hundert Goldgulden. Denn als sie
dreiviertel Jahr gebettelt hatte, hatte sie erst einen Gulden er—
spart. Und genau wie der erste Gulden voll war, gebar sie einen
wunderschönen Knaben, den nannte sie „Docherlöst“, weil sie
hoffte, daß sie ihren Mann doch noch erlösen würde. Sie riß
sich von ihrem Mantel unten einen Streifen ab, eine gute Elle
breit, so daß der Mantel nur noch bis an die Kniee reichte,
wickelte das Kind hinein, nahm es auf den Schoß und bettelte
weiter. Und wenn das Kind nicht schlafen wollte, wiegte sie
es und sang:
„Schlaf ein auf meinem Schoße,
Du armes Bettelkind;
Dein Vater wohnt im Schlosse —
Und draußen weht der Wind.
Er geht in Samt und Seide,
Trinkt Wein, ißt weißes Brot,
Und säh' er so uns beide,
So härmt' er sich zu Tod.
Er braucht sich nicht zu härmen,
Du liegst ja weich und warm;
Er ist ja noch viel ärmer;
Daß Gott sich sein erbarm'!“
Da blieben oft die Leute stehen und besahen sich die arme, junge
Bettelfrau mit dem wunderschönen Kinde und schenkten ihr
mehr wie früher. Sie aber war getrost und weinte nicht mehr;
denn sie wußte, daß sie ihren Mann gewiß erlösen würde, wenn
sie nur ausharrte.
Als aber die Frau nicht wieder zurückkehrte, ward der
Ritter auf seinem Schlosse tief betrübt; denn er sagte sich: Sie
hat alues gemerkt und dich deshalb verlassen. Er ging zuerst in
den Wald zu dem Eremiten um zu hören, ob sie in der Kapelle
gewesen sei und dort gebetet habe. Aber der Eremit war sehr
kurz angebunden und streng gegen ihn und sagte: „Hast du nicht
in Saus und Braus gelebt? Bist du nicht stolz und hart gegen
die Armen gewesen? Hat dich nicht der liebe Gott zur Strafe
verrosten lassen? Deine Frau hat ganz recht getan, wenn sie
dich verließ. Man muß nicht einen guten und einen faulen
Apfel in einen Kasten legen, sonst wird der gute auch faul.“
Da setzte sich der Ritter auf die Erde, nahm den Helm ab und
weinte bitterlich. Als der Eremit dies gewahr wurde, ward
er freundlicher und sprach: „Da ich sehe, daß dein Herz noch
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nicht mitverrostet ist, so will ich dir raten: Tue Gutes und gehe
in alle Kirchen, so wirst du deine Frau wiederfinden.“
Da verließ der Ritter sein Schloß und ritt in alle Welt.
Wo er Arme fand, schenkte er ihnen etwas, und wenn er eine
Kirche sah, ging er hinein und betete. Aber seine Frau fand
er nicht. So war fast ein Jahr vergangen, da kam er auch in
die Stadt, wo seine Frau am Kirchweg saß und bettelte, und sein
erster Weg war in die Kirche. Schon von weitem erkannte ihn
die Frau; denn er war groß und stattlich und trug einen gol⸗
denen Helm mit einer Geierklaue auf dem Knauf, der weithin
leuchtete. Da erschrak sie; denn sie hatte erst zwei Goldgulden
zusammen, so daß sie ihn noch nicht erlösen konnte. Sie zog
sich den Mantel tief über den Kopf, damit er sie nicht erkennen
sollte, und kauerte sich so eng zusammen, als sie irgend konnte,
damit er nicht ihre schneeweißen Füße sähe; denn der Mantel
ging ihr nur bis an die Kniee, seit sie den Streifen für das
Kind abgerissen hatte. Als aber der Ritter an ihr vorbeischritt,
hörte er sie leise schluchzen und als er ihren zerlumpten und
geflickten Mantel sah und das wunderschöne Kind auf ihrem Schoß,
welches ebenfalls nur in Lumpen gewickelt war, tat es ihm in
der Seele weh. Er trat an sie heran und fragte sie, was ihr fehle.
Doch die Frau antwortete nicht und schluchzte nur noch mehr,
so sehr sie sich auch Mühe gab es zu verbeißen. Da zog der
Ritter seine Geldtasche hervor, in der viel mehr waren als
hundert Goldgulden, legte sie ihr auf den Schoß und sagte:
„Ich gebe dir alles, was ich noch habe, und sollte ich mich nach
Hause betteln.“
Da fiel der Frau, ohne daß sie es wollte, der Mantel vom
Kopf herunter und der Ritter sah, daß es sein eigenes, ange⸗
trautes Eheweib war, der er das Geld geschenkt hatte. Trotz
der Lumpen fiel er ihr um den Hals und küßte sie und als er
vernahm, daß das Kind sein Sohn sei, herzte und küßte er es auch.
Doch die Frau nahm ihren Mann, den Ritter, an der Hand,
führte ihn in die Kirche und legte das Geld auf das Kirchbecken.
Dann sagte sie: „Ich wollte dich erlösen; aber du hast dich selbst
erlöst.“ Und so war es auch; denn als der Ritter aus der Kirche
trat, war der Fluch gehoben und der Rost, der seine ganze
linke Seite bedeckte, verschwunden. Er hob seine Frau mit dem
Kinde auf sein Pferd, ging selbst zu Fuß daneben und zog
mit ihr zurück in sein Schloß, wo er lange Jahre glücklich mit
ihr lebte und so viel Gutes tat, daß ihn alle Leute lobten.
Die Bettlerlumpen aber, die seine Frau getragen hatte,
hing er in einen kostbaren Schrein und jeden Morgen, wenn
er aufgestanden war, ging er an den Schrein, besah sich die
Lumpen und sagte: „Das ist meine Morgenandacht, die nimmt
mir der liebe Gott nicht übel; denn er weiß, wie ich's meine,
und ich gehe nachher doch noch in die Kirche.“
Richard von Volkmann⸗Leander.
4. Der Schlangenkönig.
Es waren einmal drei kleine Mädchen, die hüteten an
einem Teiche die Gänse. Dieser grenzte an den Wald und sonst
war rings herum grünes Wiesenland, in dem einige mächtige
alte Eichen verteilt standen und um die heiße Mittagszeit kühlen
Schatten spendeten. Zwei von diesen Mädchen waren Bauern—
töchter und hüteten die eigenen Gänse ihrer Väter; sie trugen
gute Kleider und weiße Schürzen, Zwickelstrümpfe und schöne
feste Lederschuhe und hatten gestickte Käppchen auf dem Kopfe;
das dritte dagegen war das Kind einer armen Taglöhnerswitwe
und mußte den ganzen Sommer barfuß laufen. Sein Röcklein
war wohl sauber, allein von dürftigem Stoff und vielfach geflickt;
darüber trug es eine schlechte Schürze von grauer Leinwand
und um den Kopf ein blaues, verwaschenes Tüchlein. Obgleich
es nun ein stilles, bescheidenes und hübsches Kind war, ward
es doch von den beiden anderen gar häßlich behandelt; denn
diese dünkten sich in ihrer besseren Kleidung und als die Töchter
von reichen Bauern viel vornehmer als das Bettelkind, wie sie
es nannten, und waren nur freundlich gegen die kleine Gänse—
hirtin, wenn sie ihre Hilfe brauchten. Denn diese war sehr ge—
schickt und anstellig in allen Dingen; die Gänse des Teichbauers,
die sie hütete, gediehen am besten von allen im Dorfe und zu
jeder Handarbeit hatte sie flinke und kluge Finger, so daß es
unter den übrigen Dorfkindern hieß: „Die Gänsegrete kann
Lesebuch für Höhere Mädchenschulen. J. 2
alles!“ Dabei war sie so guten und hilfreichen Sinnes, daß,
wenn sie auch eben noch über die Unfreundlichkeit und Härte
der anderen einsam hinter dem Weidenbusch bittere Tränen
vergossen hatte, sie doch sofort bereit war, der einen das ver—
wirrte Strickzeug in Gang zu bringen oder der anderen die
Haare zu flechten oder sonst Dienste zu leisten, wofür ihr kein
Dank wurde. Und ob die anderen sie verspotteten und auf
mancherlei Art quälten und schlecht behandelten, so ließ sie
doch nicht nach, sich ihnen gefällig zu erweisen, und war schon
zufrieden, wenn sie nur in ihrer Nähe geduldet wurde und sich
hilfreich erzeigen konnte.
Einmal zur heißen Mittagszeit lagen die beiden Bauern⸗
töchter im Schatten einer Eiche und schliefen, während Grete
auf die Gänse achten mußte. Sie hatte sich mit ihrem Strick—
strumpf an den Waldrand gesetzt, wo das Ufer steiler anstieg
und trocken und sandig war. Es wuchs dort spärliches Gras
und Heidekraut und wilder Thymian, der in runden, kissenartigen
Flächen zusammenstand und süßen Duft verbreitete. Indes
nun alles ringsum still war, als ob es schliefe, und kaum etwas
vernehmlich, als ein schläfriges Summen der nie rastenden
Bienen, da hörte Grete plötzlich ein leises, schlängelndes Ra⸗
scheln, das durch das spärliche Gras näher kam. Sie heftete
die Augen aufmerksam in jener Richtung auf den Boden und
auf einmal funkelte und blitzte es aus dem Grase hervor wie
heller Feuerschein. Dieser Glanz kam aber von einer kleinen
goldenen Krone, die auf dem Kopfe einer weißen Schlange
saß. Das Tier richtete sich ein wenig auf und schaute mit den
listigen Auglein nach allen Seiten um sich, ohne Grete zu be—
merken. Dann glitt es hinter einen Busch Thymian und als
es an der anderen Seite wieder zum Vorschein kam, war das
Krönlein verschwunden. Die Schlange aber lief zum Teich hinab,
in dessen Gewässer sie behaglich umherschwamm, bis Grete
sie aus den Augen verlor. Grete hätte nun wohl gern nach—
gesehen, was aus dem goldenen Krönlein geworden sei; allein
sie wagte es nicht, weil sie die Furcht, die Schlange möchte
zurückkommen, davon abhielt. Nach einer Weile stieg diese auch
wieder ans Land und begab sich wieder hinter den blühenden
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Thymian. Als sie an der anderen Seite zum Vorschein kam,
hatte sie die Krone wieder auf dem Kopfe und glitt eilfertig
durch das raschelnde Gras dem Walde zu.
Grete erzählte hernach den beiden anderen Mädchen
dieses Ereignis; da sagte das eine: „Das war der Schlangen—
könig. Wenn er sich baden will, da legt er vorher seine Krone
ab. Das hat meine Großmutter mir erzählt. Wenn man den
Ort weiß, wo er zu baden pflegt, so muß man dort ein weißes
Tuch oder eine Schürze ausbreiten, denn das hat er gern und
legt seine Krone darauf. Dann muß man schnell mit ihr davon—
laufen, bis man über ein fließendes Wasser kommt. Da hin—
über kann er nicht folgen. Denn wenn er merkt, daß seine Krone
fort ist, da pfeift er und ruft alle die anderen Schlangen in
der Gegend zusammen, damit sie den Kronendieb verfolgen.
Das ist schon manchem schlecht bekommen, der sich nicht recht—
zeitig in Sicherheit bringen konnte.“
Am andern Morgen in der Frühe wuschen die Mädchen
ihre Schürzen im Teich und trockneten sie in der Sonne; denn
sie hatten beschlossen zu versuchen, ob sie nicht die Krone des
Schlangenkönigs zu erlangen vermöchten. Um die Mittags—
zeit breiteten die beiden Bauerntöchter ihre schneeweißen Schürzen
neben dem blühenden Thymian aus; doch als Grete ihre grobe,
graue daneben legen wollte, da litten sie es nicht und verhöhnten
sie und spotteten ihrer und fragten, ob sie denn wirklich glaube,
daß der Schlangenkönig seine Krone auf den häßlichen, grauen
Lappen legen werde. Grete ging still weinend beiseite und
mußte ihre Schürze ganz am Ende des Raines ausbreiten, wo
wohl wenig auf einen Erfolg zu hoffen war. Dann verbargen
sich alle hinter den Büschen und warteten. Es dauerte eine
Weile, da raschelte es wieder in dem dünnen Grase und kam
allmählich näher. Da nun der Schlangenkönig die weißen Schür—
zen bemerkte, glitt er herzu, hob seinen Kopf ein wenig und
betrachtete sich, indes das gespaltene Zünglein schnell aus und
ein ging, die, die ihm zunächst lag. Sie schien ihm nicht zu ge—
fallen; denn er glitt über eine Ecke des weißen Zeuges hinweg
zur nächsten hin und betrachtete sie ebenfalls prüfend. Diese
schien ihm mehr zuzusagen; denn er begab sich hinauf, ringelte
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sich zusammen und lag eine Weile ganz still im Sonnenscheine
da. Dann hob er plötzlich Kopf und Hals hoch empor, denn
eines der Mädchen hatte zufällig ein Geräusch gemacht, und
blickte nach allen Seiten umher. Dabei fiel ihm die dritte Schürze
in die Augen und unverweilt schlängelte er sich durch das Gras
dorthin. Obwohl diese nun die grobe, graue der armen Grete
war, so schien er doch ein großes Wohlbehagen daran zu finden;
denn er wälzte und schlängelte sich wie in hohem Vergnügen
darauf umher und plötzlich hatte er seine Krone abgestreift und
lief dem Teiche zu, wo er im Wasser verschwand. Darauf sprang
Grete freudig und schnell herzu, schlug die Schürze über dem
blitzenden Krönlein zusammen und rief, indem sie davonlief:
„Kommt schnell, ehe es zu spät ist!“ Nun eilten auch die anderen
verdrießlich hinter den Büschen hervor, nahmen ihre Schürzen
und folgten ihr. Jedoch der Schlangenkönig kam wie ein Pfeil
aus dem Wasser hervorgeschossen und begann so hell und durch⸗
dringend zu pfeifen, daß es durch den ganzen Wald schallte.
Indes nun die Mädchen rannten und das kleine Quellwasser
zu gewinnen suchten, das sein spärliches Geriesel in den Teich
ergoß, raschelte und zischte es gar grausig von allen Seiten
durch das Gras und Kraut von Hunderten von Schlangen,
die auf den Ruf ihres Königs eiligst herzukamen. Jedoch ge⸗
lang es den Mädchen noch rechtzeitig über das fließende Wasser
zu springen, also daß sie sich der Rache des beraubten Schlangen⸗
königs glücklich entzogen.
Als nun die anderen Mädchen den erworbenen Schatz
betrachteten und gewahr wurden, wie überaus zierlich und
fein dieses Krönlein gearbeitet war und wie es in seiner Mitte
einen funkelnden, blauen Stein von ganz seltsamem Glanze
trug, da ward ihre Mißgunst und ihr Neid noch größer denn
zuvor und sie hätten der glücklichen Grete das köstliche Besitz⸗
tum gern abgeschwatzt. Doch so gut und fügsam diese auch sonst
war, so blieb sie diesmal doch fest und hielt allen Drohungen,
Bitten und Schmeicheleien stand. Ja, als ihr die eine ihr güldenes
Sonntagskettlein mit dem Korallenherzen und die andere ihren
Ring mit dem hellblauen Stein dafür versprach, schüttelte sie
nur mit dem Kopfe und hielt die Hand fest auf der Tasche, in
der sie den Schatz barg. Sie lagen ihr in den Ohren, bis die
Zeit kam, die Gänse nach Hause zu treiben; allein sie erreichten
nichts und mußten ohne das Krönlein abziehen.
Die arme Witwe war hoch erfreut, als ihr Grete zeigte,
was sie mitgebracht hatte. „Das ist ein herrlicher Schatz,“ sagte
sie, „nun hat alle unsere Not ein Ende.“ Nachdem sie wohl
eine Stunde lang das zierliche Ding besehen und hin und her
gedreht und im Lichte der Lampe hatten funkeln lassen, ward
es sorglich eingewickelt und in die Truhe geschlossen. Danach
gingen Mutter und Tochter zu Bette. In der Nacht erwachten
beide von einem leisen, pfeifenden Getön und waren ver—
wundert, die Kammer von einer milden Helligkeit erfüllt zu
finden, obgleich der Mond gar nicht am Himmel stand. Dieser
Schein aber kam von dem Schlangenkönig her, der auf dem Fuß⸗
boden lag und leuchtete, als sei er aus lauter Mondschein ge—
formt. Er sprach, indem er sein Haupt erhob, mit feiner, silberner
Stimme: „Gebt mir mein Krönlein zurück, ich will es euch kost⸗
bar lohnen! Es wird eine sonderliche Blume in eurem Garten
wachsen, dergleichen ihr noch nie gesehen habt. Wenn ihr dort
nachgrabet, so werdet ihr einen großen Schatz finden. Nicht
eher begehr' ich das Krönlein zurück, als bis sich dieses als Wahr⸗
heit erwiesen hat. Versäumt ihr aber dann meinen Wunsch
zu erfüllen, so wird euch großes Unglück treffen!“ Nachdem der
Schlangenkönig diese Worte gesagt hatte, glitt er hinter den
Ofen und verschwand.
Grete und ihre Mutter konnten vor Aufregung und Er⸗
wartung die ganze Nacht nicht mehr schlafen. Kaum graute der
Morgen, da waren sie schon in dem taufeuchten Garten und
suchten nach der verheißenen Blume. Ob sie aber gleich jeden
Winkel durchstöberten, so vermochten sie doch nichts Auffallendes
zu finden und wollten schon verzagen, als sich plötzlich, kaum
daß die Sonne ihren ersten Funkenblitz über den Horizont ge—
worfen hatte, ein seltsam melodisches Klingen in der Luft erhob
und ein gewürziger Duft den ganzen Garten erfüllte. Zugleich
tat sich unter dem großen Apfelbaum das Erdreich ein wenig
auf und ein leuchtend grüner Keim schoß hervor, der alsbald
seine Blätter entrollte und aus deren Mitte einen Blütenstengel
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mit drei goldenen Knospen emportrieb. Das Klingen in der
Luft schwoll an und der Duft verstärkte sich, als sich diese Knospen
voneinander taten und drei Blumen entfalteten, die genau
dem Krönlein des Schlangenkönigs glichen und gleich diesem
in der Mitte wie blaue Sterne leuchteten. Aber kaum hatten
sich diese zu höchster Pracht aufgetan, als sie auch schon die
Köpfe hängen ließen, so daß bald nur noch der verwelkte Pflanzen⸗
stengel dastand. An dieser Stelle grub nun die Frau und stieß
bald auf einen großen Topf, der mit goldenen Münzen und
kostbaren Edelgesteinen bis zum Rande angefüllt war, so daß
sie auf einmal viele Reichtümer besaß. Noch am selbigen Tage
brachte Grete dem Schlangenkönig seine Krone zurück. Ihre
Mutter, die den reichen Fund niemand mitteilte, verkaufte
bald darauf ihr kleines Anwesen an einen benachbarten Bauern,
der zur Abrundung seines Gutes schon lange danach getrachtet
hatte, und zog mit Grete in eine entfernte Stadt, wo sie in einem
schönen Gartenhäuschen in behaglicher Wohlhabenheit wohnte
und ihre Tochter in allen guten Dingen unterrichten ließ, so daß
aus der kleinen Gänsehirtin ein kluges und schönes Mädchen
ward, das später ein vornehmer, junger Mann zu seiner Gattin
erwählte.
So ward sie die Stammmutter eines blühenden und
wohlhabenden Geschlechts, dessen Nachkommen noch heute be—
stehen und in ihrem Wappen eine silberne, gekrönte Schlange
und zwei goldene Gänse führen.
Heinrich Seidel.
z. Die Hühnerburg.
Es war einmal Kirmeszeit, wo die Menschen den großen
Appetit bekommen und so viele Tiere auf einmal schlachten.
Da kam eines Tages die Köchin eines Gutes auf den Hühnerhof
und besah sich die Hühner und aus ihren Reden hörten die, daß
am nächsten Morgen sieben von ihnen in den Bratpfannen
schwißen sollten. Da entstand große Trauer; denn keines war
sicher, daß es nicht zu den sieben gehörte, und niemand wußte,
wie das drohende Unheil abzuwenden sei. In ihrer Not gingen
endlich ein paar junge Hähne zu dem Hofhund, Flaps mit Namen,
welcher ein guter Freund von ihnen war, und klagten ihm ihr
Leid. „Warum bleibt ihr denn hier?“ sagte der. „Wenn ihr
Courage habt, so macht euch davon.“ „Ach ja,“ seufzten die
jungen Hähne, „wer doch Courage hätte! Aber du hast auch
keine, sonst lägest du nicht den ganzen Tag an der Kette und
ließest dich von den Kindern foppen. Woher sollen denn wir
sie nehmen?“ „Eh,“ sprach der Hofhund, „man hat sein gutes
Auskommen so. Aber wenn ihr wollt, so gehen wir zusammen
und lassen uns irgendwo nieder. Füttern freilich müßt ihr mich,
das sage ich euch gleich.“ Da bekamen die jungen Hähne mit
einem Male Courage, liefen in den Hühnerhof und überredeten
alle Hühner, mit ihnen und Flaps zusammen die Flucht zu wagen.
Als es dunkel war und Flaps von der Kette losgelassen, ging er
in den Hühnerhof, schob den Riegel von der Stalltür und ließ
alles hinaus und nun machte sich die ganze Gesellschaft so still
als möglich unter dem Hoftor hindurch in das Freie. Seelen—
vergnügt flogen und wanderten sie darauf während der Nächte
über Felder, fraßen Getreide von den AÄhren, die noch standen,
oder von den Stoppeln und wenn Flaps Hunger bekam, so
legten sie ihm schnell ein paar Eier. In menschenarmen Ge—
genden zogen sie auch des Tages vorwärts; aber wo Gefahr
war, rasteten sie und verbargen sich bis nach Sonnenuntergang.
Die Köchin aber, die früh in den Hühnerstall schlachten ging,
fiel vor Schrecken in Ohnmacht, als sie alles leer fand, und man
mußte sie unter die Pumpe legen und einen ganzen Eimer
Wasser über sie pumpen, ehe sie wieder zu sich kam.
Die Gesellschaft gelangte auf ihrer Wanderung in eine
kahle Heide und nachdem sie zwei Tage und zwei Nächte ge—
wandert waren, ohne Spuren von Menschen zu sehen, stießen
sie auf ein verfallenes Haus, dessen Tür offen stand. Flaps
durchsuchte es und da er nichts Verdächtiges darin finden konnte,
beschlossen sie sich darin niederzulassen und eine feste Burg
daraus zu machen, damit sie gegen alle Gefahr gesichert wären.
Sie stopften alle Lücken mit Grasbüscheln und bauten einen
Wall von großen und kleinen Steinen rings herum. Ein Teil
aber mußte weithin ausfliegen und Getreide sammeln, das
schütteten sie auf dem Boden für den Winter auf und im Früh—
jahr säten sie den Rest aus, der wuchs und wurde ein großes
Getreidefeld. So lebten sie ein ruhiges, vergnügtes Dasein
und Merx, der Wächter, nämlich ein alter Hahn, der auf dem
Schornstein seinen Sitz hatte und das Warnungssignal geben
sollte, wenn er etwas sah, was ihm nicht geheuer dünkte, schlief
schon zuweilen vor Altersschwäche und Langeweile ein, weil
er gar nichts zu tun bekam, und Flaps, der die Verteidigung
der Burg übernommen hatte und die erste Zeit sehr pflicht⸗
getreu innerhalb des Walles und auf demselben herumgetrabt
war, wußte jetzt meistens auch nichts Besseres anzufangen.
Eines Abends aber, zur Zeit des ersten Schnees, sagte
es in einer Ecke des Futterbodens „piep“. Zur selben Zeit
waren zwei alte Hennen auf dem Boden um ein paar Körnchen
zu sich zu nehmen, und die eine hörte es. „He,“ sprach sie, „was
ist das? Wir haben doch um jetzige Zeit keine Eierkinder mehr?
Dort piepte etwas in der Ecke.“ Eben piepte es wieder. „Es
ist auch eine andere Art piep,“ meinte leise die zweite. Als
sie hinzuschlichen, sahen sie zwei Mäuse sitzen; der Mauspapa
putzte sich den Bart, aber die Mausmama fraß Körner und
das war das Gefährliche. „Ihr da,“ rief die eine Henne, „das
ist unser Getreide; den Winter wollen wir euch mit durchfüttern,
aber im Frühjahr hört das auf und ihr macht, daß ihr fortkommt!“
„Piep!“ sagten die Mäuse und weg waren sie. Die Hennen
erzählten das, aber man sorgte sich nicht weiter darum. Eines
Tages indessen hatte die Mausmama sieben Junge, sieben
nackte, winzige Mäusejunge. Und es kam eine Zeit, da pfiff
es in allen Ecken des Bodens, hinter allen Balken waren Löcher
und im nächsten Winter nahmen die Getreidevorräte so rasch
ab, daß man sah, es würde gar keine Aussaat bleiben. Nun war
in der Hühnerburg guter Rat teuer. Zwar fiel manche Maus
einem wohlgezielten Schnabelhiebe zum Opfer; aber die Mäuse
wehrten sich auch und bissen nach den Beinen. Und alles in
allem wurden ihrer immer mehr statt weniger.
Da beschlossen die Burgleute drei weise Hähne auszusenden,
ob sie nicht irgendwo ein Mittel fänden, um die Mäuse zu ver—
tilgen. Die drei Hähne zogen den ganzen Tag und sahen nichts,
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was da hätte helfen können. Gegen Abend kamen sie an wildes
Gestein mit vielen Löchern und Klüften und verabredeten, sich
hier ihres Alters halber in der Nacht Ruhe zu gönnen. Sie setzten
sich also in eine Kluft, steckten den Kopf unter die Flügel und
schliefen ein. Mitten in der Nacht wachten sie auf; denn sie hörten
große Flügel schlagen und wie etwas dicht bei ihnen schrie:
„Huhu! huhu!“ Und als sie die Köpfe aus der Kluft reckten,
saß da eine große Eule, die klappte die Flügel auf und nieder
und ihre Augen rollten wie glühende Feuerräder im Kopfe.
„Mäuse her!“ schrie sie Huhu! Mäuse her!“ Die drei Hähne stießen
sich an und einer sagte: „Das ist ein Wink des Himmels.“ Und als die
Eule immerfort schrie, faßte der eine sich ein Herz und rief: „Mäuse
soviel du magst, ein ganzes Haus voll, wenn du mit uns kommen
willst.“ „Wer seid ihr?“ fragte die Eule und leuchtete mit ihren
Feueraugen in die Kluft. „Wir kommen aus der Hühnerburg, wo
tausend Mäuse unser Korn fressen.“ „Ich komme mit,“ sagte
die Eule und schnalzte mit dem Schnabel, „ich komme mit.“
In der Frühe saßen alle Hühner schon auf dem Boden
und horchten, ob Merx auf seinem Schornstein noch kein Zeichen
gäbe. Mit einem Male rief der „Kikeriki — da kommen sie!“
„Was bringen sie denn?“ „Einen Vogel, der keinen Hals hat.“
Nun flogen die drei VBoten mit der Eule zum Schornstein herein.
„Ich rieche Mäuse, Mäuse!“ schrie die und fuhr auf dem Boden
herum und bald hatte sie eine in den Klauen. Jetzt waren alle
Hühner zufrieden und sprachen: „Die wird's schon machen.“
Ein paar Tage ging es auch recht gut. Aber da merkten die Mäuse,
daß die Eule bloß des Nachts gut sehen konnte, bei Tage aber
schlecht und am allerschlechtesten am Mittag, wenn die Sonne
gerade in die Bodenfenster schien. Nun kamen sie bloß um diese
Zeit zum Vorschein und scharrten so viel Korn in ihre Löcher,
daß sie bis zum nächsten Tage genug hatten. Eines Nachts fand
die Eule auf dem Boden nichts zu fressen bis früh, ausgenommen
ein paar Hühnereier, die schlug sie auf und entdeckte, daß sie
besser schmeckten als die fettesten Mäuse, und sie tat jetzt nichts
mehr als das Haus nach Eiern zu durchfliegen. Die Hühner
merkten das und die drei alten Hähne gingen endlich zu der
Eule und sagten, sie möchte nur wieder abziehen, zum Eierfressen
brauchten sie niemand. „Eier her!“ schrie die Eule sie an. „Eier
her oder ich hacke euch allen die Augen aus!“ Und damit wetzte
sie ihren krummen Schnabel, daß die drei Hähne vor Angst zum
Schornstein hinausflogen. Unten trafen sie Flaps, der auf dem
Walle lag. „Nun,“ fragte der, „sind die Mäuse bald alle gefressen?“
„Ach,“ sprach ein Hahn, „der Dickkopf frißt gar keine, sondern
bloß Eier und wenn wir ihm keine Eier bringen, will er uns die
Augen aushacken.“ „Wartet bis Mittag,“ sagte der Hund, „dann
bring ich ihn um.“ Als es Mittag war, klinkte Flaps die Türe
auf und lief auf den Boden, dort fand er die Eule in einer Ecke
sitzen, die knackte mit dem Schnabel, als er herankam, und klappte
die Augenlider auf und zu. „Bist du der Räuber, der hier
die Augen aushacken will?“ sagte Flaps. „Du mußt sterben.“
„Augen will ich haben,“ fauchte die Eule, „Hundeaugen,“ und
damit hackte sie nach ihm. Mit einem Schnapp hatte zwar Flaps
sie zwischen den Zähnen; aber ehe sie tot war, hatte sie ihm
richtig ein Auge ausgehackt. „Schadet nichts,“ sprach Flaps,
„ich habe die Burg gerettet und mehr als ein Auge braucht
man nicht zum Sehen.“ Und die Hühner feierten ein großes
Freudenfest, das einen ganzen Tag lang dauerte.
Aber die Mäuse waren noch immer da und die drei weisen
Hähne mußten sich zum zweiten Male auf den Weg machen
um Hilfe gegen sie zu suchen. Sie flogen einen Tag und eine
Nacht und hatten immer noch nichts gefunden; da, gegen Morgen,
kamen sie in einen dicken Wald und als die Sonne aufging,
gewahrten sie auf einer Waldwiese ein rotes Tier, das vor einem
Mauseloche stand. Das war ein Fuchs. Nicht lange, so fuhr
der Fuchs zu und hatte eine Maus erwischt. „Gott sei Dank,“
sagte er, „man hat doch wenigstens noch ein Frühstück, nachdem
man sich die liebe Nacht umsonst geplagt hat.“ „Hört ihr's?“
frohlockte der eine Hahn. „Er ist ganz glücklich, daß er eine Maus
gefangen hat. Das ist der rechte.“ — „Heda,“ rief er vom
Baume herunter, „Mausfresser, du kannst einen ganzen Boden
voll solcher Kahlschwänze haben, wenn du mit uns gehen willst!
Aber du mußt uns versprechen, daß du nicht statt der Mäuse
unsere Eier speisen willst.“ „Nicht um die Welt fräße ich Eier,“
sagte der Fuchs und blinzelte zu dem Baum hinauf. „Wo kommen
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Sie denn her, meine schönen Herren?“ „Wir wohnen in der
Hühnerburg, die niemand kennt, nur die Mäuse, die uns das
Korn wegfressen.“ „Ei, ei,“ sprach der unten und leckte sich die
Zähne, „da gibt es wohl noch mehr solche schöne Hühnerchen?“
„Natürlich, die ganze Burg voll.“ „O, so kommen Sie,“ rief
der Fuchs und verdrehte die Augen, „und wenn zehntausend
Mäuse auf dem Boden wären, sie sind allzumal Kinder des
Todes! Sie wissen gar nicht, edle Herren, welch ein Lecker⸗
bissen solch eine Maus ist.“
Diesmal mußten die Hühner in der Burg bis zum Abend
warten, ehe Merx auf dem Schornstein seinen Spruch tat. End—
lich aber rief er wieder: „Kikeriki — da kommen sie!“ „Was
bringen sie denn?“ „Einen feinen Junker mit vier Beinen,
der einen roten Pelz anhat.“ Als der Fuchs an den Wall kam,
schnupperte er und sagte: „Es riecht nach Hunden, die können
mich nicht leiden.“, Du brauchst dir deshalb keine Sorge zu machen,“
sprachen die Hähne, „es ist nur einer da, nämlich unser Geselle
Flaps, und der bleibt immer draußen vor der Burg und freut
sich mit uns, daß du die Mäuse fressen willst.“ Der Fuchs wollte
zwar erst nicht in die Tür, welche Flaps mit brummigem Gesicht
aufklinkte; aber als er so viele Hühner in den Fenstern gucken
sah, lief ihm vor Begier das Wasser im Maule zusammen und
er schlüpfte schnell hindurch und kletterte auf den Boden. Er war
sehr artig gegen alle Hühner, am meisten aber gegen die alten
Hennen, und man pries sich glücklich wegen eines so feinen Not⸗
helfers, besonders als der auch gleich hintereinander vier Mäuse
fing. In der Nacht, als alles schlief, schlich der Fuchs in die Stube,
wo die jüngsten und fettesten Hühner saßen, und biß zwei jungen
Hähnen die Hälse ab, ehe sie mucksen konnten. Danach begab
er sich an ein Fenster, öffnete es leise ein wenig, ließ die Hähne
hinunter und verriegelte rasch noch die Haustür, worauf er sich
zu den alten Hühnern hinüber machte und sie weckte.
Er stöhnte so, daß alles fragte, was ihm denn fehle. „Ach,“
sagte er, „was haben meine Augen mit ansehen müssen! Der
Hund, den ihr draußen vor eurer Burg herumlaufen laßt, ist
in das Haus geschlichen und in der Stube der lieben Jugend
drüben biß er schnell wie der Blitz zwei Hähne tot, die so schön
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waren wie Engel. Zufällig verfolgte ich eine Maus die Treppe
hinunter und so kam ich dazu, wie der Räuber sich mit seiner
Beute davon machte. Kommt nur mit, ihr sollt sehen, daß ich
wahr gesprochen habe.“ Er führte die Erschrockenen hinüber
an das Fenster und da erblickten sie Flaps, wie er vor den toten
Hühnern stand und sie beschnupperte. „Wer hätte das gedacht!“
jammerten die alten Hennen. „Ja,“ sagte der Fuchs, „ihr könnt
mir danken, daß ich die Tür verriegelt habe. Ich rate euch: gebt
ihm den Laufpaß und setzt mich an seine Stelle, ich will euch
ganz anders hüten.“ „He, aufgemacht,“ schrie Flaps an der
Tür, „da habt ihr euch wieder eine schöne Zuchtrute aufgebunden.“
Aber wie er auch rüttelte, niemand schob den Riegel weg. „Ach,“
sagte Flaps, „sie werden am Ende gar alle schon tot sein!“ Er
kratzte an einer Mauer ein verstopftes Loch auf, kroch hindurch
und kam eben zurecht um zu hören, wie die alten Hennen ver—
langten, daß man ihm keine Eier mehr geben und die Burg ver—
riegelt halten sollte, damit er vor Hunger entweichen müßte.
Im Eifer hörte niemand die Tritte des Hundes, der faßte mit
einem Satz den Fuchs beim Kragen, daß dem zuerst Hören und
Sehen verging, dann versuchte der Ertappte sich zu wehren und
erwischte noch kurz vor seinem Ende ein Ohr des Hundes, das
er bis zur Wurzel abzwickte. „Das Ohr ist hin, aber der Räuber
auch,“ sagte Flaps, als der Fuchs mausetot dalag. „Für euch
undankbare Narren bin ich mit einem Ohr schön genug. So
lange bin ich euer guter Geselle gewesen und nun glaubt ihr
diesem hergelaufenen Bösewicht, daß ich auf meine alten Tage
ein Mörder geworden wäre.“ Da schämten sich alle, die für
den Fuchs Partei genommen hatten, und baten Flaps ihr Un—
recht ab und das Freudenfest, das sie jetzt über ihre Erlösung
feierten, war noch großartiger als das erste und dauerte zwei Tage.
Aber die Mäuse waren nicht minder froh, daß der Fuchs
tot war, denn nun hatten sie wieder freies Spiel. Was war zu
tun? Die weisen Hähne mußten zum dritten Male ausziehen
und diesmal wollten sie recht vorsichtig sein. So flogen sie denn
noch länger als früher, weil sie ein paar Katzen und eine Korn—
weihe nicht einladen wollten; „denn,“ sprachen sie unterein—
ander, „mit vierbeinigen und zweiflügligen Geschöpfen haben
wir schon Unglück gehabt.“ Sie gelangten in die Nähe eines
Dorfes, da lag auf einem Feldrain ein Slowak mit Mäusefallen.
„Ach,“ seufzte der, „meine Mäusefallen sind so gut, daß sie der
Herrgott nicht besser machen könnte, und ich habe doch heute
noch nicht eine verkauft!“ „Glück zu!“ sagten die Hähne, welche
das gehört hatten. „Das ist unser Mann; er hat weder vier Beine
noch zwei Flügel, mit dem sind wir gewiß nicht betrogen.“
Und nun machten sie dem Slowaken ihren Antrag. Der
lachte vergnügt und machte sich gleich mit ihnen auf den Weg.
„Kikeriki — da kommen sie!“ rief Merx am zweiten Morgen auf
seinem Schornstein. „Was bringen sie denn?“ „Einen schwarzen
Teufel mit kleinen Gitterhäuschen.“ Der Slowak wurde nun
auf den Boden geführt und weil er gerade von seiner letzten
Mahlzeit noch etwas Speck bei sich hatte, so schlug er Feuer,
briei ein paar Stückchen auf dürrem Grase und stellte seine
Fallen auf. Richtig, nicht zehn Minuten dauerte es, so saßen
in jeder Falle ein paar Mäuse und die Hühner waren vor Freuden
ganz außer sich. In ihrer Dankbarkeit beschlossen sie etwas ganz
Besonderes zu tun, nämlich jede Henne begab sich zu dem Slo—
waken und legte ihm ein frisches Ei.
Ein paar Tage lang tat der Slowak nichts als Eier essen
und Mäuse fangen. Aber eines Tages war der Speck aufge—
braucht und der Slowak der Eier überdrüssig und ohne etwas
zu sagen, griff er sich das fetteste junge Huhn heraus und drehte
ihm den Hals um. Welch ein Schrecken! Die Hennen erhoben
ein Zetergeschrei und die Hähne krähten ihn vor Zorn dermaßen
an, daß er beinahe taub wurde. „Was wollt ihr Narren?“ schrie
er endlich. „Mit Speck fängt man Mäuse, ich muß Speck haben.“
Und er rupfte das Huhn ein wenig, machte sich ein Feuer und
fing an seine Beute zu braten. Inzwischen hatte Flaps das Ge—
schrei gehört und da es gar kein Ende nahm, ahnte er Unheil
und ging in das Haus. „Ach, das Unglück!“ riefen ihm ein paar
Hähne entgegen, die ihn eben holen wollten. „Der Mörder
hat die junge Kratzfuß umgebracht und sie wird jetzt gebraten.“
„Du bist ein Kind des Todes!“ knurrte Flaps den Slowaken an,
als er auf den Boden kam. „He, Kamerad, das ist noch keine
ausgemachte Sache,“ sprach der Slowak, nahm seinen dicken
Knüttel, den er mitgebracht hatte, und streifte sich die Ärmel
auf. Aber da hatte der zornige Hund auch schon sein Bein
gepackt. Der Slowak schrie und lief zur Treppe, dabei schlug
er mit dem Knüttel wie ein Rasender um sich und das Unglück
wollte, daß er dem armen Flaps ein Bein zerschlug. Der ließ
den Ausreißenden los und dieser rannte nun so schnell er konnte,
und Flaps mit seinen drei Beinen vermochte ihn nicht einzu⸗
holen. „Wartet nur,“ schrie der Slowak von weitem, „das will
ich euch gedenken!“ Und er wurde kleiner und kleiner auf der
Heide, bis er verschwand.
Diesmal feierten die Hühner kein Fest. „Ach,“ sagte alles
traurig, „wir sehen nun schon, daß wir die Mäuse nicht be—
zwingen werden.“ Dazu lag der arme Flaps krank und es dauerte
ein paar Tage, ehe er geheilt war; lahm blieb er nachher doch
auf dem zerschlagenen Beine. Und eines Morgens geschah es,
daß Merx auf seinem Schornsteine wieder krähte: „Kikeriki
— da kommen sie!“ „Wer kommt denn?“ fragten alle ganz
erschrocken. „Soldaten in blauen Kitteln und Zipfelmützen,
sie tragen Mistgabeln und der schwarze Teufel ist ihr General.“
Da flogen alle Hühner auf das Dach hinauf und sahen den Slo—
waken mit einer Menge Bauern kommen, gerade auf die Hühner—
burg zu. Als sie die Nachricht davon zu Flaps hinunter brachten,
sagte dieser: „Der Schuft von einem Slowaken hat uns verraten.
Nun müssen wir auswandern. Macht euch fertig und seid
guten Mutes; wir hätten wegen der Mäuse doch nicht lange
mehr hier bleiben können!“ Schnell nahmen die Hühner noch
so viel Getreide in den Kropf als sie konnten, und dann machte
sich alles davon. Wie die Bauern ankamen und im ganzen
Hause nichts fanden als ein Häuflein Körner, wurden sie zornig
auf den Slowaken und schlugen ihn windelweich — und als
sie die Körner teilten, kamen fünf auf jeden; die nahmen sie mit
und die Mäuse konnten nun auf dem Messer pfeifen.
Viktor Blüthgen.
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II. Sagen und Legenden.
6. Des kleinen Volkes überfahrt.
Steh auf, steh auf! Es pocht ans Haus —
„Tipp, tipp!“ — Wer mag das sein?
Der alte Fährmann geht hinaus.
„Tipp, tipp!“ — Wer mag das sein?
Nichts sieht er, — halb nur scheint der Mond;
Die Sache deucht ihm ungewohnt. —
Da flüstert es fein:
„O Fährmann mein,
Wir sind ein winzig Völkelein
Und haben Weib und Kindelein.
Fahr über uns, die Müh' ist klein
Und jedes zahlt sein Hellerlein;
Es lärmt zu sehr im Lande,
Wir wollen zum andern Strande.
Unheimlich wird's an diesem Ort,
Es gellt hier zu viel Hammerschlag
Und schießt und trommelt fort und fort,
Die Glocken läuten Tag für Tag!“ —
Der Fährmann steigt in seinen Kahn:
„Ich will euch fahren, kommt heran!
Werft ohne Betrug
Das Geld in den Krug!“ —
O, welchen Lärm vernahm er da,
Obwohl er nichts am Ufer sah;
Er wußte nicht, wie ihm geschah;
Es klang wie fern und war doch nah:
Zehntausend kleine Stimmchen,
Viel kleiner als die Immchen.
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Der Schiffer ruft dem Knechte sein;
Er kommt. Die kleinen Wesen schrei'n:
„Zertritt uns nicht, wir sind so klein!“
Da mußt' er wohl behutsam sein.
Tück, tück! fiel's in den Krug hinab,
Wie jeder seinen Heller gab.
Pirr! trippelt's heran
Und stapft zum Kahn
Und ächzt wie mit Kisten und Kasten schwer,
Rückt, drückt und schiebt sich hin und her,
Es drängt und zwängt sich immer mehr.
„Fahr ab, der Kahn will sinken,
Fort, eh wir all ertrinken!“
Der Schiffer stößt vom Ufer los
Und als er jetzo drüben war,
Geht an das Schiff mit leichtem Stoß.
„Au!“ schrie die ganze kleine Schar;
In Ohnmacht fiel da manche Frau,
Das hörte man am Ton genau.
Nun dappelt's hinaus
Mit Katz und Maus,
Mit Kind und Kegel und Stuhl und Tisch,
Mit Kisten und Kasten und Federwisch;
Es war ein Lärmen und ein Gemisch
Von Ruf und Zank und Stillgezisch.
Nichts sieht man; doch am Schalle
Hört man, hinaus sind alle. —
Nach holt er wieder neue Schar;
Die lärmt hinaus; er fährt zurück.
Als dreißigmal gefahren war,
Läßt nach im Krug das Tück, Tück, Tück. —
Er fährt den letzten Teil zum Strand;
Der Mond geht unter am Himmelsrand;
Doch dunkelt es nicht.
Was glänzt so licht?
Am Strand gehn tausend Lichter klein
Wie von Johanniswürmelein. —
Da rafft der Knecht vom Uferrain
Erdboden in den Hut hinein,
Setzt auf und kann nun schauen
Die Männlein und die Frauen.
O, welche Wunder er nun sah!
Der ganze Strand war allbedeckt;
Sie liefen mit Laternchen da,
Von Gras und Blumen oft versteckt,
Und trugen Kindlein wunderhold
Und Edelstein' und rotes Gold. —
Hei, denket der Knecht,
Das kommt mir recht!
Und langt begierig aus dem Kahn
Am Uferrande weit hinan.
Da merket ihn ein kleiner Mann,
Der fängt ein Zeterschreien an! —
Puh, puh! sind aus die Lichte,
Verschwunden alle Wichte!
Drauf flog es her wie Erbsen klein,
Es mochten kleine Steinchen sein;
Die warfen sie mit großer Pein
Und ächzten mühsam hinterdrein. —
„Es sprühet immer mehr wie toll!
Fort, fort von hier, der Kahn wird voll!“ —
Sie wenden geschwind
Herum wie der Wind
Und stoßen eilig ab vom Land
Und fahren in Angst sich fest im Sand,
Bald rechter Hand, bald linker Hand.
Und immer ruft es nach vom Strand:
„Das Flieh'n war euer Glücke,
Sonst kamt ihr nicht zurücke!“
August Kopisch.
VLesebuch für Höhere Mädchenschulen. J. 3
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7. Die Roggenmuhme.
Das Mägdlein spielt auf dem grünen Rain,
Die bunten Blumen locken.
„Nicht sieht mich die Mutter!“ — Ins Korn hinein
Schleicht sacht es auf weichen Socken.
„Die roten und blauen Blumen, wie schön!
Die will ich zum Kranz mir winden;
Doch weiter hinein ins Feld muß ich gehn,
Dort werd' ich die schönsten finden.“
Und weiter eilt es. Gefüllt ist die Hand;
Da will es zurück sich wenden.
Es läuft und läuft und steht wie gebannt,
Das Korn will nimmer enden.
„Hinaus zum Rain, zum Sonnenlicht!
Wo blieb die Mutter, die süße?“
Die Halme schlagen ihm ins Gesicht,
Die Winde umschlingt ihm die Füße.
Und horch! Da rauscht's unheimlich bang,
Die Ahren wallen und wogen.
„Da kommt — ach, daß ich der Mutter entsprang! —
Die Roggenmuhme gezogen!“
Sie kommt heran auf Windesfahrt,
Die roten Augen blitzen,
Gelb ist die Wange, langstachlicht ihr Bart,
Die Haare sind Ahrenspitzen.
„Wie kommst du her in mein Revier
Und gehst auf verbotenen Pfaden?
Was raubst du meine Kinder mir,
Kornblumen und Mohn und Raden?
Weh dir!“ Sie streckt die Hand nach ihm aus,
Es fühlt die stechenden Grannen.
„Nimm hin deine Blumen und laß mich nach Haus!“
Und bebend stürzt es von dannen.
Fort, fort zur Mutter! Das Korn nimmt kein End',
Vergebens will es entwischen,
Die Roggenmuhme dicht hinter ihm rennt,
Die Ahren höhnen und zischen.
Schon fühlt es, wie ihr Arm es umschlingt.
„Erbarme dich mein, erbarme!“
Dort ist der Rain. „O Mutter!“ — Da sinkt
Das Kind ihr tot in die Arme.
Jakob Loewenberg.
8. Taumännlein.
Frühmorgens, wenn der Tag erwacht,
Wie ist die Welt voll Glitzerpracht!
Da liegt vom blanken Mond ein Schein
Verloren noch auf Wald und Rain.
Und an der Weide jedes Läublein
Und an der Rebe alle Träublein
Tragen rot und grün und gelb und blau
Zitternd ihr Tröpflein Schimmertau,
Und jede Nadel in Dorn und Tann
Hing sich ihr Blitzeperlchen an,
In Blütenbechern groß und klein,
Liegt's wie ein Tropfen Sonnenschein.
Wer trägt's denn her? Wer ging zur Nacht
Durch Heid' und Halm und Büsche sacht?
Ei, kennst das Taumännlein du nicht,
Im langen Bart den kleinen Wicht,
Guckt kaum aus jungem Korn heraus?
Den schickt des Nachts Frau Holde aus,
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Drückt ihm ein Krönlein leis ins Haar
Aus Diamanten ganz und gar;
Ein feines Krüglein muß er tragen,
Aus weißem Silber ist's geschlagen.
Taumännlein steigt durch Tau und Gras,
Wirft in die Halme Gold und Glas
Und schenkt aus seinem Silberkrüglein
Am Weg den Blumen Silberküglein.
Mit goldnem Eimer ein andres geht,
Wo Ried und Rohr im Frühwind weht.
Ein drittes wandert sternallein
Mit blankem Kännlein durch den Hain.
Und da eins, dort eins weit im Land,
Tragen ein Reislein in der Hand
Vom Ginster hinterm Försterhaus;
Sie tauchen's ein, sie spritzen's aus.
Und wo sie heimlich wandeln immer,
Bekommt jed' Hälmlein seinen Schimmer.
Und daß ich noch 'was fragen soll:
Wer goß denn die Gefäßlein voll?
Ei, tief im Wald, am Berg von Golde
Tat's ihnen in der Nacht Frau Holde.
Die weiß den Jungbrunn fern im Hain,
Springt murmelnd dort aus moos'gem Stein.
Und wer sich dreimal taucht im Quell,
Dem bleiben die Augen wie Frühling hell,
Dem wird vom Wunderwasser im Wald
Das Haar nicht weiß, das Herz nicht alt.
Am Brünnlein schöpft Frau Holde ein,
Schickt in die Welt die Taumännlein
Und was die besprengen in Feld und Hag,
Wird hell und blank wie junger Tag.
Geh nur selber ganz früh vor Licht,
's gibt frische Rosen fürs Gesicht!
Max Geißler.
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9. Der goldene Tod.
Kein Wind im Segel, die See liegt still. —
Kein Fisch doch, der sich fangen will!
So ziehen die Netze sie wieder herein
Und murren, schelten und fluchen drein.
Da, neben dem Kutter wird's heller und licht
Wie weißliches Haar, wie ein Greisengesicht,
Und ein triefendes Haupt taucht auf aus der Flut.
„Ei, drollige Menschlein, ich mein's mit euch gut!
Ich gönn' euch von meiner Herde ja viel;
Doch heut ist mein Jüngster als Fisch beim Spiel,
Den mußt' ich doch hüten, ich alter Neck,
Drum jagt' ich sie all' miteinander weg.
Doch schickt ihr den Jungen mir wieder nach Haus,
So werft nur noch einmal das Fangzeug aus;
Der schönste ist mein Söhnchen klein!
Das übrige mag euer eigen sein!“
Hei, flogen die Netze jetzt wieder in See!
Ho, kaum, daß ihr' Lasten sie brachten zur Höh'!
Wie lebende Wellen, so fort und fort
Von köstlichen Fischen, so quoll's über Bord
Und patscht und schnappt und zappelt und springt
Und bei den Fischern, da tollt's und singt.
Nun plötzlich blitzt es. Seht — es rollt
Ein Fisch über Bord von lauterem Gold!
Eine jede Schuppe ein Geldesstück!
Wie edelsteinen, so funkelt's im Blick!
Die Kiemen sind aus rotem Rubin,
Perlen die Flossen überzieh'n,
Mit eitel Demanten besetzt, so ruht
Auf seinem Häuptlein ein Krönchen gut.
Und fürnehm wispert's vom Schnäuzlein her:
„Ich bin Prinz Neck, laßt mich ins Meer!“
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Den Fang ins Meer? Sie rühren ihn an,
Die Fischer, und tasten und stieren ihn an.
„Laßt mich ins Meer!“ Sie hören nicht drauf.
„Laßt mich ins Meer!“ Sie lachen nur auf.
Sie wägen das goldene Prinzlein ab,
Sie schätzen's und klauben ihm Münzlein ab. —
Wie wiegt das voll, wie gleißt das hold!
Sie denken nichts weiter, — sie denken nur Gold.
Und seht! — Ein Goldschein überfliegt
Jetzt alles, was von Fisch daliegt,
Und wandelt's, daß es klirrt und rollt.
Seht! All' die Fische werden Gold!
Sinkt das Schiff von blitzender Last?
„Schaufelt, was die Schaufel faßt!“ —
Wie lustiges Feuerwerk sprüht das umher. —
Dann rauscht über alles zusammen das Meer.
Ferdinand Avenarius.
10. Die Jungfrau am See.
In der Gegend von Berchtesgaden lebte einmal ein Jäger—
bursch; der war von Salzburg gebürtig und hernach, da seine
Eltern frühzeitig gestorben waren, bei einem Jäger in Dienst
aufgenommen worden. Da hatte er des Mannes schönes Töch—
terlein kennen gelernt und die beiden hatten sich lieb gewonnen.
Auf einmal starb der Alte; da mußte der Bursch weiterziehen,
weil man keinen Gesellen mehr brauchte, auch war er arm
und konnte im Ernst nicht daran denken die Hand der reichen
Dirn zu erhalten. Mit schwerem Herzen verließ er das Haus
und zog in die Wildnis der Berchtesgadener Wälder und baute
sich ein Hüttlein am Fuß des Priestersteins.
Ein Jahr war vergangen, als er einmal in Gedanken ver—
sunken vor seiner Hütte saß. Da schlugen plötzlich die Hunde
an; sie witterten die Nähe eines Edelwildes. Unser Jägerbursch
machte sich auf und verfolgte die Spur und entfernte sich immer
weiter und weiter von seiner Hütte. So kam er zum erstenmal
an die Ufer des Königssees. Da setzte er sich auf einen Stein und
ergötzte sich an dem Anblick des schönen, tiefblauen Gewässers.
Während er so dasaß, kam auf einmal ein wunderschöner
Schwan auf ihn zugeschwommen. Eh' er sich's versah, tauchte
der Schwan unter und in demselben Augenblick stand eine holde,
liebreizende Jungfrau vor den Augen des erstaunten Jägers.
Sie grüßte ihn freundlich und fragte, was ihm fehle. Der Bursch
eröffnete ihr sein Anliegen wegen der schönen Tochter des ver—
storbenen Jägers, die er nun habe verlassen müssen. Die Jung—
frau sprach ihm guten Mut zu: sie sei die Dienerin eines mäch—
tigen Königs, der in der Tiefe dieser Gewässer throne; er solle
ihr folgen und zu großen Schätzen geführt werden. Darauf
leitete die Jungfrau den Burschen in verborgene Schluchten
und Höhlen und zeigte ihm die Goldschätze des Gebirgs. Sie
gebot ihm davon zu nehmen, soviel er begehre. Das ließ sich der
Jäger nicht zweimal sagen, griff mit vollen Händen zu und
füllte sich die Taschen mit gediegenem Gold. Darauf führte ihn
die Jungfrau an die Stelle zurück, wo sie ihn gefunden hatte,
und als er sich bedanken wollte, war sie verschwunden; aber der
schneeweiße Schwan durchschnitt wieder ruhig die glatte Wasser—
fläche.
Nun war das erste, was der glückliche Bursch tat, zu seiner
Geliebten eilen und ihr Herz und Hand antragen. Sie wurden
durch das Band der Ehe vereint und lebten eine Zeitlang im
Genuß aller irdischen Seligkeit als wahrhaft glückliche und zu—
friedene Menschen. Aber es blieb nicht immer so. Der junge
Mann wurde nach und nach übermütig, vertat sein Geld in aller—
hand Lustbarkeiten und suchte anderwärts Vergnügen. So
kam er mit seiner Familie endlich in großes Elend. Da gingen
ihm die Augen auf. Weinend saß er nun oft an der Stelle,
wo er zuerst die hilfreiche Jungfrau gesehen hatte. Eines Abends
erschien sie wieder. Noch einmal sollte dem Jäger geholfen
werden; aber diesmal führte sie ihn nicht zu den Goldschätzen,
sondern entdeckte ihm die Salzlager des Gebirgs. Da solle
er schürfen als fleißiger Bergmann und sein Reichtum werde
nie mehr versiegen. So geschah es auch. Das Salz blieb eine
ergiebige Quelle des Glücks für ihn und seine Nachkommen.
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Einige sagen, der Mann habe Berchtold geheißen und
seine Söhne hätten nach ihm den Ort Berchtoldsgaden
genannt.
Schöppners Sagenbuch.
11. Der König Watzmann.
Vor langen Zeiten lebte ein König Watzmann, der hatte
ein Weib und sieben Kinder. Er selbst aber war ein gewaltiger
Jäger, dabei stolz und grausam und seine größte Lust war es,
begleitet von Weib und Kindern und mit einem Gefolge von
Hunden und Knechten, auf den Gebirgen umherzuschweifen, die
Gemsen und Hirsche zu hetzen und an ihrem Blut, an dem Achzen
und Stöhnen der Kreatur sich zu weiden. Eines Tages geschah
es, daß der König vor die Hütte einer armen Hirtin kam. Diese
saß vor der Tür, ihr kleines Kindlein in den Armen wiegend,
und neben ihr lag ihr getreuer Hund, der ihre Herde und Hütte
beschützte. Flugs stürzen die wilden Rüden des Königs auf
den Schäferhund los, einer von ihnen zerfleischt das Kind, der
andere streckt die erschrockne Mutter nieder. Der König aber
steht dabei und sieht mit Lust das furchtbare Schauspiel an.
Auf der Mutter Geschrei kommt der Vater aus der Hütte, mit
dem Bogen in der Hand, und wie er das Entsetzliche gewahrt,
da streckt er einen der wütenden Hunde mit dem Pfeile nieder.
Nun aber ergrimmt in Zorn der grausame König ob dem Fall
seiner Rüde und er hetzt Knechte und Hunde auf den Hirten
und die Hirtin, die nun, von den Wütenden zerfleischt, auf den
Leichnam ihres Kindes niedersinken. König Watzmann aber
und sein Weib und seine Kinder schauen mit Hohnlachen und
Frohlocken auf die unschuldigen Opfer der Wut.
Da erhebt sich aus der Erde Schoß ein Brausen, der Sturm⸗
wind bricht los, eine Feuersäule steigt empor, sie umwirbelt
den Wüterich und seine Brut und verwandelt ihre Riesenleiber
in Stein. — Und noch heute stehen sie da, der Watzmann, sein
Weib und ihre sieben Kinder, als ungeheure Felsenberge, zum
warnenden Beispiel, daß Gottes Rache alle die ereilt, welche
den Schwachen zertreten und den Unschuldigen morden.
Ludwig Aurbacher.
12. Sage von der Entstehung des Pfahl.
Vor vielen, vielen Jahrhunderten — niemand weiß genau
die Zeit — lebte auf dem Schlosse Bernstorff bei Viechtach im
Walde ein junger, braver Ritter, namens Berchtold. Er war
mit einem ebenso schönen wie tugendsamen Ritterfräulein aus
der Nachbarschaft verlobt. Das Edelfräulein hieß Wolfindis
von Kolmberg (Kollenburg, Berchtold war der Dame von
Herzen zugetan und es verging fast kein Tag, wo er nicht nach
Kolmberg zum Besuche seiner Braut hinüberritt.
Der Junker war aber auch ein leidenschaftlicher Freund
des Weidwerks. Als er eines Tages lange gejagt hatte und
müde war, legte er sich am Bergabhange unter einem Fels—
vorsprunge zur Rast nieder. Bald schlief er ein und da hatte
er einen sonderbaren Traum. Es war ihm, als käme aus dem
Felsen, unter dem er ruhte, eine stattliche, weiße Frauengestalt
hervor. Ihr weites, faltiges Gewand schien von weißem Berg—
flachs und schimmerte wie helles Silber. Auf dem Haupte trug
die Erscheinung ein neunzackig Krönlein von Glas oder Kristall.
Die Bergfee ergriff Berchtold bei der Hand und geleitete ihn
durch den sich öffnenden Felsen tief hinab in die Erde. Da war
ein herrlicher Palast von lauter Kristall; er stand wie in einem
prächtigen Blumengarten. Die Blumen aber waren lauter
glänzende Edelsteine und leuchteten wie Diamanten. Schöne
Damen und freundliche Herren begrüßten Berchtolds Führerin.
Diese bestieg jetzt einen Thron und sagte zu Berchtold: „Sieh,
ich bin die Königin dieses Kristallreiches. Alle die blinkenden
Schätze sollen dein sein, wenn du mein Gemahl werden willst!“
Berchtold ward von der feenhaften Schönheit der Königin und
von dem lockenden Glanze ganz berauscht. Er nickte. Da um—
armte ihn die Königin und steckte ihm einen kostbaren Ring
mit einem blauen Steine an den Finger.
In diesem Augenblicke erwachte Berchtold. Er rieb sich
schlaftrunken die Augen. Schon wollte er über seinen seltsamen
Traum lachen. Da fiel sein Blick auf den Finger und er sah
mit Schrecken und freudiger Verwunderung zugleich: der Ring
war wirklich da. Mit beklemmender Unruhe und Hast suchte
42
Berchtold jetzt am Felsen, ob er nicht auch den Eingang wieder
entdecken könnte. Alles Bemühen war vergeblich. Sinnend
und grübelnd machte er sich auf den Heimweg. Es wurde spät
und es geschah heute das erste Mal, daß Berchtold nicht mehr
zu seiner Braut nach Kolmberg hinüberritt. Von nun an kam
es überhaupt öfters vor, daß die Braut vergebens seiner harrend
am Erkerfenster ihrer Burg stand. Der vordem so fröhliche
Junker wurde leutscheu und in sich gekehrt und verkam sichtbar.
Immer häufiger schlich er sich in den Wald zu dem Platze,
wo er die Erscheinung gehabt hatte. Eine wahre Sehnsucht
nach einem Wiedersehen mit der Kristallkönigin überkam ihn.
Er pochte an den Felsen, rief mit Schmeichelnamen — umsonst!
Als er eines Tages wieder vergeblich gepocht und gerufen hatte,
stieß er unmutig mit dem Ring an den Felsen. Berstend öffnete
sich die Felswand und die Ersehnte stand in entzückender Lieb—
lichkeit vor ihm. Holdselig lächelnd begrüßte sie ihn mit sanftem
Vorwurfe: „So lange hast du mich auf dich warten lassen!
Konntest du es denn nicht erraten, daß ich dich nicht eher wieder—
sehen durfte, als bis du mich mit dem Ringe riefest?“ Nun
erzählten sie sich voll Glück und Freude. Bald aber sagte
die Königin: „Meine Zeit ist um, ich muß dich wieder ver—
lassen.“
Da flehte Berchtold in seiner Betörung: „O Königin,
weißt du denn gar kein Mittel, daß ich auf immer bei dir in
deinem Reiche bleiben darf?“ Die Kristallkönigin lächelte noch
verführerischer und sprach: „Stelle dich morgen vor Sonnen—
untergang wieder ein! Mache aus Reisig ein Feuer und wenn
jene Eiche ihren Schatten auf den moosigen Felsblock hier am
Berghange wirft, dann hebe den Stein empor! Du wirst da
eine goldschillernde Eidechse sitzen sehen. Hasche sie und rufe
dreimal laut gegen die Felswand hin: Königin vom kristallnen
Reich! Komm und mach mich deinesgleich'! Beim dritten
Male wirf die Eidechse in die Flamme und füge die Worte hinzu:
Löse mich von Fleisch und Bein, laß mich immer bei dir sein!“
„Und dann?“ „Dann im selben Augenblicke wird sich der Berg
öffnen und ich werde dich an der Spitze all meiner Getreuen
holen in mein Reich.“
Am nächsten Tag tat Berchtold, wie ihn die Kristallkönigin
geheißen. Schon wollte er zum drittenmal den Zaubervers
sprechen und die Eidechse, wie geboten, in das hellodernde Feuer
schleudern, da rief plötzlich eine Stimme, angstvoll bittend,
hinter ihm im Gebüsch: „In Gottes Namen, halt ein, halt ein!“
Bei dem Worte „Gottes“ erscholl aus dem berstenden Felsen
wie aus einem schauerlichen Munde ein gräßlich gellender Schrei.
Feuer schlug aus dem Erdboden jählings wild empor, verschlang
die Bäume und fuhr am Rasen stundenweit dahin durch die
Gegend wie eine flammende Riesenschlange.
Kurze Zeit darauf war wieder alles still, als ob gar nichts
vorgefallen wäre. Der Himmel blaute und die Sonne lächelte
freundlich hernieder. Neben dem ohnmächtigen, schier leblosen
Berchtold kniete die treue Wolfindis, die den Armen wieder
ins Leben zurückzubringen sich bemühte. Sie hatte den Betörten
vom Verderben errettet. — So weit sich das Feuer wie eine
Schlange auf dem Boden fortgestreckt hatte, war alles Leben
verschwunden und die Erde zu Kristall zusammengeschmolzen.
So, sagen die alten Leute, ist der Pfahl entstanden.
F. J. Bronner.
13. Der Fischer am Arber-See.
Nahe dem Arbergipfel im Bayrischen liegt ein kleiner See.
Hohe, fichtenbewachsene Felsen umschließen ihn; aber sie spiegeln
sich nicht darin; denn sein Wasser ist unheimlich schwarz und
tief und wer mitten im Hochsommer Hand oder Stirn damit
netzt, schauert bis ins Mark hinein.
Einmal, es ging schon gegen den Abend, stieg ein Fischer
mit seinem Angelgerät zu dem See hinauf. Er warf die Schnur
aus und bald zappelte ein Fischlein daran. Wie ihm der Fischer
den spitzen Haken aus dem Maule reißen wollte, fing es unter
seinen Händen zu sprechen an: „Erbarmen! Laß mich noch
nicht sterben, ich bin noch so jung und es spielt sich so schön in
der kühlen Flut. Tief unten im Grunde da schwimmen meine
Brüder, die haben Schuppen von lauterm Gold und ihre Augen
sind die köstlichsten Edelsteine. Nach ihnen wirf deine Angel!“
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Da glänzten die Augen des Fischers vor Gier nach den Schätzen
der Tiefe. Verächtlich ließ er das Fischlein wieder ins Wasser
fallen; dann ging er um den See bis zu einem Felsvorsprung,
wo er den See am tiefsten wußte. Weit beugte er sich über das
Wasser und mit gewaltigem Schwunge warf er die Schnur
hinaus. Aber — war sein Sinn verwirrt oder hatten ihn un—
sichtbare Arme erfaßt: er stürzte mit einem lauten Schrei in
den See und verschwand in der Tiefe.
Emil Grimm.
14. Die steinerne Brücke von Regensburg.
Auf der alten steinernen Brücke in Regensburg steht eine
Säule, worauf ein aus Stein gehauenes Männlein sitzt. Es
hebt schirmend die Hand über die Augen und schaut gegen den
Dom St. Peter; in der andern Hand hält es einen Zettel mit
der Inschrift: „Schuck, wie heiß!“
Folgende Sage knüpft sich daran. Der berühmte Bau—
meister des Domes hatte mit dem der Brücke eine Wette ver—
einbart, daß derjenige, welcher seinen Bau früher vollendet
habe, dem Besiegten eine harte Leibesstrafe auferlegen dürfe.
Er sollte verurteilt werden den Eselsritt zu machen. Es war
das aber kein lustiges Reiten; denn der Grauschimmel war eigent⸗
lich ein Folterwerkzeug, gespickt mit scharfen Eisenspitzen; da
galoppiert einer schlecht.
Wie rührten sich da Meister und Gesellen! Sichtlich schien
der Dombau gesegnet. Höher und höher hoben sich die gewaltigen
Mauern. Die Brücke jedoch schritt langsam vorwärts. Ins—
besondere zur Frühlingszeit und nach heftigen Regengüssen,
wenn die Wasser schwollen und wild in den Baugrund drangen,
mußte die Arbeit oftmals unterbrochen werden. Den Meister
ergriff Besorgnis und Verzweiflung und endlich rief er in seiner
argen Not den Meister Urian um Hilfe an. Der war schnell zur
Stelle. „Die Brücke vollende ich dir alsobald,“ war seine listige
Teufelsrede. „Doch gute Arbeit will ihren Lohn. So sei die
Seele dessen mein Preis, der zuerst über die Brücke gehen wird.“
Da bereute der Meister wohl seinen Leichtsinn und wurde
vor Schrecken starr und konnte lange kein Wort hervorbringen.
Aber was vermochte sonst Rettung zu bringen? Er schloß den
Pakt. — Und nun reihte sich Pfeiler an Pfeiler und die weiten
Gewölbe sprangen empor von einem zum andern. Zur Nacht—
zeit wurde das Werk mehr gefördert als am Tage. Bald spannte
sich die Brücke weitgedehnt über den breiten Strom. — Der
Bischof zog hinaus sie einzuweihen. Viel Volk begleitete ihn.
Ungeduldige versuchten schon sich auf die Brücke zu drängen.
Mit Furcht und Bangen sah dies der Meister. Da kam ihm ein
Rat zu gutem Ende. Er reißt sich den Hut vom Kopf und wirft
ihn auf die Fahrbahn weit hinein. Bellend springt sein
wohlabgerichteter Pudel nach, ihm den Hut zu holen. Der über—
listete Teufel aber packt das Tier und reißt ihm mit entsetzlichem
Geheul den Kopf weg. Noch heute kann man den kopflosen Hund
aus Stein sehen, der ehedem auf der Brücke stand. Das steinerne
Männlein aber ließ der Erbauer hinsetzen seinem Genossen zu
Spott und Hohn. Dieser grämte sich so sehr darüber, daß er
sich von seinem eigenen Bau herabstürzte. Auf dem Eselsturm
sieht man die Figur eines Mannes, einen Wasserkübel über
den Kopf hebend. Es soll den unglücklichen Baumeister vor—
stellen. Hans Heindl.
15. Der Neustädter Geißbock.
Er war ein gar ritterlicher und streitbarer Herr, der Ans—
bacher Markgraf Albrecht, den man den deutschen Achilles ge—
nannt hat (1440 -1486). Seine Untertanen freilich würden
nichts dagegen gehabt haben, wenn er etwas weniger streitbar
gewesen wäre; denn der Fehden war kein Ende und Aufhör.
So lag er um 1460 auch in Hader mit Ludwig dem Reichen
von Bayern-⸗Landshut. Doch an dem hatte er seinen Meister
gefunden. Die Fehde brachte ihm keinen Vorteil, seinem Lande
aber großen Nachteil. Ein schönes Stück hatte Ludwig schon
erobert und eben lag er vor Neustadt und belagerte den Ort.
Drinnen aber hatten sie mächtige Schanzen angelegt und wehrten
sich tapfer.
Da gedachte der Bayernherzog die Neustädter durch
Hunger zur Übergabe zu zwingen und schnitt ihnen allseits die
Zufuhr ab. Die Bayern bezogen ein Lager und machten sich's
bequem und jeden Tag stieg der Rauch auf aus dem Lager —
jeden Tag dreimal, wie wenn sie daheim wären. Das war den
Neustädtern bald ein bitterer Anblick, wie sie so des Morgens,
Mittags und Abends die Feinde sich um die Feldkessel lagern
sahen; denn bei ihnen war Schmalhans Küchenmeister. Mehl
und Fleisch war dem Ende nahe, obwohl alle auf Viertelskost
gesetzt waren, und wenn einer auch kein Rechenmeister war,
so konnte er doch aufs Haar sagen, wann sie den letzten Laib
Brot backen und den letzten Schinken anschneiden würden.
Da war aber ein Schneider, der war nicht auf den Kopf
gefallen. Er ging in den Stall, holte das einzige Schwein, das
sie noch hatten, warf's nieder und kniete ihm auf den Hals, daß
es zu schreien anfing, wie wenn's geschlachtet würde. Nach zwei
Tagen tat er es wieder und nach zwei Tagen abermals. Da
sagten die Bayern: „Sie müssen noch vollauf haben; hört nur,
sie schlachten schon wieder ein Schwein!“ Als er's so eine Weile
fortgetrieben hatte und die Leute den Gurt um den Leib sich
anzogen, daß sie aussahen wie die Wespen, da mußten sie endlich
das letzte Schwein doch schlachten und hatten nun gar nichts mehr.
Doch unser Schneiderlein hatte einen neuen Einfall. Er
ließ sich in eine Bockhaut einnähen und in dieser Mummerei
sprang er mit lustigem Meckern die Stadtmauer entlang. Darob
verwunderten sich die Feinde nicht wenig; denn sie hatten nicht
erwartet, daß in dem Städtlein nur noch eine lebendige Maus,
geschweige ein so feistes und ausgelassenes Ziegenböcklein zu
finden sei. Voll Verdruß und Arger zog Herr Ludwig ab.
Des zum Gedächtnis ließ der Rat einen Geißbock in Stein
aushauen und setzte ihn unter den Bogen des oberen Tores.
Theodor Aufsberg.
16. Der beste Trunk.
Gustav Adolf hatte den General Tilly in der Schlacht
bei Breitenfeld geschlagen (am 7. September 1631) und Tillys
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Heer war auf dem Rückzuge. Am 29. September nachmittags
zwei Uhr näherte sich das kaiserliche Volk der Stadt Rothenburg.
Der Rat ließ die Tore schließen und die Zugbrücken aufziehen
und die Besatzung (etwa 700 Mann) wurde auf die Mauern
verordnet. Die Kaiserlichen eröffneten das Feuer, welches
die Rothenburger nur schwach erwiderten. Jedermann war
unbesorgt; denn man glaubte es nur mit einem streifenden
Haufen zu tun zu haben. Zu Anbruch des nächsten Tages be—
gann indessen das grobe Geschütz gegen die Stadt zu spielen.
Doch die Falken antworteten von den Türmen, die Kartaunen
aus den Offnungen der Basteien und auf dem Kranze der Mauern
standen die Bürger, wohl bewehrt mit weitreichenden Büchsen.
Die Sache wurde jedoch ernst. Um Mittag näherten sich den
Belagerern neue starke Zuzüge: es war der grimme Tilly selbst
mit den hellen Haufen seines immerhin noch stattlichen Heeres.
Er befahl sogleich den Sturm. Seine Kriegsleute hatten schon
vorher einen Teil der Mauer niedergeschossen; nun rückten sie
in guter Ordnung heran, die Wälle wurden erstiegen und Sturm—
leitern an die Mauern geworfen. Unerschrocken verteidigten
sich die Bürger; viele Feinde wurden erlegt. Doch, was half's?
Neue Regimenter traten zum Sturm an. Das Häuflein der
Verteidiger wurde immer kleiner und sah den Zorn und die
Zahl der Feinde stets wachsen. Da entfiel auch dem Tapfersten
der Mut. Die Stadt mußte sich ergeben auf Gnade und Ungnade.
Die Bürger hingen in ihrer Angst zwei Bettücher als Friedens—
fahnen hinaus und öffneten die Tore. Herein zog Tilly mit seinen
Scharen.
Alsbald begann die entsetzlichste Plünderung und die er—
bitterten Kriegsobersten begehrten laut gänzliche Zerstörung
des frechen Städtleins. Auf dem Markte harrten die Frauen
samt den Kindern; den Rossen der Generale warfen sie sich in
den Weg, umklammerten die Hufe und flehten um Schonung,
um Erbarmen. Zögernd erfolgte der rauhe Bescheid Tillys:
„Lasset die Hunde leben!“ Dann stieg er zum Rathaus hinauf.
Dort hatte sich der Rat versammelt; ihm wurde kurz und ernst
angekündigt, daß sich alle sogleich zum Tode bereiten sollten.
Der regierende Bürgermeister, Johann Bezold, wurde ab—
3
gesandt den Scharfrichter für sich und seine Ratsfreunde zu
holen. Seufzend machte sich der Mann auf den Weg, begleitet
von kaiserlichen Wachen. Als der getreue Scharfrichter die Bot⸗
schaft vernahm, da entsẽtzte er sich und schwur lieber selber den
Kopf zu verlieren, ehe er Hand lege an die Häupter der Stadt.
Dadurch entstand im Hause des Henkers ein kleiner Auf—
enthalt, den die Ratsherren trotz ihrer Todesangst gar schlau
benützten. Der große Ratspokal wurde mit edelstem Weine
gefüllt und Tilly kredenzt. Das mundete nach dem heißen Tag!
Der Feldherr trinkt und trinkt nochmals und sein Herz wurde
milder gestimmt. Er betrachtete sich den Pokal, den Kopf schüt—
telnd über dessen unheimliche Größe, und sprach, zwar noch
mit grimmigem Gesicht: „Der Durst in Rothenburg, der scheint
mir groß. Unbillig wär's fürwahr, wenn ich euch wollte ohne
Labung die schwarze Straße schicken. Füllt nochmals das Gefäß!
So einer unter euch sich fände, der den gewalt'gen Becher auf
einen Zug zu leeren möchte — bei meinem Wort! ich könnt'
euch gnädig sein.“ Eine bange Pause entstand. Da siehe! Der
Altbürgermeister Nusch, der schon manch guten Zug getan, trat
vor und faßte den Pokal. Langsam und bedächtig setzt er an,
nachdem er ein kurzes Stoßgebet gesprochen, und trinkt in langen,
ruhigen Zügen. Der Pokal ist leer, der Meistertrunk ist ge—
lungen! — „Hat ihm aber nichts geschad't, der Becher hielt
etwa 13 Schoppen bayrisch,“ setzt der Chronist hinzu.
Der Feldherr hielt sein Wort. Er verzieh den Stadtvätern,
ließ auch der Plünderung Einhalt tun und begnügte sich mit
einer „schleunigen Hilfe“ von 20000 Talern.
Noch heute befindet sich jener Pokal im Besitze der Nach—
kommen des Bürgermeisters Nusch, die auch noch eine jährliche
Rente als Lohn der großen Tat vom Rate beziehen.
Theodor Aufsberg.
17. Das verlorene Kind.
In der Gegend von Marktschorgast im Fichtelgebirg ging
eine Frau am St. Johannis⸗Tage mit einem ihrer Kinder ins
Beerensuchen. Sie fand auch einen reichen, herrlichen Strauch,
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den sie oftmals ringsum ablas, ohne daß er je leer wurde. Als
sie nun das achte Mal „umgebeert“ hatte, sah sie plötzlich zu ihrer
nicht geringen Verwunderung neben dem Strauche eine weite
Offnung in der Erde. Neugierig stieg sie hinab; — da funkelte
und blitzte es in der Höhle wie Gold und Edelgestein und drei
weiße Jungfrauen traten an sie heran. Die redeten ihr freundlich
zu, sie solle sich von den Schätzen nehmen, was sie mit einem
Griffe fassen könne. Die Habsucht aber verblendete das Weib;
sie raffte dreimal in den Gold- und Silberhaufen und sprang
dann schnell zur Höhle hinaus. Hinter ihr fiel krachend die Türe zu.
Nun überlief sie's plötzlich eiskalt; — sie merkte, daß sie
in ihrem wilden Eifer ihr Kind vergessen hatte. Sie eilte zurück;
aber jede Spur der Höhle war verschwunden. Da härmte sie
sich ein ganzes Jahr lang; denn die köstlichen Gaben der drei
Jungfrauen konnten ihr keinen Ersatz für das Kind gewähren.
Am nächsten Johannistage ging sie wieder in den Wald und —
o Freude! da stand jene Pforte offen, welche ihr damals so viel
Glück und Schmerz gebracht hatte, und ohne Bedenken trat
sie hinein. Ihr Kindlein, frisch und blühend, war das erste, was
ihr in die Augen fiel. Es hielt einen schönen roten Apfel in der
Hand und lächelte ihren Armen entgegen, die es auch alsbald
umfingen und an das Licht der Sonne trugen. Der schimmernden
Herrlichkeiten aber achtete sie nicht.
Schöppner, Sagenbuch.
18. Das Goldlaiblein.
Einst hüteten am Ochsenkopf zwei Knaben und ein Mädchen.
Die Knaben waren Kinder wohlhabender Landleute, des Mäd—
chens Eltern aber waren arm. Die kleinen Gefährten erzählten
sich allerlei Märlein, die sie von den Geistern des Ochsenkopfs
wußten. Da gesellte sich zu ihnen ein graues Männchen, das
aufmerksam ihren kindlichen Gesprächen zuhörte. Endlich sprach
es: „Ihr seid gute Kinder; darum will ich nicht von euch gehen
ohne euch zu beschenken.“ Es zog aus der Tasche drei Laiblein
Brot und gab jedem Kind eins. Darauf entfernte es sich.
Lesebuch für Höhere Mädchenschulen. J.
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Die beiden Knaben lachten über das ärmliche Geschenk
und hielten es nicht wert. Der eine nahm sein Laiblein und
warf es auf die Erde. Es hüpfte den Berg hinab in possierlichen
Sprüngen, bis es sich zwischen struppigem Gebüsch verlor. Da
sprach der andere Knabe: „Halt, mein Laiblein muß deines
suchen!“ und warf es ebenfalls auf die Erde. Es nahm den—
selben Weg wie das erste. Nun wollten die leichtfertigen Knaben
auch das Mädchen bereden sein Geschenk wegzuwerfen. Die
Kleine aber hüllte es eilig in ihr Schürzlein und sprach: „Wie
wird es meine Eltern freuen, wenn ich ihnen etwas mit nach
Hause bringe!“ Da sie aber heimkam und man das Brot auf—
schnitt, da war ein Klumpen Gold hineingebacken und Reich—
tum war eingezogen, wo sonst Mangel herrschte. Als die beiden
Knaben von dem Glück ihrer Gefährtin hörten, gingen sie zurück
die verschmähten Geschenke des grauen Männleins zu suchen.
Alein es war vergeblich.
Schöppner, Sagenbuch.
19. Die Venediger im Fichtelgebirg.
Wer vom Gipfel des Ochsenkopfs herabsteigt zur Quelle
des Weißen Mains und nicht weit davon die wild zerstreute
Gruppe der Weißmain-Felsen besucht, kriecht wohl auch durch
eine niedrige Höhlung zwischen zwei mächtigen Blöcken, im
Volke der Veneter-Schacht geheißen. Venediger oder
Walen aus der fernen Meerstadt Venedig sollen ihn durch die
Felsen getrieben und hier nach den Goldschätzen des Fichtel—
bergs geschürft haben. Vor vielen hundert Jahren trieben diese
Fremdlinge überall im ganzen Gebirg ihr geheimnisvolles
Wesen. Wo ein Bach von den Bergen herabstürzte, da saßen
sie wochenlang am Ufer und durchwühlten den groben Sand
auf seinem Grunde nach Goldkörnern, und wo sich eine Kluft
im Gestein auftat, arbeiteten sie mit Meißel und Schlegel. Mit
dem zauberhaften Erdspiegel oder der gegabelten Wünschel—
rute in der einen Hand, in der andern ein abgegriffenes Büch—
lein, vielleicht vom Vater vererbt, mit Aufzeichnungen über
die goldreichen Stellen: so durchstreiften sie das Gebirg stunden—
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weit im Umkreis, bis die Rute in ihrer Hand zuckte oder eine
Flamme im Spiegel lohte, wenn der Boden unter ihren Füßen
eine Ader des edlen Erzes barg. Den Menschen wichen sie scheu
aus und nur, wenn sie das Unwetter oder der Hunger zwang,
kamen sie bittend in die Dörfer oder einsamen Waldhäuser.
Manche aber, die immer zu Beginn des Winters in ihre süd—
liche Heimat zurückkehrten, hatten bei einem Bauern oder Wald—
arbeiter ein Stüblein, wo sie die Nächte zubrachten und die
heimgeschleppten Tragkörbe voller Steine sorgsam verwahrten.
Noch heute wissen die Leute im Fichtelgebirg ein uraltes Walen—
wort, das einer einem Bauern zugerufen haben soll: „Der
wirft den Stein nach der Kuh und ist der Stein mehr wert wie
die Kuh!“ Fast immer bekommt man dabei eine Geschichte zu
hören, die ich hier wiedererzählen will.
Ein Venediger wohnte lange Jahre während des Sommers
in wülfersreuth bei Berneck im Hause eines Bäuer—
leins. Jedes Jahr, wenn der Fremdling wiederkam, begrüßten
ihn die guten Leute mit herzlicher Freude und nie belästigten
sie ihn mit zudringlicher Neugier. Einmal, als wieder der Herbst—
wind über die Stoppeln ging, stand der Venediger mit dem
langen Wanderstab vor seinem Gastfreund und sagte traurig:
„Hans, lieber Hans, nun muß ich wieder heim und komm' wohl
nimmer zurück. Ich bin alt und kann die Früchte meiner Mühen
nun in Frieden genießen. Du hast mir viel Gutes getan und
nie mehr dafür genommen als dir zukam. Mög' es dir wohl
gehn! Solltest du aber einmal in Not kommen, so denk an deinen
Freund im Welschland und komm zu ihm; er wird dir helfen.“
Damit schied er.
Jahre vergingen und der Bauer vergaß allmählich den
seltsamen Fremden. Da kam ein Unglück nach dem andern im
Haus⸗ und Viehstand über ihn und er war nah am Verarmen.
In dieser Not erinnerte er sich der freundlichen Abschiedsworte
seines einstigen Gastes und obwohl er weder Weg noch Steg
wußte, nicht einmal mehr den Namen des Fremden, machte
er sich auf, pilgerte über die Alpen und kam auch glücklich in die
ferne Meerstadt. Tagelang ging er nun da straßaus, straßein,
bestaunte die prächtigen Paläste und die großen Plätze und
Kirchen, schaute allen Leuten prüfend ins Gesicht, fragte auch
da und dort einmal verzagt in seiner ehrlichen Landessprache,
ob ihn denn niemand anweisen könne — aber vergebens. Als
er nun so eines Tages in heller Verzweiflung umherirrte, hörte
er plötzlich laut und eindringlich seinen Namen rufen: „Hans!
Hans!“ Erschreckt fuhr er herum; da sah er aus einem Fenster
eines Palastes mit beiden Händen einen Mann winken. Nach
ein paar Augenblicken wurde die Tür des Hauses aufgerissen
und heraus stürzte ein alter Mann mit langem, weißem Bart.
Der fiel dem Bauern auf offener Straße um den Hals. ‚Kennst
du denn deinen Venediger Freund nicht mehr?“ rief er endlich,
als der Bauer noch ganz verstört dreinschaute, und zog Hans
in sein Haus und führte ihn treppauf, treppab durch unzählige
prächtige Gemächer und bewirtete ihn, wie man es nur einem
lieben seltenen Gast tut.
Wie im Traum verging unserm Bauern eine Woche.
Dann steckte ihm der reiche Venediger alle Taschen voll Gold—
stücke und geleitete ihn eine weite Strecke heimwärts. Unge—
fährdet kam der Hans wieder daheim an und nun hatte alle
Not und Sorge ein Ende für immer.
Emil Grimm.
20. Zeitelmoos.“)
„Geht heim, ihr Kleinen, wärmet euch am Feuer,
Am Abend ist's im Zeitelmoose nicht geheuer!“ —
Die Kleinen lachen.
Und wie er weiter reitet von der Stelle,
Wirft sich am Teich ein Mädchen in die kühle Welle. —
Was will er machen?
Er springt ins Wasser nach um sie zu retten. —
Ja, wenn ihn nur die Nixen nicht zum Narren hätten!
Die Nixen lachen.
Er tappt zurück zum Roß mit nassen Beinen;
Da sitzen auf dem Rosse wiederum die Kleinen. —
Was will er machen?
) Eines der größten Hochmoore im Fichtelgebirg bei Wunsiedel.
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Er nimmt die Peitsch' und haut sie; aber munter,
Heupferdchen ähnlich, springen sie von da herunter
Und stehn und lachen.
Auf setzt er sich, doch Angstschweiß muß er schwitzen;
Denn hinter sich fühlt wieder er die Kleinen sitzen. —
Was will er machen?
Sie klammern sich so fest an ihn und kneifen!
Er kann sich die Spukgeister nicht vom Halse streifen. —
Sie aber lachen.
„Im Zeitelmoos ist's abends nicht geheuer!“
Zirpt eines; doch er sieht nun Hirten um ein Feuer. —
Was will er machen?
Er traut sich nicht hin bis zum nächsten Orte
Und will herab und gibt den Hirten gute Worte. —
Die Kleinen lachen.
Nun möcht' er gern sie hauen mit dem Stecken;
Sie aber flieh'n, indem sie mit den Zähnen blecken. —
Was will er machen?
Die Hirten wollen ihn vom Pferde heben;
Da dreht sich gar der Sattel um, er fällt daneben.
Die Hirten lachen.
Er schilt sie aus; die Hirten schwinden beide,
Er liegt im Moor am Schimmern einer faulen Weide. —
Was will er machen?
Auf springt er, schnallt den Sattel wieder feste,
Steigt auf und peitscht. — „Fortreiten“, ruft er, „ist das beste!“
Die Kleinen lachen.
Er kommt nicht fort, es ist ihm wie im Traume:
Der Sattel sitzt am Rosse nicht, nein, an dem Baume. —
Was will er machen?
Aus allen Ecken ruft's: „Geh heim zum Feuer
Und wärme dich, im Zeitelmoos ist's nicht geheuer!“
Die Kleinen lachen.
Nun bleibt er sitzen. Die Laubfrösche quarren,
Die Mücken stechen; alles hat ihn da zum Narren. —
Was will er machen?
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Er sitzt und sitzt. Auskräht der Hahn den Morgen;
Da rufen sie: „Nun, guter Mann, bist du geborgen!“
Und flieh'n und lachen.
Er geht zum Roß, es ist ihm wie im Traum,
Sitzt auf und jagt aus dem verhexten Raum. —
Was will er machen?
Fortreitet er; es klingt ihm nach im Ohre,
Er höret immer noch und immer wie im Chore
Die Kleinen lachen.
August Kopisch.
21. Walters Grab.
Als Herr Walter von der Vogelweide, der teure Meister,
zu Würzburg auf dem Totenbette lag, wollte er von seiner ge—
ringen Habe auch die lieben Vöglein bedenken, auf deren Tan—
daradei er so gerne gelauscht hatte, wenn er, des Leides zu ver—
gessen, in Garten, Flur und Wald allein mit seinem Saiten—
spiel umhergewandelt. Und er sprach und verordnete also:
„Dieweil ich der von der Vogelweide genannt bin, will ich den
Vögeln eine Weide stiften. Leget auf meinen Grabhügel einen
schlichten Stein und höhlet an seinen vier Ecken vier Löcher aus;
diese soll man an jedem Morgen mit klarem Wasser füllen, auf
den Stein aber reichlich Weizenkörner streuen, der kleinen Sänger⸗
schar zu Trank und Speise. Das ist Walters Vermächtnis.“
Darauf starb er und ward von den Mönchen zum Neuen
Münster begraben im Garten vor der Pforte des Klosters. Die
frommen Brüder erfüllten treu seinen letzten Willen und bald
kamen die Vögel zu des Sängers Grab geflogen, und wenn
sie den Weizen gepickt und ihre Schnäöblein ins kühle Wasser ge—
taucht hatten, setzten sie sich auf die Zweige der Linden, die den
Hügel beschatteten, und sangen dem toten Meister ihren Dank.
Jahrhundertelang taten die Mönche nach Herrn Walters Bitte
und pflegten sorgsam seine Ruhestätte Später aber, in böser
Zeit, vergaß man seiner. Nur die Vöglein kamen, obgleich sie
keine Labung mehr fanden, doch immer wieder zu seinem Grabe
und sangen ihm süße Weisen.
Gotthold Klee.
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22. Der Traum.
Adam und Eva waren aus dem Paradiese vertrieben worden.
In harter Arbeit sollten sie nun ihr Leben fristen; denn hinter
ihnen stand der Hunger und schwang mit dürren Armen seine
Stachelpeitsche. Adam suchte Beeren und grub mit blutenden
Fingern nach Wurzeln.
Da senkte sich die Sonne zum Untergang und strömte
eine Flut von Gold aus über die fernen, baumbesetzten Hügel
des Paradieses. Die beiden ersten Menschen sahen hin, ihr Herz
war schwer; aber noch sprachen sie kein Wort. Nun ward es
Abend. Bleiche Strahlen zuckten auf wie drohendes Wetter—
leuchten.
„Siehst du das Schwert des Engels blitzen, den der Herr
vor das Tor des Gartens gestellt hat?“ flüsterte Adam. „Ich
fürchte mich, ich fürchte mich vor dem Tod,“ sagte Eva. „Was
ist der Tod?“ Das wußten sie beide nicht; aber sie fühlten es:
etwas Unbekanntes, Unfaßbares war ihnen nahe, ob es nun
herabschwebte aus den Lüften oder ob es wie Nebel aus den
Wiesen stieg; es war bereit sie zu bedecken und zu umfassen.
„Wir werden nie wieder in den Garten hineinkommen,“
sagte Adam, „unser Ohr wird sich nicht mehr erfreuen am Mur—
meln der Quelle, die beim Baum des Lebens entspringt; wir
werden nie mehr die leuchtenden Früchte pflücken, die uns Kraft
und Erquickung verliehen!“ Als er das sagte, füllte sich sein Herz
mit unendlicher Sehnsucht und er breitete seine Arme aus, weit,
weit den zuckenden Strahlen entgegen. Eva aber barg ihr Ge—
sicht in den Händen und schluchzte und weinte; denn sie wußte,
daß durch ihre Schuld das Tor des Paradieses verschlossen war.
„Wir werden niemals all das Herrliche sehen, was im Garten
des Herrn ist,“ wiederholte Adam noch einmal.
Aber ganz allmählich wurden ihre Glieder von einer weichen
Müdigkeit umstrickt, die sie im Paradiese nie gekannt hatten,
weil es dort keinen Kummer und kein Herzeleid gab und auch
keine Arbeit. Eva sagte: „Wie werden mir die Lider so schwer!
Siehe, er ist da, der Tod!“ Es war aber der Engel des Schlafes,
der ihnen das Auge schloß und mit dem Schlaf kam der Traum
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und auch der war nie im Paradiese gewesen. Als sie am Morgen
erwachten, da fühlten sie sich erquickt und gestärkt und Adam
rief aus: „Wie wunderbar! Nun weilte ich doch wieder im Pa⸗
radies! Ein Engel des Herrn mit dunkelrotem Blütenkranz im
Haar nahm mich an der Hand und führte mich schweigend die
alten Pfade.“ „Auch mich hat er geleitet,“ sagte Eva, „vorüber
an dem Baum des Lebens und mein Herz war leicht und frei
und wußte nichts mehr vom Zorn des Herrn.“
Darnach gingen sie an ihre Arbeit. Die Menschheit be—
gann ihren Eroberungszug und, umdräut von Hunger und Tod,
lernte sie in Tausenden von Jahren die Welt besiegen; aber
eines blieb unter Not und Plage lebendig in ihrem Herzen:
die Sehnsucht nach der uralten Heimat des ganzen Geschlechts,
die Sehnsucht nach dem Paradiese.
Georg Ruseler.
23. Legende.
Als noch, verkannt und sehr gering,
Unser Herr auf der Erde ging,
Und viele Jünger sich zu ihm fanden,
Die sehr selten sein Wort verstanden,
Liebt' er sich gar über die Maßen
Seinen Hof zu halten auf der Straßen,
Weil unter des Himmels Angesicht
Man immer besser und freier spricht.
Er ließ sie da die höchsten Lehren
Aus seinem heiligen Munde hören;
Besonders durch Gleichnis und Exempel
Macht' er einen jeden Markt zum Tempel.
So schlendert' er in Geistes Ruh'
Mit ihnen einst einem Städtchen zu;
Sah etwas blinken auf der Straß',
Das ein zerbrochen Hufeisen was.
Er sagte zu Sankt Peter drauf:
„Heb doch einmal das Eisen auf!“
Sankt Peter war nicht aufgeräumt,
Er hatte soeben im Gehen geträumt,
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So was vom Regiment der Welt,
Was einem jeden wohlgefällt,
Denn im Kopf hat das keine Schranken;
Das waren so seine liebsten Gedanken.
Nun war der Fund ihm viel zu klein,
Hätte müssen Kron' und Zepter sein;
Aber wie sollt' er seinen Rücken
Nach einem halben Hufeisen bücken?
Er also sich zur Seite kehrt
Und tut, als hätt' er's nicht gehört.
Der Herr nach seiner Langmut drauf
Hebt selber das Hufeisen auf
Und tut auch weiter nicht dergleichen.
Als sie nun bald die Stadt erreichen,
Geht er vor eines Schmiedes Tür,
Nimmt von dem Mann drei Pfennig dafür.
Und als sie über den Markt nun gehen,
Sieht er daselbst schöne Kirschen stehen,
Kauft ihrer so wenig oder so viel,
Als man für einen Dreier geben will,
Die er sodann nach seiner Art
Ruhig im Armel aufbewahrt.
Nun ging's zum andern Tor hinaus,
Durch Wies' und Felder ohne Haus,
Auch war der Weg von Bäumen bloß,
Die Sonne schien, die Hitz' war groß,
So daß man viel an solcher Stätt'
Für einen Trunk Wasser gegeben hätt'.
Der Herr geht immer voraus vor allen,
Läßt unversehens eine Kirsche fallen.
Sankt Peter war gleich dahinter her,
Als wenn es ein goldner Apfel wär';
Das Beerlein schmeckte seinem Gaum.
Der Herr nach einem kleinen Raum
Ein ander Kirschlein zur Erde schickt,
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Wornach Sankt Peter schnell sich bückt.
So läßt der Herr ihn seinen Rücken
Gar vielmal nach den Kirschen bücken.
Das dauert eine ganze Zeit;
Dann sprach der Herr mit Heiterkeit:
„Tätst du zur rechten Zeit dich regen,
Hätt'st du's bequemer haben mögen.
Wer geringe Ding' wenig acht't,
Sich um geringere Mühe macht.“
Johann Wolfgang Goethe.
24. Legende.
Als der Herr in Gethsemane
Auf Knieen lag im schwersten Weh,
Als er sich hob, um nach den Jüngern zu schauen,
Ließ er die Tränen niedertauen:
Er fand sie schlafend und mit den Genossen
Hatte selbst Petrus die Augen geschlossen.
Zum zweitenmal sucht er die Seinen dann,
Die liegen noch immer in Traumes Bann.
Und zum dritten, allein im Schmerz,
Zeigt er Gott das kämpfende Herz.
Die heilige Stirn wird ihm feucht und naß:
„Mein Vater, ist es möglich, daß . . . ..“
Und durch ein Gartenmauerloch
Schlüpft' ein zottig Hündchen und kroch
Dem Heiland zu Füßen und schmiegt sich ihm an,
Als ob es ihm helfen will und kann.
Und der Herr hat mild lächelnd den Trost gespürt
Und er nimmt es und drängt's an die Brust gerührt
Und muß es mit seiner Liebe umfassen;
Die Menschen hatten ihn verlassen.
Detlev von Liliencron.
25. Der Kreuzschnabel.
Als der Heiland litt am Kreuze,
Himmelwärts den Blick gewandt,
Fühlt er heimlich sanftes Zücken
In der stahldurchbohrten Hand.
Hier, von allen ganz verlassen,
Sieht er eifrig mit Bemüh'n
An dem einen starken Nagel
Ein barmherzig Vöglein zieh'n.
Blutbeträuft und ohne Rasten
Mit dem Schnabel zart und klein
Möcht' den Heiland es vom Kreuze,
Seines Schöpfers Sohn, befrein.
Und der Heiland spricht in Milde:
„Sei gesegnet für und für!
Trag das Zeichen dieser Stunde
Ewig, Blut und Kreuzeszier!“
Kreuzesschnabel heißt das Vöglein;
Ganz bedeckt von Blut so klar,
Singt es tief im Fichtenwalde
Märchenhaft und wunderbar.
Julius Mosen.
26. Von Sankt Georg, dem Ritter.
Es war ein greulicher Drache in dem Land Silene nahe
bei Palästina; der wohnte in einem See und ging zu Zeiten
heraus und wen er fand, es sei Mensch oder Vieh, das fraß er
alles. Wenn er nichts mehr auf dem Felde fand, so ging er zu
der Stadt, da mußte man ihm zu fressen geben; denn niemand
konnte seinen Gifthauch ertragen, und wann er genug hatte,
ging er wieder in den See, bis ihn aber hungerte.
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In derselben Stadt waren viel Abgötter, darum verhängte
Gott das Leiden über sie. Nun kam das Volk überein, daß man
dem Wurm sollte geben jeden Tag zwei Schafe, die legte man
an den See. Und dieweil sie das taten, dieweil kam der Drache
nicht zu der Stadt und ließ die Menschen in Frieden. Nun
hatte er aber des Viehs so viel gefressen, daß man sein wenig
fand. Da warf man das Los und auf welchen Menschen es fiel,
er sei arm oder reich, den sollte man dem Drachen geben. Nun
trug es sich zu, daß das Los auch auf des Königs einige Tochter
fiel. Da weinte der König und bat, daß man ihm seine Tochter
ließe; „ich gebe euch Gold und Silber dafür, soviel ihr wollt.“
Das tät' das Volk erzürnen. „Wir haben unsere Freunde ver—
loren und du willst dein Kind behalten?“ Als der König ihren
Ernst sah, bat er, daß sie ihm die Tochter nur noch acht Tage
ließen, bis er sie beklagt hätte, so wollte er sie dem Drachen
geben. Das gewährten sie ihm. Am achten Tage aber kam das
Volk zuhauf vor des Königs Burg und schrie: „Gib deine Tochter
jetzt heraus oder du mußt sterben!“ Das war ihm leid und er
sprach: „O weh, liebe Tochter, wozu bist du geboren, daß dein
junger Leib also verderben muß!“ Und hieß ihr königliche Kleider
anlegen und sie hinausführen. Da schieden sie mit großem
Jammer voneinander.
Die Jungfrau ging allein zu dem See und wartete, wann
der Wurm käme und weinte bitterlich. Da kam Sankt Georg
dahergeritten. Als er die Jungfrau weinen sah, sprang er von
seinem Roß und trat zu ihr. Und da er ihre Schönheit ansah,
ward ihm leid um sie und er fragte, warum sie betrübt sei. Sie
sprach: „Herr, sitzet bald auf Euer Roß und fliehet oder Ihr
seid mit mir verloren!“ Sprach Sankt Georg: „Edle Jungfrau,
saget mir, was mit Euch sei.“ Sie antwortete: „Herr, ich muß
hier sterben; denn man hat mich dem Drachen übergeben, der
wird bald aus dem Wasser gehn und mich verschlingen; darum
so flieht von dannen.“ Georg sprach: „Habt nur Vertrauen
zu mir; ich will Euch helfen in dem Namen Gottes!“
Da ging der Drache aus dem Wasser hervor und die Jung—
frau erschrak. Aber Georg sprang auf sein Roß, machte das Kreuz
vor sich, ritt gegen ihn und stieß ihn nieder. Dann rief er der
Jungfrau zu: „Seht, Euch geschieht kein Leid! Nun nehmt
Euren Gürtel und legt ihn dem Wurm um den Hals, so wird
Gott viel Wunder erzeigen dem Volk zum Trost!“ Sie nahm
ihren Gürtel und schlang ihn dem Drachen um den Hals und
führte ihn mit sich in die Stadt; er folgte ihr wie ein zahmes
Hündlein. Das Volk aber fürchtete sich und floh. Da rief Sankt
Georg: „Bleibet hier; denn mich hat Jesus Christus gesandt,
daß ich euch erlöse von dem Drachen! Darum glaubet an Gott
und empfanget die Taufe und laßt die Abgötter fahren, denn
es sind böse Feinde. Tut ihr das, so schlag' ich den Drachen
zutod.“ Da war das Volk froh und willigte darein und Sankt
Georg erschlug den Drachen. Hundert Ochsen brachte man
zur Stelle, die mußten den toten Drachen hinwegziehen.
Darnach predigte Sankt Georg dem Volk von Gott und
von der Taufe. Und der König war froh, daß er seine Tochter
wieder hatte, und sprach zu Sankt Georg: „Wir haben viel
Gutes von dir erfahren; darum wollen wir tun, was du willst!“
und gab ihm viel Gold und Silber. Aber Georg sprach: „Willst
du mir Gut geben, so gib armen Leuten an meiner Statt, damit
dienest du Gott.“ Da ließ der König ein Münster bauen Unsrer
Frauen zu Ehren. Und Gott tat ein Zeichen seiner Mutter zu⸗
lieb: es entsprang ein klares Wasser auf dem Altar und das
Wasser hatte die Kraft, welcher Mensch siech war und trank von
dem Wasser, der war alsbald gesund. Und von dem Zeichen
ward der Christenglaube gar sehr gestärkt in der Stadt.
Was Sankt Georg sie lehrte, das hielten sie fleißiglich und
hatten ihn lieb und ehrten ihn. Das ward ihm schwer. Und
ob sie ihn auch baten, daß er bei ihnen bliebe, so schied er doch
von ihnen. Und zog weit umher in allen Landen und half den
Armen und Bedrängten und mehrte den Christenglauben.
Richard Benz.
27. Vom heiligen Christophorus.
Im Lande Kanaan lebte der Heide Offerus, der war
von gewaltiger Körperkraft und maß bei zwölf Ellen. Er sprach
bei sich: „Ich will in die Fremde wandern und nach dem mäch—
tigsten Herrn fragen, dem will ich dienen.“ Da wies man ihn
zu einem großen Fürsten, der über viel Land und Leute herrschte.
Der König empfing ihn wohl und war seiner Stärke froh. Als
er aber etliche Zeit bei ihm war, sang des Königs Spielmann
einst ein Lied, darin der Teufel genannt war. Da machte
der König ein Kreuz vor sich, denn er war ein Christ. Offerus
verwunderte sich darob und fragte: „Herr, was meinst du, daß
du zween Strich vor dich tust?“ Aber der König wollte es ihm
nicht sagen. Sprach Offerus: „So bleibe ich nicht länger bei
dir.“ Antwortete der König: „Du sollst die Wahrheit wissen.
Ich segne mich mit diesem Zeichen, wenn man den Teufel
nennet vor mir, so kann er mir nichts anhaben.“ Da sprach
Offerus: „Fürchtest du dich vor ihm und ist seine Macht so groß,
daß er dir schaden mag, so habe ich dir lange genug gedient; ich
will ihn selbst suchen, bis ich ihn finde, und will ihm dienen, der
gewaltig ist über dich.“
Also machte er sich auf und suchte den Teufel allenthalben.
Aber wen er darum fragte, der konnte ihn nicht weisen. Eines
Tages kam er in eine große Wildnis und darnach auf ein weites
Feld; da sah er eine Schar gewappneter Ritter reiten, ihre
Helme und Rüstungen gleißten im Sonnenschein. Unter ihnen
war einer, schwarz und greulich anzusehen, der ritt mit großer
Gewalt und ritt von den andern und kam zu Offerus und sprach
zu ihm: „Wen suchest du?“ Er antwortete: „Ich suche den
Teufel, denn ich wäre gern sein Knecht.“ Sprach der Ritter:
„Ich bin der Teufel.“ Da gelobte ihm Offerus seinen Dienst
und der Teufel führte ihn mit sich.
Nun kamen sie einstmals auf eine Straße, da stund ein
Kreuz am Wege. Als das der Feind sah, fuhr er zur Seite
und wollte den Weg nicht reiten. Offerus verwunderte sich
darob und sprach zu ihm: „Herr, sag' mir, warum reitest du den
krummen Weg?“ Der Teufel hätte es ihm gern verschwiegen;
aber Offerus sprach: „Du sollst mir die Wahrheit sagen oder
ich diene dir keinen Tag mehr.“ Da sprach der Teufel: „Es
stund des Kreuzes Zeichen an dem Weg, daran Christus er—
hangen ward; das Zeichen fürcht' ich sehr und muß es allzeit
fliehen.“ Sprach Offerus: „Wenn du sein Zeichen fliehen
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mußt, so ist er größer denn du und ich habe dir umsonst gedient.
Leb wohl, ich muß Christum suchen, der gewaltig ist über dich.“
Also schied er von dem Teufel. Darnach ging er hin und
suchte den Herrn Christus allenthalben; aber wen er fragte,
der konnte ihn nicht weisen. Endlich kam er zu einem Ein⸗
siedel; der hörte, daß er Christus wolle dienen, und sagte ihm,
wie groß und mächtig der König sei und ein Herr über alle
Dinge, und sprach: „Der König ist sündlichem Leben feind und
will, daß man rein und tugendlich lebe; darum sollst du fasten
und wachen.“ Offerus antwortete: „Ich mag weder wachen
noch fasten.“ Der Einsiedel sprach: „Dein Herr begehrt, daß
du viel betest.“ Offerus antwortete: „Das kann ich nicht tun;
weise mich etwas anderes, damit ich ihm dienen kann!“ Da
sagte der Einsiedel: „Es fließt nicht weit von hier ein großes
Wasser, das hat weder Brücke noch Steg; willst du die Menschen
dahinüber tragen um Gottes willen, so gefällst du deinem Herrn
mit dem Dienst wohl, denn du bist lang und stark und kannst
es gut tun.“ Sprach Offerus: „Das will ich,“ und baute sich
eine Hütte bei dem Wasser. Da kamen viel Menschen zu ihm,
die trug er alle um Gottes willen durch das Wasser. Und er
hatte eine große Stange in seiner Hand, darauf stützte er sich
und war bei der Arbeit Tag und Nacht.
Eines Nachts war Offerus müde und legte sich nieder
und schlief. Da hörte er ein Kind seinen Namen rufen und
stand auf und suchte das Kind überall bei dem Wasser, und
da er niemanden fand, legte er sich wieder nieder. Und wieder
hörte er das Kind rufen und lief hinaus und fand es nicht. Und
legte sich abermals schlafen. Da rief es zum drittenmal. Er
ging heraus; da stand das Kind vor ihm und sprach: „Trag
mich hinüber!“ Er nahm es auf seine Schulter, ergriff seinen
Stab und ging in das Wasser. Aber das Wasser wuchs und das
Kind war so schwer wie Blei und ward immer schwerer. Und
das Wasser ward so hoch, daß er fürchtete, er müßte ertrinken.
Da er in die Mitte des Wassers kam, sprach er: „Eia, Kind,
wie gar schwer bist du! Mir ist, als ob ich alle diese Welt auf
mir trüge.“ Da sprach das Kind: „Du trägst nicht allein die
Welt, du trägst den, der Himmel und Erde geschaffen hat.“
Und das Kind drückte Offerus unter das Wasser und sprach:
„Ich bin Jesus Christus, dein König und dein Gott, dem du
gedient hast. Ich taufe dich in meinem Vater und in mir,
seinem Sohne, und in dem heiligen Geist. Bis jetzt hießest du
Offerus, nun sollst du Christophorus heißen nach mir,
deinem Herrn. Und zum Zeichen, daß ich wahr rede, nimm deine
Stange und stecke sie in die Erde, so wird sie morgen blühen
und Frucht tragen.“ Damit war das Kind verschwunden.
Christophorus ward froh und dankte Gott für die Gnade,
die er an ihm getan, und pflanzte den dürren Stab in die Erde.
Da ward er in einer Nacht zu einem Baum und blühte und
brachte Frucht. Als Christophorus das Wunder sah, gewann er
große Lieb und Treu zu Gott. Sein Amt ließ er hinfort, um
Besseres zu tun. Richard Benz.
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III. Allerlei Scherz.
28. Abenteuer der sieben Schwaben.
1. Die sieben Schwaben waffnen sich.
Als man zählte nach Christi Geburt eintausend und etliche
hundert Jahr, da begab sich's, daß die sieben Schwaben in die
weltberühmte Stadt Augsburg einzogen, und sie gingen sogleich
zu dem geschicktesten Meister allda um sich Waffen machen zu
lassen; denn sie gedachten das Ungeheuer zu erlegen, welches
zur selbigen Zeit in der Gegend des Bodensees übel hauste und
das ganze Schwabenland in Furcht und Schrecken setzte. Der
Meister führte sie in seine Waffenkammer, daß sich jeder einen
Spieß oder sonst was auswählen könnte, was ihm anstand.
„Bigost!“ sagte der Algäuer, „sind das auch Spieße? So einer
wär' mir just recht zu einem Zahnstocher. Meister, nehmt für
mich nur gleich einen Weberbaum von sieben Mannslängen!“
„Potz Blitz!“ sagte der Blitzschwab, „Algäuer, prahle doch nicht
allzusehr!“ Der Algäuer sah ihn mit grimmigen Augen an,
als wolle er ihn damit durchbohren. „Eigentlich hast du recht,
Männle,“ sagte der Blitzschwab und streichelte ihm das Kinn,
„und ich merke deine Meinung: wie alle sieben für einen, so
für alle sieben nur einen.“ Der Algäuer verstand ihn nicht,
sagte aber: „Ja“ und den andern war's auch recht. Und so ward
denn ein Spieß von sieben Mannslängen bestellt und in einer
Stunde war er fertig.
Ehe sie aber die Werkstatt verließen, kaufte sich jeder noch
etwas Besonderes: der Knöpfleschwab einen Bratspieß, der
Algäuer einen Sturmhut mit einer Feder drauf, der Gelbfüßler
Sporen für seine Stiefel — sie seien nicht nur gut zum Reiten,
sagte er, sondern auch zum Hintenausschlagen. Der Seehas
aber wählte einen Harnisch, sagend, Vorsicht sei zu allen Dingen
Lesebuch für Höhere Mädchenschulen. 1.
nütze; des Guten könne man nicht zu viel tun und nutze es nichts,
so schade es auch nichts. Und nachdem sie wie ehrliche Leute
alles richtig auf Heller und Pfennig bezahlt und zuletzt noch beim
Metzger am Gögginger Tor gute Augsburger Würste eingekauft
hatten, zogen sie zum Tor hinaus und ihres Weges weiter.
Der Algäuer, der an der Spitze ging, stimmte sein Post—
hörnle an und blies ein Trompeterstückle; hinter ihm kam der
Seehas und dann der Nestelschwab; drauf folgte der Blitzschwab,
dann der Spiegelschwab und ganz hintennach wackelte und schnaufte
der Knöpfleschwab mit seinen Hafen und Pfannen. Und sie
trugen zusammen Mann für Mann den Spieß und sahen schier
aus wie gespießte Lerchen.
2. Die sieben Schwaben schwimmen durch ein
blaues Meer.
In Memmingen waren unsre Schwaben bei einem Wirt
am Leutkircher Tor eingekehrt und hatten sich am Märzenbier
vollgetrunken, daß ihnen nicht mehr recht klar gewesen ist im
Kopf. Denn sie waren kaum außer dem Tor, so verirrten sie
sich in den Hopfengärten und verloren die Landstraße. Wie
sie aufs freie Feld kamen, sagte der Algäuer: „Bigost, es ist
ein Ding! Haben wir keinen Weg, so machen wir uns einen;
die Iller werden wir doch finden und dann kann die Brücke auch
nicht weit davon sein.“ Und so ging es denn fort über das Brach—
feld, hopp, hopp! und der Algäuer blies, der Blitzschwab sang,
der Knöpfleschwab keuchte und stolperte und fiel ein um das
andere Mal und mußte gleichwohl wieder aufstehen.
Inzwischen fing es an dunkel zu werden, und sie irrten
umher. Da standen sie auf einmal an einem Abhang und unten,
so deucht' es ihnen, lag ein See, der Wellen schlug. Es war
aber ein Feld voll Flachses, der in der Blüte war. Und da der
Wind heftig blies, so wallte und wogte es wohl, aber es war
kein Wasser. „Potz Blitz!“ rief der Blitzschwab. „Was ist da
zu machen? Durch müssen wir, sonst kommen wir nicht an Ort
und Stelle. Algäuer, mach' den großen Christoph und trag
uns hinüber!“ „Bigost!“ sagte der Algäuer. „Ins Wasser
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mag ich wohl gehen, aber weiter nicht als bis an den Hals.“
Der Knöpfleschwab stand betrübt da und lugte ins Wasser hinab
um zu schauen, ob keine Walfische drin seien. Das sah der Blitz—
schwab und er ging ganz stet hinterrücks auf ihn zu und sagte:
„Frisch gewagt ist halb gewonnen!“ und gab ihm einen Stoß,
daß er, plumpf! drunten lag.
„Der sinkt nicht,“ sagte der Gelbfüßler, „es muß doch nicht
tief genug sein, da kann man's wagen,“ und hüpfte flink und
frisch hinunter wie ein Laubfrosch. Ihm folgte der Blitzschwab,
nachdem er vorher einen tüchtigen Anlauf genommen hatte.
„Bigost!“ sagte der Algäuer. „Der letzte will ich auch nicht sein,“
warf den Spieß voraus und hüpfte nach. Der Nestelschwab aber
hatte sich an dessen Hosenbund gehängt und fiel darum unten
gemächlicher auf als die übrigen und dies war das einzige Mal,
daß er gescheit getan.
Da lagen sie nun alle anfangs unbeweglich wie die Holz—
blöcke, dann rührten und streckten sie ihre Glieder wie halb
zerstampfte Würmer, dann krochen sie allmählich heraus wie
Schnecken aus ihrem Häusle; endlich standen sie wiederum da
wie andere Menschen und sagten kein Wörtle, sondern griffen
bloß nach ihren Rippen, ob sie noch ganz seien. Und nachdem
sie den Spieß aufgefischt hatten, zogen sie querfeldein weiter.
3. Die sieben Schwabenbestehen den Strauß.
Als die sieben Schwaben nach vielen Tagen des Sees
ansichtig wurden, sagte der Seehas: „Das ist der Bodensee!“
Sie blieben stehen und rissen Maul und Augen auf. „Bigost!“
sagte der Algäuer. „Das ist eine Lache so groß, man könnte
den Grünten drin ersäufen.“ Und der Spiegelschwab fragte
den Seehasen, ob das Wildenten seien, was man dort in der
Ferne sehe. Es waren aber Schiffe. Und der Gelbfüßler wollte
wissen, ob jenseit drüben auch Leute wohnen wie hüben. Und
einer um den andern fragte dies und jenes und der Seehas er—
zählte und sagte, es sei dies das deutsche Meer — müßten sie
wissen — und es habe einen Umfang von wenigstens hundert
Meilen — er lüge nicht. Und der See, sagte er, habe gar keinen
Grund und Boden, darum heiße er eben auch der Bodensee,
wie leicht zu begreifen sei. Und bei stillem hellem Wetter sehe
man versunkene Städte und Schlösser drin und ganze Land⸗
schaften, sagte er. Und Fische geb' es drin so groß wie das
Konstanzer Münster — er lasse nichts abmarkten. „Potz Blitz!“
sagte der Blitzschwab ein um das andere Mal. Die andern aber
sagten kein Wörtle. Nachdem sie sich nun schier die Augen aus—
gelugt hatten, zogen sie fürder, an Überlingen vorbei, gegen
den Wald zu, wo das Ungeheuer hauste.
Ehe sie aber in den Strauß gingen, wollten sie noch eine
Herz⸗ und Magenstärkung zu sich nehmen und der Knöpfleschwab
sparte weder Schmalz noch Salz um das Henkermahl recht
appetitlich zu machen. Als sie nun so um die Pfanne herum
saßen und sich die gerösteten Spätzle schmecken ließen, sagte der
Algäuer, indem er einen Seufzer holte bis von der untersten
Zehe herauf: „'s ist eine Sach', wenn man bei sich so recht be⸗
denkt, daß man zum letztenmal in seinem Leben zu Mittag ißt.“
Das Wort fiel dem Blitzschwaben auf das Herz und er tat auch
einen Seufzer und sang gar kläglich und beweglich für sich hin.
Der Seehas redete ihnen Mut zu, sagend: „Liebe Leute, denkt,
Tod hilft aus aller Not. Wer im Grab liegt, der ist wohl ge—
bettet. Doch wir wissen ja noch nicht, ob unser Stündle ge⸗
kommen ist.“ Aber der Algäuer lugte immer noch finstrer drein
und ließ den Kopf immer tiefer hangen und holte wieder einen
Seufzer und sagte: „'s ist e Sach'!“ Und der Knöpfleschwab
fing an still vor sich hin zu greinen. Dann holte der Algäuer zum
driltenmal einen Seufzer und sagte: 's ist e Sach' in so herz⸗
brechender Weise, daß alle zu flennen und zu heulen anfingen. —
Es war nun an der Zeit, daß sich die sieben Schwaben in
Schlachtordnung stellten. Der Seehas meinte, sie sollten alle
sogleich in der Reihe losziehen wie bis hierher und der Knöpfle⸗—
schwab gab ihm recht und meinte, man solle keine Neuerung
machen. Aber der Algäuer sagte, er wolle jetzt einmal der Letzte
sein, denn er sei lang genug der Erste gewesen. „Courage,“
sagte der Blitzschwab, „hab' ich genug im Leib, das könnt ihr
mir glauben; aber ich hab' nicht genug Leib für die Courage
und für die Bestie.“ Der Nestelschwab meinte, warum denn
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gerad einer der Erste und einer der Letzte sein sollte; sie sollten
sich nur alle in der Mitte halten, so geschehe keinem kein Weh.
„Und ich meine,“ sagte der Spiegelschwab, „es ist am allerbesten,
daß einer für alle stirbt. Knöpfleschwab, was meinst? Wie ist
dir? Du wärst so der rechte Bissen.“ Der aber schrie und
stampfte und zappelte mit allen vieren, als ob er schon an dem
Spieß stecke. Nun nahm der Seehas das Wort und sagte: „Liebe
Freunde und Landsleute! Frisch gezuckt ist halb gefochten.
Es ist nichts besser denn ein guter Mut in bösen Sachen.“ Drauf
wandte er sich an den Gelbfüßler und sagte zu ihm: „Geh, Jackele,
geh du voran, du hast Sporen und Stiefel an, daß dich das Tier
nicht beißen kann.“ Und der Gelbfüßler ließ sich dazu bewegen
und sagte zu sich selbst: Entweder läuft das Tier davon, dann
lauf' ich ihm nach oder es läuft mir nach, dann lauf' ich davon
und so kriegen wir uns beide nicht unser Leben lang.
Darauf zogen die sieben Schwaben in den Strauß, hübsch
langsam voran gegen den Busch zu, wo, wie der Seehas sagte,
der Drache sein Nest hatte. Und wie sie nun immer weiter vor—
dringen und lugen und lauschen, liegt da ein Has im Busch,
der lugt und lauscht auch und macht ein Männle und erschrickt
und läuft davon. Die sieben Schwaben aber blieben stehen ganz
erstaunt und erstarrt. „Hast 's gesehen? Hast 's gesehen?“
rief einer um den andern. „Und es war so groß wie ein Pudel—
hund — wie ein Mastochs — wie ein Trampeltier!“ sagte einer
um den andern. „Bigost!“ sagte zuletzt der Algäuer. „Wenn
das kein Has gewesen ist, so weiß ich den Grünten von keinem
Hügel zu unterscheiden.“ „Nu ja, Has hin, Has her!“ sagte der
Seehas. „Ein Seehas ist halt größer und grimmiger als alle
Hasen im heiligen deutschen Reich.“ Und das hat er gut gemacht.
Ludwig Aurbacher.
29. Schwäbische Kunde.
Als Kaiser Rotbart lobesam
Zum heil'gen Land gezogen kam,
Da mußt' er mit dem frommen Heer
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Durch ein Gebirge wüst und leer.
Daselbst erhub sich große Not,
Viel Steine gab's und wenig Brot
Und mancher deutsche Reitersmann
Hat dort den Trunk sich abgetan.
Den Pferden war's so schwach im Magen,
Fast mußt' der Reiter die Mähre tragen.
Nun war ein Herr aus Schwabenland,
Von hohem Wuchs und starker Hand,
Des Rößlein war so krank und schwach,
Er zog es nur am Zaume nach;
Er hätt' es nimmer aufgegeben
Und kostet's ihm das eigne Leben.
So blieb er bald ein gutes Stück
Hinter dem Heereszug zurück.
Da sprengten plötzlich in die Quer
Fünfzig türkische Reiter daher;
Die huben an auf ihn zu schießen,
Nach ihm zu werfen mit den Spießen.
Der wackre Schwabe forcht sich nit,
Ging seines Weges Schritt vor Schritt,
Ließ sich den Schild mit Pfeilen spicken
Und tät' nur spöttlich um sich blicken,
Bis einer, dem die Zeit zu lang,
Auf ihn den krummen Säbel schwang.
Da wallt dem Deutschen auch sein Blut,
Er trifft des Türken Pferd so gut,
Er haut ihm ab mit einem Streich
Die beiden Vorderfüß' zugleich.
Als er das Tier zu Fall gebracht,
Da faßt er erst sein Schwert mit Macht;
Er schwingt es auf des Reiters Kopf,
Haut durch bis auf den Sattelknopf,
Haut auch den Sattel noch zu Stücken
Und tief noch in des Pferdes Rücken.
Zur Rechten sieht man wie zur Linken
Einen halben Türken heruntersinken.
Da packt die andern kalter Graus;
Sie fliehen in alle Welt hinaus
Und jedem ist's, als würd' ihm mitten
Durch Kopf und Leib hindurchgeschnitten.
Drauf kam des Wegs 'ne Christenschar,
Die auch zurückgeblieben war;
Die sahen nun mit gutem Bedacht,
Was Arbeit unser Held gemacht.
Von denen hat's der Kaiser vernommen.
Der ließ den Schwaben vor sich kommen;
Er sprach: „Sag an, mein Ritter wert,
Wer hat dich solche Streich' gelehrt?“
Der Held bedacht' sich nicht zu lang:
„Die Streiche sind bei uns im Schwang;
Sie sind bekannt im ganzen Reiche,
Man nennt sie halt nur Schwabenstreiche.“
Ludwig Uhland.
30. Schildbürgerstreiche.
1. Die Schildbürger bauen ein Rathaus.
Da die Schildbürger forthin ein anderes Regiment, anderes
Wesen und Leben anzunehmen und zu bestellen entschlossen
waren, so sollte zu einem recht glückhaften Anfange zuerst ein
neues Rathaus auf gemeinschaftliche Kosten erbaut werden, ein
solches, das auch Raum für ihre Narrheit hätte und dieselbe wohl
ertragen und leiden könnte.
Und wie nun alles verabredet war, was zu einem so wich—
tigen Werke notwendig erfordert wird, fand sich's, daß nichts
mehr mangelte, als ein Pfeifer oder Geiger, der mit seinem lieb⸗
lichen Sang und Klang Holz und Steine herbeigeholt hätte, um
sie in feiner Ordnung zu diesem Bau aufeinander zu legen.
Da aber ein solcher nirgends zu finden war, so vereinigten sie sich
gemeinschaftlich das Werk anzugreifen, jeder dem andern zu
helfen und nicht eher aufzuhören, als bis der ganze Bau auf—
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geführt und vollendet wäre. Deswegen zogen sie samt und
sonders einmütig miteinander ins Holz, das jenseit des Berges
in einem Tale gelegen war, und fingen an nach dem Rate ihres
Baumeisters das Bauholz zu fällen. Als es von den Aten ge—
säubert und ordentlich zugerichtet war, da wünschten sie nichts
anderes zu haben als eine Armbrust, auf der sie es heimschießen
könnten; durch solches Mittel, meinten sie, würden sie unsäg—
licher Mühe und Arbeit überhoben sein. So aber mußten sie
die Arbeit selbst verrichten und schleppten die Bauhölzer nicht
ohne viel Schnaufen und Atemholen den Berg hinauf und jen—
seits wieder mit vieler Mühe hinab — alle bis auf eines, das nach
ihrer Ansicht das letzte war. Dieses fesselten sie gleich den andern
auch an, brachten es mit Heben, Schieben und Stoßen vor und
hinter sich, rechts und links den Berg hinauf und auf der andern
Seite zur Hälfte hinab. Sei es nun aber, daß sie es übersehen
hatten oder daß Stricke und Seile zu schwach waren: kurz, das
Holz entging ihnen und fing an von selbst fein allgemach den
Berg hinabzurollen, bis es zu den andern Hölzern kam, wo es
wie ein anderer Stock stillehielt.
Solchem Verstande dieses groben Holzes sahen die Schild—
bürger bis ans Ende zu und verwunderten sich höchlich darüber.
„Sind wir doch alle,“ sprach endlich einer unter ihnen, „rechte
Narren, daß wir uns solche Mühe gegeben, bis wir die Bäume
den Berg hinabgebracht, und erst dieser Klotz muß uns lehren,
daß sie von selbst besser hätten hinuntergehen können!“ „Nun,
dem ist Rat zu schaffen,“ sagte ein anderer. „Wer sie hinabgetan
hat, der soll sie auch wieder hinauftun. Darum, wer mit mir
dran ist, spute sich! Wenn wir erst die Hölzer wieder hinauf—
geschoben, so können wir sie alle miteinander wieder hinunter—
rollen lassen; dann haben wir mit Zusehen unsere Lust und werden
für unsere Mühe ergötzt!“ Dieser Rat gefiel allen Schildbürgern
über die Maßen wohl; sie schämten sich einer vor dem andern,
daß er nicht selbst so witzig gewesen, und wenn sie zuvor, als sie
das Holz den Berg hinabgebracht, unsägliche Mühe gehabt hatten,
so hatten sie jetzt gewiß dreifache Arbeit, bis sie dasselbe wieder
hinaufbrachten. Nur das eine Holz, das von selber die Hälfte
des Berges hinabgerollt war, zogen sie nicht wieder hinauf um
*
seiner Klugheit willen. Nachdem sie sich so überschafft hatten und
alle Hölzer wieder oben waren, ließen sie dieselben allmählich,
eins nach dem andern, den Berg hinabtaumeln, standen droben
und ließen sich den Anblick wohlgefallen. Ja, sie waren ganz
stolz auf diese Probe ihrer Narrheit, zogen fröhlich heim und
setzten sich ins Wirtshaus, wo sie kein kleines Loch in den Beutel
der Stadt hinein zehrten.
Endlich, nach vollendetem Werke, wollten sie in ihr Rathaus
gehen um dasselbe zu aller Narren Ehre einzuweihen und in aller
Narren Namen zu versuchen, wie es sich darin raten lasse. Kaum
aber waren sie in Ehrbarkeit hineingetreten — siehe, da war es
ganz finster, so finster, daß einer den andern kaum hören, ge⸗
schweige denn sehen konnte. Darüber erschraken sie nicht wenig
und konnten sich nicht genugsam verwundern, was doch die
Ursache sein möchte, ob vielleicht irgendwo ein Fehler beim
Bauen gemacht worden, wodurch das Licht aufgehalten würde.
So gingen sie denn wieder zum Tore hinaus um zu sehen, wo sich
der Mangel befinde. Da standen alle drei Mauern gar voll—
kommen da, das Dach saß ordentlich darauf, auch an Licht mangelte
es draußen nicht. Sobald sie aber wieder hereinkamen, zu forschen,
ob der Fehler drinnen liege, da war es wieder finster wie zuvor.
Die wahre Ursache aber war, daß sie die Fenster an ihrem Rat⸗
haus vergessen hatten; die konnten sie nicht finden noch erraten,
so sehr sie sich auch ihre närrischen Köpfe darob zerbrachen.
Als der festgesetzte Ratstag gekommen, stellten sich die
Schildbürger zahlreich ein, denn es hatte allen gegolten, und
nahmen ihre Plätze ein. Einer von ihnen hatte einen brennenden
Lichtspan mitgebracht und ihn, nachdem sie sich niedergesetzt, auf
seinen Hut gesteckt, damit sie in dem finstern Rathaus einander
sehen könnten, auch der Schultheiß bei der Umfrage einem jeden
seinen Titel und Namen zu geben imstande wäre. Hier ließen
sich nun über den vorgefallenen Handel gar widersprechende
Meinungen vernehmen. Die Mehrzahl schien sich dahin zu
neigen, daß man den ganzen Bau wieder bis auf den Boden
abbrechen und aufs neue aufführen sollte. Da trat einer hervor
und sprach: „Wer weiß, ob das Licht oder der Tag sich nicht
in einem Sack tragen läßt, gleichwie das Wasser in einem Eimer
getragen wird. Unser keiner hat es jemals versucht; darum,
wenn es euch gefällt, so wollen wir dran gehen; gerät's, so haben
wir's um so besser und werden als Erfinder dieser Kunst großes
Lob damit erjagen. Geht es aber nicht, so ist es doch zu unserem
Vorhaben, der Narrheit halber, ganz willkommen und bequem!“
Dieser Rat gefiel allen Schildbürgern dermaßen, daß sie
beschlossen, demselben in aller Eile nachzuleben. Deswegen
kamen sie nach Mittag, wo die Sonne am besten scheint, alle
vor das neue Rathaus, ein jeder mit einem Geschirr, in das
er den Tag zu fassen gedachte, um ihn hineinzutragen. Einige
brachten auch Schaufeln, Hacken, Gabeln mit, aus Fürsorge,
daß ja nichts verabsäumt werde. Sobald nun die Glocke Eins
geschlagen, da konnte man Wunder sehen, wie sie zu arbeiten
anfingen. Viele hatten lange Säcke, darein ließen sie die Sonne
scheinen bis auf den Boden; dann knüpften sie den Sack eilends
zu und rannten damit in das Rathaus den Tag auszuschütten.
Andere taten dasselbe mit verdeckten Gefäßen, als Hafen, Kesseln,
Zubern und was dergleichen ist. Einer lud den Tag mit einer
Strohgabel in einen Korb, der andere mit einer Schaufel; etliche
gruben ihn aus der Erde hervor. Eines Schildbürgers soll be—
sonders gedacht werden, welcher den Tag in einer Mausefalle
zu fangen gedachte und ihn so, mit List bezwungen, ins Haus
tragen wollte. Jeder verhielt sich, wie es sein Narrenkopf ihm
eingab. Und solches trieben sie den langen, lieben Tag, solang
als die Sonne schien, mit solchem Eifer, daß sie vor Hitze fast
erlechzten und unter der Müdigkeit fast erlagen. Sie richteten
aber so wenig damit aus, als vor Zeiten die Riesen, da sie Berge
aufeinander türmten, um den Himmel zu erstürmen. Darum
sprachen sie zuletzt: „Nun, es wäre doch eine feine Kunst gewesen,
wenn es geraten wäre!“ Und darauf zogen sie ab und hatten
doch soviel gewonnen, daß sie auf gemeine Kosten zum Weine
gehen und sich so wieder erquicken und erlaben durften.
Die Schildbürger waren mitten in ihrer Arbeit, als von
ungefähr ein fremder Wandersmann durch die Stadt und an
ihnen vorüber reiste. Dieser stand lange stille, sah ihnen mit
offenem Maule zu und vergaß es wieder zuzumachen; ja, bald
wäre er auch zu einem Schildbürger geworden, so sehr zerbrach
er sich den Kopf darüber, was denn das bedeuten sollte. Abends
in der Herberge, wo er des Wunders willen sich niedergelassen
hatte, fragte er nach der Ursache, warum er sie denn so eifrig in
der Sonne habe arbeiten sehen. Die umstehenden Schildbürger
antworteten ihm ohne Bedenken, daß sie versucht hätten, ob sie
das Tageslicht in ihr neugebautes Rathaus tragen könnten. Der
fremde Geselle war ein rechter Vogel. Er war nicht gesinnt
den Raub, der sich ihm hier anbot, aus den Händen zu lassen;
deswegen fragte er sie ernsthaft, ob sie mit ihrer Arbeit etwas
ausgerichtet hätten. Da sie mit Kopfschütteln antworteten, so
sagte der Geselle: „Das macht, daß ihr die Sache nicht so an—
gegriffen habt, als ich euch wohl möchte geraten haben!“ Dieser
Tagesschimmer von Hoffnung machte die Schildbürger sehr froh
und sie verhießen ihm vonseiten des ganzen Fleckens eine namhafte
Belohnung, wenn er ihnen seinen Rat mitteilen wollte. Dem
Wirt befahlen sie ihm tapfer aufzutragen und vorzusetzen, so daß
der gute Geselle diese Nacht ihr Gast war und redlich ohne Geld
zechte, wie das billig war, da er forthin ihr Baumeister sein sollte.
Am folgenden Tag, als die liebe Sonne den Schildbürgern
ihren Schein wieder gönnte, führten sie den fremden Künstler
zum Rathaus und besahen es mit allem Fleiß von oben bis
unten, vorn und hinten, innen und außen. Da heißt sie der
Geselle, der indessen mit der Schalkheit Rat gepflogen, das Dach
besteigen und die Dachziegel hinwegnehmen, welches auch all—
sogleich geschah. „Nun habt ihr“, sprach er, „den Tag in eurem
Rathaus; ihr mögt ihn darin lassen solange es euch gefällt.
Wenn er euch beschwerlich wird, so könnet ihr ihn wohl wieder
hinausjagen.“ Aber die Schildbürger verstanden nicht, daß er
damit meinte, sie sollten das Dach nicht wieder darauf decken,
sonst würde es wieder so finster werden wie zuvor, sondern sie
ließen die Sache gut sein, saßen in dem Hause zusammen und
hielten den ganzen Sommer über Rat. Der Geselle nahm die
Verehrung, zählte das Geld nicht lange, sondern zog hinweg und
schaute oft hinter sich, ob ihm niemand nacheile, den Raub wieder
von ihm zu nehmen. Er kam auch nie wieder und noch heutigen—
tages weiß niemand, woher er gewesen und wohin er gekommen;
nur dies sagten die Schildbürger von ihm aus, daß sie ihn am
Rücken das letztemal gesehen hätten.
Nun hatten sie mit ihrem Rathause solches Glück, daß es den
ganzen Sommer über, so oft sie zu Rate saßen, nie regnete.
Inzwischen aber begann der liebliche Sommer sein lustiges
Antlitz zu verbergen und der leidige Winter streckte seinen rauhen
Schnabel hervor. Da merkten die Schildbürger bald, daß, wie
einer unter einem großen Wetterhut sich vor dem Regen sicher
stellt, so auch sie sich mit dem Dache wie einem Hute gegen Schnee
und Ungewitter schirmen müßten. Sie hatten daher nichts
Eiligeres zu tun, als das Dach mit gemeinschaftlicher Hand—
reichung wieder zu decken. Aer, siehe da, wie das Dach wieder
eingedeckt war und sie ins Rathaus gehen wollten, da war es
leider wieder ebenso dunkel darin, als es zuvor gewesen war.
Und jetzt erst merkten sie, daß der Wandrer sie häßlich hinter das
Licht geführt habe. Sie mußten aber zu der geschehenen Sache
das Beste reden, setzten sich wieder mit ihren Lichtspänen auf den
Hüten zusammen und hielten geschwind einen Rat darüber,
der sich weit in den Tag hinein zog. Endlich kam die Umfrage
auch an einen, der sich den Ungeschicktesten dünkte. Dieser stand
auf und sagte, er rate eben das, was sein Vater raten werde.
Nach diesem weisen Rat trat er aus der Versammlung um sich
zu räuspern. Wie er nun in der Finsternis (denn sein Lichtspan
war ihm erloschen) an der Wand hin und her krabbelte, wird er
von ungefähr eines kleinen Risses in der Mauer gewahr. Auf
einmal erinnert er sich mit großem Seufzen seiner ersten Weis⸗
heit; daher tritt er wieder hin ein und spricht: „Erlaubet mir ein
Wort zu reden liebe Nachbarn!“ Als ihm dies vergönnt wurde,
sprach er weiter: „Nun, ich frage euch alle darum, sind wir nicht
alle doppeltgebohrte Narren? Wir haben so ängstliche und üble
Zeit mit unserem Rathaus, wenden Unkosten dran und geraten
noch dazu in große Verachtung. Und dennoch ist keiner von uns
so gescheit gewesen, daß er gesehen hätte, daß wir in das Haus
keine Fenster gemacht haben, durch die das Licht hereinfallen
konnte. Das ist doch gar zu grob, zumal im Anfange unserer
Torheit; da sollten wir nicht so auf einmal und mit einem
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Satz hineinplumpen, so daß es auch ein rechter, geborner
Narr merken könnte!“
Über diese Rede erschraken und verstummten die andern
alle. Sie sahen einander an und schämten sich einer vor dem
andern wegen der gar zu plumpen Narrheit. Ohne die Um—
frage abzuwarten, fingen sie darauf miteinander an, allerorten
die Mauern des Rathauses durchzubrechen, und da war kein
Schildbürger unter allen, der nicht sein eigenes Fenster hätte
haben wollen.
2. Die Schildbürger verurteilen einen Krebs
zum Tode
Einmal in Kriegszeiten hatte sich ein unschuldiger, armer
Krebs verirrt und als er vermeinte, in ein Loch zu kriechen,
kam er zu allem Unglück gegen Schilda ins Dorf. Als ihn hier
einige Bürger gesehen hatten, daß er so viele Füße habe, daß
er hinter und vor sich gehen könne, und was ein ehrlicher Krebs
dergleichen Tugenden mehr an sich hat, gerieten sie in großen
Schrecken, denn sie hatten noch nie zuvor einen Krebs gesehen.
Sie schlugen deswegen Sturm, kamen alle über das ungeheure
Tier zusammen und zerquälten sich mit Nachsinnen, was es
denn wohl sein möge. Niemand konnte es wissen, bis zuletzt
der gelahrte Schultheiß sagte, es müsse wohl ein Schneider sein,
dieweil er zwei Scheren bei sich habe. Um dies herauszu—
bringen, legten die Schildbürger den Krebs auf ein Stück nieder—
ländisches Tuch und wo der Krebs hin und her kroch, da schnitt
ihm einer mit der Schere hinten nach; denn sie dachten nicht
anders, denn der Krebs, als ein rechtschaffener Meisterschneider,
entwerfe das Muster eines neuen Kleides, welches sie dann
sofort nachäffen wollten. So zerschnitten sie am Ende das
Tuch ganz, daß es zu nichts mehr nütze war, und merkten
endlich den Betrug.
Da trat einer unter ihnen auf und sagte, daß er einen
erfahrenen Sohn habe, der sei drei Tage lang auf der Wander—
schaft gewesen und auf zwei Meilen Weges weit und breit
gereiset, habe viel gesehen und erfahren; er zweifle nicht daran,
dieser werde dergleichen Tiere mehr gesehen haben und wissen, was
es sei. So wurde der Sohn in den Rat berufen. Dieser besah
das Tier lang von hinten und von vorn; er wußte gar nicht, wo
er es anfassen sollte und wo es den Kopf hätte; denn weil der
Krebs hinter sich kroch, so meinte er, der Kopf wäre, wo der
Schwanz ist. Endlich sprach er: „Nun habe ich doch meine Tage
vieli Wunder hin und her gesehen, so etwas ist mir aber noch nicht
vorgekommen! Wenn ich aber sagen soll, was es für ein Tier
sei, so spreche ich nach meiner Einsicht: wenn es nicht eine Taube
ist oder ein Storch, so ist es gewiß ein Hirsch, denn es scheint ein
Geweih zu haben. Aber unter diesen dreien muß es eines sein.“
Jetzt wußten die Schildbürger soviel wie zuvor und als
ihn einer anfassen wollte, erwischte ihn der Krebs mit der Schere
dermaßen, daß er um Hilfe zu rufen und zu schreien anfing:
„Ein Mörder ist's, ein Mörder!“ Alb die andern Schildbürger
dies sahen, hatten sie daran genug, setzten sich eilig auf der Stätte
selbst, wo der Bauer gebissen worden, zu Gericht und ließen
folgendes Urteil über den Krebs ergehen: „Dieweil niemand
wisse, was es für ein Geschöpf sei, dasselbe sie aber betrogen und
sich für einen Schneider ausgegeben habe, während es doch
offenbar nur ein Leute betrügendes und schädliches Tier sei,
ja ein Mörder: so erkennen sie, daß es solle gerichtet werden als
ein Betrüger und Mörder und zwar, zu mehrerer Schmach, im
Wasser ersäuft werden.“
Demzufolge ward einem Schildbürger der gefährliche Auf⸗
trag gegeben, den Krebs zu fassen und auf ein Brett zu legen;
dieser trug ihn dem Wasser zu und die ganze Gemeinde von Schilda
ging mit; da ward er im Beisein und Zusehen jedermanns ins
Wasser geworfen. Als der Krebs sich wieder in seinem Elemente
fühlte, da zappelte er und kroch hinter sich. Die Schildbürger aber
sahen dies nicht ohne großes Mitleid an. Einige huben an zu
weinen und sprachen: „Schauet doch, wie tut der Tod so wehe!“
3. Schildageht zu Grunde.
Der Krieg war glücklich vorüber, aber die Stunde der Schild⸗
bürger hatte geschlagen. In ihrem Flecken gab es nämlich keine
Katzen, wohl aber so viel Mäuse, daß vor denselben auch im Brot—
korbe nichts mehr sicher war. Was sie nur neben sich stellten, ward
ihnen gefressen und zernagt. Darüber waren sie in großen Angsten.
Da begab es sich, daß wieder ein fremder Wandersmann
durch Schilda zog; der trug eine Katze auf dem Arm und kehrte
bei dem Wirt ein. Der Wirt fragte ihn, was doch dieses für ein
Tier sei. Er sprach, es sei ein Maushund. Nun waren die Mäuse
in Schilda so einheimisch und zahm, daß sie vor den Leuten gar
nicht mehr flohen und am hellen Tage ohne Scheu hin und her
liefen. Darum ließ der Wandersmann die Katze laufen und diese
erlegte vor den Augen des Wirts nicht wenig der Mäuse.
Als der Gemeinde dies durch den Wirt angekündigt wurde,
fragten die Schildbürger den Mann, ob ihm der Maushund feil
wäre, sie wollten ihm denselben gut bezahlen. Er antwortete,
der Hund sei ihm zwar nicht feil; weil sie aber seiner so gar be—
dürftig wären, wollte er ihnen denselben lassen und das um
einen billigen Preis. Und so forderte er hundert Gulden dafür.
Die Bauern waren froh, daß er nicht mehr verlangt hatte, und
wurden mit ihm des Kaufes eins in der Art, daß sie ihm die
Hälfte der Summe bar darlegen sollten, das übrige Geld sollte
er nach Verfluß eines halben Jahres abholen. Der Kauf war
eingeschlagen; der Fremde trug den Schildbürgern den Maus—
hund in ihre Burg, in der sie ihr Getreide liegen hatten und
wo es auch am meisten Mäuse gab.
Der Wandrer zog eilend mit dem Gelde davon; er fürchtete
sich, der Kauf möchte sie gereuen und sie möchten ihm das Geld
wieder abnehmen. Im Gehen aber sah er oft hinter sich, ob
ihm nicht jemand nacheile. Nun hatten die Bauern vergessen zu
fragen, was der Maushund esse. Darum schickten sie dem Wanders—
mann in Eile einen nach, der ihn deshalb fragen sollte. Als nun
der mit dem Gelde sah, daß ihm jemand nachlaufe, eilte er nur
desto mehr. Der Bauer aber rief ihm von ferne zu: „Was isset
er? Was isset er?“ Jener antwortete: „Wie man's beut! Wie
man's beut!“ Der Bauer aber verstand: „Vieh und Leut!
Vieh und Leut!“ Er kehrte in großem Unmut heim und zeigte
das dem Rate an. Dieser erschrak sehr darüber und sprach:
„Wenn er keine Mäuse mehr hat, so wird er unser Vieh fressen
und endlich uns selber, ob wir schon ihn mit unserem guten Gelde
gekauft haben.“ Sie hielten deswegen Rat über die Katze und
wollten sie töten. Es hatte aber keiner das Herz sie anzugreifen.
Endlich beschlossen sie einmütig, die Burg, in welcher die Katze
sich befand, mit Feuer zu vertilgen; denn ein geringer Schaden
wäre besser, als daß sie alle um Leib und Leben kommen sollten.
Und somit zündeten sie ihr eigenes Schloß an.
Als aber die Katze das Feuer roch, sprang sie zu einem
Fenster hinaus, kam davon und floh in ein anderes Haus. Das
Schloß aber brannte vom Boden hinweg. Niemand war in
größerer Angst als die Schildbürger, da sie des Maushundes
nicht loswerden konnten. Sie hielten aufs neue Rat, kauften
das Haus, in dem die Katze jetzt war, und zündeten es auch an.
Aber die Katze entsprang auf ein Dach; da saß sie eine Weile
und putzte sich nach ihrer Gewohnheit mit der Tatze den Kopf;
die Schildbürger aber meinten, der Maushund hebe die Hand
auf und schwöre, daß er solches nicht ungerächt lassen wolle.
Da nahm einer einen langen Spieß um damit nach der Katze
zu stechen. Sie aber ergriff den Spieß und fing an, an demselben
herabzulaufen. Darüber entsetzten sich die Bürger und die ganze
Gemeinde, liefen davon und ließen das Feuer brennen. Dieses
verzehrte den ganzen Marktflecken bis auf ein einziges Haus; die
Katze aber kam gleichwohl davon.
Nach dem Volksbuch.
31. Zwei Stücklein vom Till Eulenspiegel.
1. Eulenspiegel als Bäckerknecht.
Als Eulenspiegel einmal nach Braunschweig in die Bäcker⸗
herberge kam, wohnte ein Bäcker nahe dabei; der rief ihn in
sein Haus und fragte ihn, was für ein Gesell er wäre. Eulen⸗
spiegel antwortete: „Ich bin ein Bäckerknecht.“ A sprach der
Bäcker: „Ich habe jetzt eben keinen Knecht, willst du mir dienen?“
Eulenspiegel sagte: „Ja.“ Als er nun zwei Tage bei ihm ge—
wesen war, hieß ihn der Bäcker auf den Abend backen; denn
er könne ihm nicht helfen vor dem Morgen. Eulenspiegel fragte:
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„Was soll ich aber backen?“ Der Bäcker war ein lustiger Mann
und sprach im Spott: „Du bist ein Bäckerknecht und fragst, was
du backen sollst? Was pflegt man zu backen? Eulen und Meer—
katzen!“ Und damit ging er schlafen.
Da ging Eulenspiegel in die Backstube, machte aus dem
Teig lauter Eulen und Meerkatzen, die ganze Backstube voll,
und buk die. Des Morgens stand der Meister auf und wollte
ihm helfen; als er aber in die Backstube kam, fand er weder
Wecken noch Semmel, sondern nur Eulen und Meerkatzen. Da
ward der Meister zornig und schrie: „Was hast du gebacken?“
Eulenspiegel antwortete: „WVas Ihr mich geheißen habt: Eulen
und Meerkatzen.“ Der Bäcker sprach: „Was soll ich mit den Narre⸗
teien anfangen? Solches Brot nützt mir nichts, das kann ich nicht
zu Gelde machen.“ Und er packte Eulenspiegel am Kragen und
rief: „Bezahle mir meinen Teig!“ Eulenspiegel sprach: „Ja,
wenn ich den Teig bezahle, soll dann die Ware mein sein, die
davon gebacken ist?“ Der Meister antwortete: „Was frag' ich
nach solcher Ware! Eulen und Meerkatzen kann ich nicht brauchen
in meinem Laden.“
Also bezahlte Eulenspiegel dem Bäcker seinen Teig, füllte
die gebackenen Eulen und Meerkatzen in einen Korb und trug
sie aus dem Haus in die Herberge „Zum wilden Mann“. Denn
er dachte bei sich selbst: „Du hast oft gehört, man könne nichts
so Seltsames nach Braunschweig bringen, daß man nicht Geld
daraus löse. Nun war es gerade am St. Niklas-Abend. Da
stellte sich Eulenspiegel mit seiner Ware vor der Kirche auf und
verkaufte die Eulen und Meerkatzen alle und löste viel mehr
Geld daraus, als er dem Bäcker für den Teig gegeben hatte.
Das wurde dem Bäcker hinterbracht. Den verdroß es;
er lief deshalb vor die St. Niklas-Kirche und wollte die Kosten
für das Holz und den Bäckerlohn von ihm abfordern. Aber
Eulenspiegel war schon weg mit dem Gelde und der Bäcker hatte
das Nachsehen.
2 Eulenspregellehrteinen esellegen
In Erfurt, wo eine große und berühmte Universität war,
ließ Eulenspiegel Briefe anschlagen, daß er ein Meister der Ge—
Lesebuch für Höhere Mädchenschulen. 1.
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lehrsamkeit sei und die schwersten Fragen lösen könne. Die
Studenten der Universität hatten schon viel von seiner List ge—
hört und gingen zu Rat, was sie ihm aufgeben könnten, damit
sie nicht mit Schanden bestünden. Nun wurden sie einig, daß
sie einen Esel zu Eulenspiegel in die Lehre tun wollten, weil
es in Erfurt viele Esel gibt, alte und junge. Sie sandten also
zu Eulenspiegel und sprachen „Meister, Ihr habt künstliche
Briefe angeschlagen, daß Ihr eine jegliche Kreatur wolltet in
kurzer Zeit schreiben und lesen lehren. Deshalb wollen Euch
die Herren der Universität einen jungen Esel in die Lehre tun,
wenn Ihr Euch getraut, denselben zu lehren.“ Eulenspiegel
erwiderte: „Ja, aber ich muß Zeit dazu haben, weil es eine
unvernünftige Kreatur ist. Sie wurden also mit ihm einig
auf zwanzig Jahre. Eulenspiegel dachte: Unser sind drei. Stirbt
der Rektor, so bin ich frei; sterbe ich selbst, wer soll mich mahnen;
stirbt mein Schüler, so bin ich auch ledig.
Also nahm Eulenspiegel es an und das Lehrgeld sollte
200 Gulden betragen, wovon sie ihm einen Teil voraus geben
mußten. Da nahm Eulenspiegel den Esel und führte ihn in
seine Herberge „Zum Turm“, wo zu der Zeit ein sehr gewitzigter
Wirt war. Dort bestellte er in der Herberge einen Stall allein
für seinen Schüler, nahm einen alten Psalter und legte ihn dem
Esel in die Krippe und zwischen die Blätter schob er Hafer. Als
dies der Esel inne geworden, warf er die Blätter mit der Zunge
herum und suchte nach den Körnern. Wenn er aber keine mehr
fand, so rief er: J-A! J⸗A!
Als Eulenspiegel dies hörte, ging er zum Rektor und
sprach: „Herr Rektor, wann wollt Ihr einmal sehen, was mein
Schüler macht?“ Der Rektor fragte: „Lieber Meister, nimmt
er denn Eure Lehre an?“ Eulenspiegel antwortete: „Er ist von
unmäßig grober Art und schwer zu belehren; doch habe ich ihn
mit viel Fleiß und Arbeit dahin gebracht, daß er etliche Buch—
staben und sonderlich einige Vokale kennt und nennen kann.
Wollt Ihr mit mir gehen, so sollt Ihr es hören und sehen.“
Der gute Schüler hatte bis drei Uhr nachmittags gefastet.
Als nun Eulenspiegel mit dem Rektor und etlichen Magistern
kam, legte er seinem Schüler ein neues Buch vor. Sobald der
Esel das Buch in der Krippe fand, warf er die Blätter hin und
her den Hafer zu suchen; als er ihn aber nicht fand, fing er an
mit lauter Stimme zu schreien: J-A! J-A! Da sprach Eulen—
spiegel: „Seht, liebe Herren, die zwei Vokale J und A, die kann
er jetzund; ich hoffe, er soll noch gut werden.“ Bald darnach
starb der Rektor. Da verließ Eulenspiegel seinen Schüler und
ging mit dem Gelde hinweg und dachte: Solltest du alle Esel
zu Erfurt weise machen, du würdest lange leben müssen.
Nach dem Volksbuch.
32. Der betrogene Teufel.
Der Teufel ist bekanntlich dumm,
Es weiß die ganze Welt darum;
So mancher hat ihn schon betrogen
Und an der Nas' herumgezogen,
Wie man in Mären und Geschichten
Gar mannigfaltig tut berichten. —
So auch mit einem Bauersmann
Fing einst er einen Handel an;
Doch diese Sache ward ihm leid,
Denn dank des Bauers Pfiffigkeit,
Da sah er bald ganz sonnenklar,
Daß wieder er betrogen war.
Er spuckte Feuer, Rauch und Flammen,
Nahm seinen ganzen Witz zusammen,
Ging einen neuen Handel ein
Und dacht': Der soll mir sicher sein!
Doch klüger war der Bauersmann,
Der wiederum das Spiel gewann.
Der Teufel fluchte wie besessen
Und hätt' den Bauern gern gefressen.
Er zeigte prustend seine Tatzen.
„Du mußt dich morgen mit mir kratzen!“
So schrie er wütig und versank
Mit einem ziemlichen Gestank.
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Der Bauer, der zuvor gelacht,
War nun in große Angst gebracht.
Wer möchte wohl das Ding probieren
Sich solcher Art zu duellieren?
Schon fühlte er die scharfen Klauen
Und ging nach Haus in Furcht und Grauen,
Ihm schmeckte weder Käs noch Brot.
Er klagte seiner Frau die Not
Und dieses Weibsbild war viel schlauer
Als wie der Teufel und der Bauer.
Sie sprach: „Geh du nur morgen aus!
Ich bring' den Urian aus dem Haus
Und niemals soll es ihn verlangen
Dergleichen wieder anzufangen.“
Frühmorgens ging der Bauer fort,
Vertrauend auf des Weibes Wort,
Und diese nahm dann unverwandt
Ein scharfes Messer in die Hand
Und schnitzte eifervoll und frisch
Quer über ihren eichnen Tisch,
Vertrauend ihrem Weiberwitz,
Wohl zolltief einen breiten Schlitz.
Als nun der Teufel kam gegangen,
Um sich den Bauersmann zu langen,
Rumorte sie gar ärgerlich
Und schalt und zeterte für sich,
Bis daß der Teufel fragte: „Schau,
Was ärgert Euch so, kleine Frau?“
Und diese drauf: „'s ist nicht zu sagen
Mit meinem Mann, nicht zu ertragen!
So wütet ja kein wildes Tier!
Ja, zum Verzweifeln ist es schier!
Seht hier den Tisch von Eichenholz,
Mein bestes Stück, mein ganzer Stolz!
Nun denkt Euch nur! Heut morgen wieder
Da fährt's dem Unhold in die Glieder
Und ritsch und ratsch, so bloß zum Witz,
Kratzt er in diesen Tisch den Schlitz!
Gottlob, nur mit dem kleinen Finger!
So ward der Schaden doch geringer;
Denn hätt' den Daumen er genommen,
Da wär' es durch und durch gekommen!“
Dem Teufel ward ein wenig schwül;
Ihm lief ein sonderlich Gefühl
Durch seine rauhbehaarten Glieder.
Er sah bedrückt zum Tisch hernieder
Und heimlich dann auf seine Tatzen
Und dacht': So kann ja ich kaum kratzen!
Ermannte sich und fragte dann:
„Wo bleibt denn Eu'r geehrter Mann?“
„Je nun, wo wird er wieder stecken?
Der wird wohl neues Unheil hecken;
Denn irgendwas trägt er im Sinn.
Zur Schmiede ging er eben hin
Und läßt sich schärfen seine Nägel,
Da gibt's ein Unheil in der Regel!“
Dem Teufel wurde immer flauer,
Bedachte sich das Ding genauer
Und sprach: „Wie kann man so was machen?
Das sind ja ärgerliche Sachen!
Ihr seid wahrhaftig zu bedauern! —
Doch länger will ich hier nicht lauern.
Mir fällt so dies und jenes ein,
Großmutter sitzt auch so allein,
Muß seh'n, was meine Leute machen;
Ihr wißt, gleich gibt's verkehrte Sachen,
Geht nur der Herr ein Stündchen aus.
Grüßt Euern Mann, kommt er nach Haus!
Ich sprech' ihn wohl ein andermal!“
Worauf er schleunigst sich empfahl.
Er fuhr in seine Hölle nieder
Mit Extrapost und kam nicht wieder.
Heinrich Seidel.
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33. Die Trãume.
Als Karl der Fünfte auf der Jagd
Verloren die Genossen,
Da er zu weit sich vorgewagt,
Traf er, von Wald umschlossen,
Ein Wirtshaus an des Weges Rand,
Darinnen er drei Räuber fand.
Als nun den Fremden, stolz geschmückt,
Ersah'n die Räubersleute,
Da waren sie gar hoch beglückt
Ob dieser guten Beute.
Es lachte ihnen schier das Herz
Und „Träumen“ spielten sie zum Scherz.
„Mir träumt,“ so fing der erste an
Und grinste vor Behagen,
„Es kleidet übel diesen Mann
Den schönen Hut zu tragen.
Das ist kein Hut für solchen Tropf,
Der paßt an einen bessren Kopf!“
„Mir träumt,“ so sprach der zweite gleich
Und ließ ein Kichern spüren,
„Wir zieh'n ihm aus, so warm und weich,
Das Wams mit goldnen Schnüren.
In dieser schönen Sommerszeit
Geht's besser sich im Unterkleid.“
Der dritte nahm ihn nun aufs Korn
Und rief: „Was gilt die Wette,
Ihn drückt das schwere Silberhorn
An seiner goldnen Kette!
Mir träumt, daß es am besten paßt,
Wir nehmen ihm die schwere Last.“
„Nie hört' ich,“ sprach der Kaiser dann,
„Von so geschickten Träumen!
Doch eh' ich sie erfüllen kann,
Wollt nur ein wenig säumen,
Bis ich die Kunde euch verschafft
Von dieses Hornes Wunderkraft.“
Der Kaiser stieß das Fenster auf
Und blies ins Horn so helle.
Da kam alsbald in schnellem Lauf
Sein Jagdgefolg zur Stelle.
Der Kaiser sprach: „Ihr seht es hier,
Die Reih' zu träumen ist an mir!
Auch ich hab' einen schönen Traum:
Man soll in einer Reihe
An jenen starken Eichenbaum
Euch hängen alle dreie.“
Und was der Kaiser sprach, geschah.
Zu Ende war das Träumen da.
Heinrich Seidel.
34. Der geheilte Patient.
Reiche Leute haben trotz ihrer gelben Vögel doch manchmal
auch allerlei Lasten und Krankheiten auszustehen, von denen,
gottlob! der arme Mann nichts weiß; denn es gibt Krankheiten,
die nicht in der Luft stecken, sondern in den vollen Schüsseln
und Gläsern und in den weichen Sesseln und seidenen Betten,
wie jener Amsterdamer ein Wort davon reden kann.
Den ganzen Vormittag saß er im Lehnsessel und rauchte
Tabak, wenn er nicht zu träge war, oder hatte Maulaffen feil
zum Fenster hinaus, aß aber zu Mittag doch wie ein Drescher
und die Nachbarn sagten manchmal: „Windet's draußen oder
schnauft der Nachbar so?“ Den ganzen Nachmittag aß und
trank er ebenfalls bald etwas Kaltes bald etwas Warmes ohne
Hunger und ohne Appetit aus lauter Langerweile bis an den
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Abend, also daß man bei ihm nie recht sagen konnte, wo das
Mittagessen aufhörte und wo das Nachtessen anfing. Nach dem
Nachtessen legte er sich ins Bett und war so müd, als wenn er
den ganzen Tag Steine abgeladen oder Holz gespalten hätte.
Davon bekam er zuletzt einen dicken Leib, der so unbe—
holfen war wie ein Maltersack. Essen und Schlaf wollten ihm
nimmer schmecken und er war lange Zeit, wie es manchmal
geht, nicht recht gesund und nicht recht krank; wenn man aber
ihn selber hörte, so hatte er 365 Krankheiten, nämlich alle Tage
eine andere. Alle Ärzte, die in Amsterdam sind, mußten ihm
raten. Er verschluckte ganze Feuereimer voll Mixturen und
ganze Schaufeln voll Pulver und Pillen wie Enteneier so groß
und man nannte ihn zuletzt scherzweise nur die zweibeinige
Apotheke. Aber alle Arzneien halfen ihm nichts; denn er be—
folgte nicht, was ihm die Arzte befahlen, sondern sagte: „Wofür
bin ich ein reicher Mann, wenn ich soll leben wie ein Hund und
der Doktor will mich nicht gesund machen für mein Geld?“
Endlich hörte er von einem Arzt, der 100 Stunden weit
weg wohnte, der sei so geschickt, daß die Kranken gesund werden,
wenn er sie nur recht anschaue, und der Tod geh' ihm aus dem
Weg, wo er sich sehen lasse. Zu dem Arzte faßte der Mann ein
Zutrauen und schrieb ihm seinen Umstand. Der Arzt merkte
bald, was ihm fehle, nämlich nicht Arznei, sondern Mäßigkeit
und Bewegung, und sagte: „Wart, dich will ich bald kuriert
haben!“ Deswegen schrieb er ihm ein Brieflein folgenden
Inhalts: „Guter Freund, Ihr habt einen schlimmen Umstand;
doch wird Euch zu helfen sein, wenn Ihr folgen wollt. Ihr habt
ein bös Tier im Bauch, einen Lindwurm mit sieben Mäulern.
Mit dem Lindwurm muß ich selber reden und Ihr müßt zu mir
kommen. Aber fürs erste, so dürft Ihr nicht fahren oder auf
dem Rößlein reiten, sondern auf des Schuhmachers Rappen,
sonst schüttelt Ihr den Lindwurm und er beißt Euch die Ein—
geweide ab, sieben Därme auf einmal ganz entzwei. Fürs
andere dürft Ihr nicht mehr essen als zweimal des Tages einen
Teller voll Gemüs, mittags ein Bratwürstlein dazu und nachts
ein Ei und am Morgen ein Fleischsüpplein mit Schnittlauch
drauf. Was Ihr mehr esset, davon wird nur der Lindwurm größer,
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also daß er Euch die Leber erdrückt, und der Schneider hat Euch
nimmer viel anzumessen, aber der Schreiner. Dies ist mein Rat
und wenn Ihr mir nicht folgt, so hört Ihr im andern Frühjahr
den Kuckuck nimmer schreien. Tut, was Ihr wollt!“
Als der Patient so mit sich reden hörte, ließ er sich sogleich
den anderen Morgen die Stiefel salben und machte sich auf den
Weg, wie ihm der Doktor befohlen hatte. Den ersten Tag ging
es so langsam, daß wohl eine Schnecke hätte können sein Vor—
reiter sein, und wer ihn grüßte, dem dankte er nicht und wo ein
Würmlein auf der Erde kroch, das zertrat er. Aber schon am zweiten
und am dritten Morgen kam es ihm vor, als wenn die Vögel
schon lange nimmer so lieblich gesungen hätten wie heut, und
der Tau schien ihm so frisch und die Kornrosen im Feld so rot
und alle Leute, die ihm begegneten, sahen so freundlich aus
und er auch und alle Morgen, wenn er aus der Herberge aus—
ging, war's schöner und er ging leichter und munterer dahin
und als er am achtzehnten Tage in der Stadt des Arztes ankam
und den anderen Morgen aufstand, war es ihm so wohl, daß
er sagte: „Ich hätte zu keiner ungeschicktern Zeit können gesund
werden als jetzt, wo ich zum Doktor soll. Wenn's mir doch nur
ein wenig in den Ohren brauste oder das Herzwasser lief' mir!“
Als er zum Doktor kam, nahm ihn der Doktor bei der Hand
und sagte ihm: „Jetzt erzählt wir denn noch einmal von Grund
aus, was Euch fehlt.“ Da sagte er: „Herr Doktor, mir fehlt,
gottlob! nichts und wenn Ihr so gesund seid wie ich, so soll's
mich freuen.“ Der Doktor sagte: „Das hat Euch ein guter Geist
geraten, daß Ihr meinem Rat gefolgt habt. Der Lindwurm
ist jetzt abgestanden. Aber Ihr habt noch Eier im Leib; des—
wegen müßt Ihr wieder zu Fuß heimgehen und daheim fleißig
Holz sägen, daß es niemand sieht, und nicht mehr essen, als Euch
der Hunger ermahnt, damit die Eier nicht ausschlüpfen, so könnt
Ihr ein alter Mann werden,“ und lächelte dazu. Aber der reiche
Fremdling sagte: „Herr Doktor, Ihr seid ein feiner Kauz und
ich versteh' Euch wohl,“ und hat nachher dem Rat gefolgt und
87 Jahre 4 Monate 10 Tage gelebt wie ein Fisch im Wasser so
gesund und hat alle Neujahr dem Arzt zwanzig Dublonen zum
Gruß geschickt. Johann Peter Hebel.
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35. 's Dirndl.
Drob'n auf der Alm, da hockt a Herr,
Der kimmt schier bis von Preußen her;
Ausländ'risch schaugt er si' scho' recht,
Deutsch kann er a bißl, aber schlecht.
„Nu, liebe Frau, möcht' ich mir laben;
Kann ich ein Töpfchen Milch wohl haben?“
„Recht gern,“ sagt d' Send'rin, „wenn i's hätt;
Aber koa Frau, dös bin i net.“
„J, ist an Milch hier solche Not?
Dann, Fräulein, jibt's wohl Butterbrot?“
„Recht gern,“ sagt's, „wenn i nur oans hätt;
Aber koa Fräul'n bin i net.“
„Na, Jungfrau, sei'n Sie nur nicht böse!
Denn jibt's doch wohl 'n Stückchen Käse?“
„Recht gern,“ sagt's, „wenn i nur oan hätt;
Aber koa Jungfrau bin i net.“
„Wie soll ich dann dies Rätsel lösen?
Wer sind Sie denn, verehrtes Wesen?“
„Herrgott“ sagt sie, „is dös a G'walt!
Wer wer' i sein? — A Dirndl halt!“
Karl Stieler.
36. Der Schlosser und sein Gesell.
ASchlosser haut an G'sell'n g'hat,
Der haut su longsam g'feilt,
Und wenn er z' Mittog gess'n haut,
Dau ober haut er g'eilt:
Der eierst' in der Schüss'l drin,
Der letzt' ah wider draus;
Es is ka Mensch su fleißi g'wöst,
Ban Tisch in ganz'n Haus.
Oiz haut amaul der Master g'sagt:
„G'sell, des versteih i niet;
Es is doch su mei Lebta g'wöst
Und, wall i denk, die Ried:
Su wöi mer ärbet, ißt mer ah;
Ba dir geiht's nit asu:
Su longsam haut no kaner g'feilt
Und ißt su g'schwink wöi du.“
„Ja,“ sagt der G'sell, „dös waß i scho,
Haut all's sein gout'n Grund!
Des Ess'n wöhrt halt goar nit lang,
Die Arbet verzi Stund.
Wenn aner möißt' den ganz'n Tog
In an Stück ess'n fort,
Töt's aff die letzt su longsam göih
Als wöi ban Feil'n dort.“
Konrad Grübel.
37. Der Apfeldieb.
Der Gürla aff der Lahmaschüt,
AStriek, wöi 's meih'r git,
Der kröigt amaul an Nammittog
Zo Apf'ln Appetit.
Von Kaf'n is ba ihn ka Ried,
A Bou haut jo ka Göld
Und häit' er ans, su häit'n doch
Die Lust zon Kaf'n g'föhlt.
Dös waß er besser: vur 'n Tur,
Dau is a graußer Gart'n,
A Bam mit Apf'ln steiht dau drin,
Döi ner affs Blot'n wart'n.
Mei Gürla steigt frisch übern Zau
Und klettert aff'n Bahm;
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Su Apf'l, wöi er dau ohtrifft,
Döi sicht mer ner in Trahm.
G'schwind stopft er alli Tasch'n vul
Und gutzt derzwisch'n noh.
Dau kummt der Gärtner mit an Stuk
Die Haptallee dort roh.
Der Gürla röicht den Brout'n glei:
Von Bahm ro, übern Zau;
Der Gärtner fängt ah z'laf'n oh,
Schnaft wöi a Dachs in Bau.
Und übern Zau, dau schreit er naus:
„Du manst, i will di schlog'n?
Na, Klaner, halt, geih her zo mir,
J will der ner wos sog'n!“
Allah der Gürla haut kan Lust
Und ah ka röcht's gout's G'wiss'n.
Er schreit: „A klaner Bou wöi iech,
Der mouß nit alles wiss'n!“
Wolfgang Weikert.
38. Rãtsel⸗Ecke.
1. Es flog ein Vogel federlos
Auf einen Baum blattlos;
Da kam die Magd mundlos
Und fraß den Vogel federlos
Von dem Baum blattlos. (VUraltes Volksrätsel.)
2. Ihr wißt, nur Lenz und Sonne geben
Den andern Blumen sonst das Leben;
Uns hat in kalter Winternacht
Der grimme Frost zur Welt gebracht;
Die Erde hat uns nicht gehegt,
Kein Gärtner freundlich uns gepflegt;
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Wir können kurze Zeit nur prangen;
Denn wenn uns Licht und Wärme droht,
Ist unsre Herrlichkeit vergangen:
Wir alle weinen uns zutod.
Auch darf uns deine Hand nicht pflücken;
Wir sterben, wenn uns Hände drücken.
»Ich hab' ein Loch und mach' ein Loch
Und schlüpfe auch durch dieses noch;
Kaum bin ich durch, so stopft im Nu
Es meine lange Schleppe zu.
Ein Häuslein ist es, wohlbekannt,
Aus lauter Fenstern seine Wand;
Doch der drin wohnet, erst erwacht,
Wenn rings umher ist finstre Nacht,
Sieht durch die Fenster dann sich um,
Geht mit dem Häuslein selbst herum.
(Zweisilbig.)
5. Mein erstes ist nicht wenig,
Mein zweites ist nicht schwer,
Mein Ganzes gibt dir Hoffnung;
Doch traue nicht zu sehr!
z. Ein Ding geht mit gespaltnem Huf
Dahin auf glatten Flächen;
Die Fährte, die es hinterläßt,
Macht manchem Kopfzerbrechen;
Wenn's durstig wird auf seinem Gang,
Tränkt man's an trüben Bächen.
Zu einem Loch schlüpft man hinein,
Zu dreien wieder heraus.
Wer von euch mag so pfiffig sein,
Daß er's gleich bringt heraus?
Besinnt nicht lang euch her und hin,
Ihr steckt ja alle selber drin!
Wer's hat, der ist ein armer Mann,
Wem's fehlt, der ist sehr wohl daran;
Wer's weiß, der ist als dumm bekannt;
Wer's tut, wird Taugenichts genannt;
Wo's leer ist, weilt dies Unglückskind;
Wer's hört, ist taub, wer's sieht, ist blind.
9. Ohne Kopf und ohne Schwanz,
Ohne Knochen bin ich ganz,
Nur aus Fleisch und Blut und Haut
In gar kurzer Zeit gebaut.
Ich gefalle warm und kalt,
Groß und klein,
Grob und fein,
Bin beliebt bei jung und alt;
Ja, man setzt bei frohen Festen
Mich auch vor den frohen Gästen.
10. Auf weißem Feld Verkünden hell
Sind zwei gesellt; Oft ihren Weg.
Sie gehen leis Sie zählen ein
Herum im Kreis, Geschenk dir zu,
Der Große schnell, Das brauche fein,
Der Kleine träg, Es flieht im Nu.
11. Man sieht uns Brüder stets zu zwei'n
In edlem Wettstreit wandern,
Denn jeder will der erste sein;
Doch kann er ohne den andern
Nicht fort und wartet kurze Frist,
Bis jener wieder bei ihm ist,
Läßt ihn auch wohl ein Stück voran
Und überholt ihn rasch sodann.
Und kommen müde sie nach Haus,
So strecken sich die beiden Brüder
Einträchtig auf das Lager nieder
Und ruhen auch zusammen aus.
Nur sind sie beide stumm und blind;
Zuweilen kriegt wohl einer Augen,
Die aber nicht zum Sehen taugen
Und ihm nur höchst beschwerlich sind.
Scherer, Rätselbuch.
Xä
IV. Bilder aus dem Menschenleben.
39. Das Erkennen.
Ein Wanderbursch mit dem Stab in der Hand
Kommt wieder heim aus dem fremden Land;
Sein Haar ist bestäubt, sein Antlitz verbrannt.
Von wem wird der Bursch wohl zuerst erkannt?
So tritt er ins Städtchen durchs alte Tor;
Am Schlagbaum lehnt just der Zöllner davor.
Der Zöllner, der war ihm ein lieber Freund,
Oft hatte der Becher die beiden vereint.
Doch sieh! — Freund Zollmann erkennt ihn nicht,
Zu sehr hat die Sonn ihm verbrannt das Gesicht.
Und weiter wandert nach kurzem Gruß
Der Bursche und schüttelt den Staub vom Fuß.
Da schaut aus dem Fenster sein Schätzel fromm.
„Du blühende Jungfrau, viel schönen Willkomm!“
Doch sieh! — auch das Mägdlein erkennt ihn nicht,
Die Sonn' hat zu sehr ihm verbrannt das Gesicht.
Und weiter geht er die Straß' entlang,
Ein Tränlein hängt ihm an der braunen Wang'.
Da wankt von dem Kirchsteig sein Mütterchen her.
„Gott grüß' Euch,“ so spricht er und sonst nichts mehr.
Doch sieh! — das Mütterchen schluchzet voll Lust:
„Mein Sohn!“ — und sinkt an des Burschen Brust.
Wie sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt,
Das Mutteraug' hat ihn doch gleich erkannt.
Johann Nepomuk Vogl.
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40. Die Schnitterin.
War einst ein Knecht, einer Witwe Sohn,
Der hatte sich schwer vergangen.
Da sprach sein Herr: „Du bekommst deinen Lohn;
Morgen mußt du hangen!“
Als das seiner Mutter kund getan,
Auf die Erde fiel sie mit Schreien:
„O, lieber Herr Graf, und hört mich an,
Es ist der letzte von dreien.
Den ersten schluckte die schwarze See,
Seinen Vater schon mußte sie haben;
Den andern haben in Schonens Schnee
Eure schwedischen Feinde begraben.
Und laßt Ihr mir den letzten nicht
Und hat er sich vergangen,
Laßt meines Alters Trost und Licht,
Nicht schmählich am Galgen hangen!“
Die Sonne hell im Mittag stand,
Der Graf saß hoch zu Pferde;
Das jammernde Weib hielt sein Gewand
Und schrie vor ihm auf der Erde.
Da rief er: „Gut! Eh' die Sonne geht,
Kannst du drei Acker mir schneiden,
Drei Acker Gerste, dein Sohn besteht,
Den Tod soll er nicht leiden.“
So trieb er Spott, hart gelaunt,
Und ist seines Wegs geritten.
Am Abend aber, der Strenge staunt,
Drei Acker waren geschnitten.
Was stolz im Halm stand über Tag,
Sank hin, er mußt' es schon glauben.
Und dort, was war's, was am Feldrand lag?
Sein Schimmel stieg mit Schnauben.
Drei Acker Gerste ums Abendrot
Lagen in breiten Schwaden,
Daneben die Mutter und die war tot.
So kam der Knecht zu Gnaden.
Gustav Falke.
41. Wie das Zicklein starb.
Mein Vater hatte ein schneeweißes Zicklein, mein Vetter
Jok hatte einen schneeweißen Kopf. Das Zicklein kaute gern
an Halmen oder Erlzweigen, mein Vetter gern an einem kurzen
Pfeifchen. Das Zicklein hatten wir, ich und meine noch jüngeren
Geschwister, unsäglich lieb, den Vetter Jok auch. So kamen
wir auf den Gedanken: wir sollten das Zicklein und den Vetter
zusammentun.
Da war's im Heumonat, daß ich eines sonnenfreudigen
Tages all meine Geschwister hinauslockte auf den Krautacker
und daselbst die Frage an sie tat: „Wer von euch hat einen Hut,
der kein Loch hat?“ Sie untersuchten ihre Hüte und Hauben;
aber durch alle schien die Sonne und machte im Schatten auf
dem Erdboden einen oder ein paar lichte Punkte. Nur Jako⸗
berles Hut war ohne Arg; den nahm ich also in die Hand und
sagte: „Der Vetter heißt Jok und morgen ist der Jokopitag und
jetzt was geben wir ihm zum Bindband (Angebinde)? Das
weiße Zicklein.“ „Das weiße Zicklein gehört dem Vater!“ rief
das kleine Schwesterchen Plonele, empört über ein so eigen—
mächtiges Vorhaben. „Desweg ist es ja, daß ich euch den Hut
hinhalte,“ sagte ich. „Du, Jakoberle, hast gestern dem Knie—
rutscher Sepp dein Kinigl Kaninchen) verkauft; du, Plonele,
hast von deinem Göden drei Groschen zum Taufpfennig gekriegt;
dir, Mirzerle, hat vor drei Tagen der Vater ein Haltergeld ge—
schenkt. Schaut, ich leg' meine ersparten fünf Kreuzer hinein
und wir müssen zusammentun, daß wir das Zicklein dem Vater
abkaufen mögen, und das schenken wir morgen dem Vetter.
Nu, jetzt halt' ich schon her!“ Sie guckten eine Weile so drein,
dann huben sie in ihren Taschen zu suchen an. Da sagte das
Plonele: „Mein Geld hat die Mutter!“ und das Mirzerle
Lesebuch für Höhere Mädchenschulen. 1.
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rief erschrocken: „Das meine weiß ich nicht!“ und das Jakoberle
starrte auf den Boden und murmelte: „Mein Sack hat ein Loch.“
Auf diese Weise war mein Unternehmen gescheitert.
Nichtsdestoweniger haben wir das schneeweiße Zicklein
geherzt. Es stieg mit den Vorderfüßchen an unsere Kniee empor
und guckte uns mit seinen großen, völlig eckigen Augen schelmisch
an, als wollte es uns recht spotten, daß wir allmitsammen nicht
soviel an Vermögen hatten, um es kaufen zu können. Es kicherte
und blökte uns ordentlich aus und dabei sahen wir die schnee⸗
weißen Zähnchen. Es war kaum drei Monate alt und hatte
schon einen Bart und ich und das Jakoberle waren über sieben
Jahre hinaus und mußten uns aus grauen Baumflechten einen
Bart ankleben, wenn wir einen haben wollten. Und selbst den
fraß uns das Zicklein vom Gesichte herab. Trotzdem hatten
wir jedes das Vierfüßchen viel lieber als uns untereinander.
Und ich sann auf weitere Mittel mit dem Tiere den Vetter zu
beglücken. Als aber mittags darauf der Vater vom Felde heim—
fuhr, umschwärmten wir ihn alle und zupften an seinen Kleidern.
„Vater,“ sagte ich, „ist es wahr, daß die Morgenstunde Gold
im Munde hat?“ Das war ja sein eigen Sprichwort und so ant⸗
wortete er rasch: „Freilich ist das wahr.“ „Vater,“ riefen wir
nun alle vier zugleich, „wie früh müssen wir all Tag aufstehen,
daß Ihr uns das weiße Zicklein gebt?“ Auf diese geschäftliche
Wendung schien der Vater nicht gefaßt gewesen zu sein. Da
er aber von unserem Vorhaben dem Vetter Jok das Zicklein
zuzueignen, hörte, da bedingte er ein halbes Stündlein früher
aufzustehen jeden Tag und trat uns das liebe Tierchen ab.
Das Zicklein gehörte uns Wir beschlossen einstimmig,
schon am nächsten Morgen noch vor des Vetters Aufstehzeit
und das war viel gesagt — aus dem Neste zu kriechen, das
Zicklein mit einem roten Halsband zu versehen und es ans Bett
des alten Jok zu führen, ehe dieser noch seinen langen, grauen
Pelz, den er Winter und Sommer trug, auf den Leib brachte.
So unser heilig Vorhaben. Aber am andern Morgen, als uns
die Mutter weckte und wir die Lider aufschlugen, schien uns
die Sonne mit solcher Gewalt in die Augen, daß wir dieselben
sogleich wieder schließen mußten, bis die Mutter mit ihrem
Kopftuch das Fenster verhüllte. Nun gab es keine Ausflucht
mehr. Aber der Vetter war längst schon davon mitsamt dem
Pelz. Er hatte die Schafe und die Ziegen auf die Talweide
getrieben, wo er sie stets hütete und den ganzen Tag schmun—
zelnd an seinem Pfeifchen kaute. Und die Tierchen schnappten
so emsig an den betauten Gräsern und Sträuchern und hüpften
und scherzten so lustig auf der sonnigen Weide. Es war auch das
Zicklein dabei. Und hat's dem Jok denn niemand gesagt, daß
heute sein Namenstag ist? —
Zu jener Zeit, von der ich rede, sind die feuerspeienden
Streichhölzer noch nicht erfunden gewesen; dazumal war das
liebe Feuer ein rares Ding. Man konnte es nicht so bequem
mit im Sack tragen wie heute ohne sich das Beinkleid zu ver—
brennen. Es mußte mit harten Schlägen aus Steinen heraus—
getrieben werden; es mußte, kaum geboren, mit Zunder ge—
füttert werden und bedurfte langer Zeit, bis es sich in dem—
selben so weit kräftigte, daß es ein gröberes Köder anbiß und
flügge wurde. Das Feuer mußte zum Dienste des Menschen
jedesmal förmlich erzogen werden. Es war ein mühsam und
heikel Stück Arbeit; beim Feuermachen konnte meine sonst so
milde Mutter unwirsch werden. Die Glut, des Abends noch so
sorgsam in der Herdgrube verwahrt, war das Morgens zumeist
erloschen. Was sich die Mutter auch mühte, den Funken in der
Asche wieder anzublasen, — all vergebens; das Feuer war
gestorben über Nacht. Nun ging die Schlägerei mit Stein und
Stahl an und wir Kinder waren oft schon recht hungrig, ehvor
die Mutter das Feuer zuweg brachte, welches uns die Morgen—
suppe kochen sollte. So auch am Morgen von des Vetters
Namenstag. Wir hatten draußen in der Küche wohl ene Weile
das Pfauchen und Feuerschlagen gehört; dann aber rief die
Mutter plötzlich aus: „'s ist gar umsonst! 's ist, wie wenn der
bös Feind in die Herdgruben hätt' gespuckt. Und der Stein
hat keinen Funken Feuer mehr in sich und der Schwamm ist
feucht und die Leut' warten auf die Suppen!“ Dann kam sie
in die Stube und sagte: „Geh, Peterle, ruck und lauf geschwind
zu der Knierutscherin hinüber: ich tät' sie gar schön von Herzen
bitten, sie wollt' mir ein Haferl Glut schicken von ihrem Herd.
99
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Und trag ihr dafür da den Brotlaib mit. Geh, Peterle, ruck,
daß wir nachher eine Suppen kriegen!“
Ich hatte mein weißes Linnenhöselein gleich an und wie
ich war — barfuß, barhaupt, nahm ich den runden, recht ge—
wichtigen Brotlaib unter den Arm und lief gegen das Knie—
rutscherhaus. „Du, Sonnenschein,“ sagte ich unterwegs, „schäm'
dich, du kannst nicht einmal ein Süpplein wärmen! Jetzt muß
ich zu der Knierutscherin um Feuer gehen. Aber wart' nur,
wird bald lustig sein auf unserem Herd, die Flammen werden
aufhüpfen über das Holz, die Mauer wird rot leuchten, die Töpfe
werden brodeln, der Rauch wird unter den Feuerhut hinaus—
sprudeln und den Rauchfang hinauf und wird dich verdecken.
Recht hat er, wenn er dich verdeckt! Dann essen wir die Suppen
und den Sterz im Schatten und den Eierkuchen auch, der heut'
für den Vetter Jok gebacken wird, und du sollst von allem nichts
sehen.“
Als ich nach solchem Gespräche mit der Sonne über die
Lehne ging, da stach mich ein wenig der Vorwitz. Mein Brotlaib
war so kugelrund und fest, als wäre er aus Lärchenholz gedrechselt
worden. Man läßt bei mir daheim das Brot gern altgebacken
werden, es langt auf diese Weise doppelt aus, gleichwohl es
zur Essenszeit zuweilen mit Eisenschlegeln zertrümmert werden
muß. Aber weil denn mein Laib gar so kugelrund war, wie nicht
leicht etwas Runderes mehr zu finden ist, so ließ ich ihn los über
die Lehne, lief ihm behende vor und fing ihn wieder auf. War
ein herzlich lustiges Spiel das und ich hätte mögen all meine
Geschwister herbeirufen, daß sie es sehen und mitmachen könnten.
— Wie ich nun aber so in meiner Freude die Lehne auf und ab
hüpfe, spielt mir mein Brotlaib jählings den Streich und huscht
mir wie der Wind zwischen den Beinen durch und davon. Er
eilt und hüpft hinab, viel schneller wie ein Reh vor dem Jagd—
hunde; er fährt über den Hang, setzt hoch über den Rain in die
Talweide hinab, wo er meinen Augen entschwindet. Bin da—
gestanden wie ein Klotz und hab' gemeint, ich müßt' umfallen
vor Schreck und auch hinabkugeln gegen das Tal. Ich ging
eine Weile hin und her, auf und ab, und da ich den Laib nirgends
sah, schlich ich kopfhängerig davon und ins Haus der Knierutscherin.
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Da brannte freilich ein schönes, großes Feuer auf dem
Herde. „Was willst denn, Peterle?“ fragte die Knierutscherin
freundlich. „Bei uns,“ stotterte ich, „ist das Feuer ausgangen,
wir mögen uns nichts kochen und so läßt meine Mutter schön
bitten um ein Haferl Glut und sie tät es schon fleißig wieder
zurückstellen.“ „Ihr Närrlein, ihr, wer wird denn so ein paar
Kohlen zurückstellen!“ rief die Knierutscherin und schürte mit
der Feuerzange Glut in einen alten Topf. „Da seh', ich laß
deiner Mutter sagen, sie soll nur schön anheizen und dir einen
recht guten Sterz kochen. Aber schau, Peterle, daß dir der Wind
nicht hineinbläst, sonst trägt er die Funken auf das Dach hinauf.
So, jetzt geh' nur in Gottes Namen!“ So gütig war sie mit
mir und ich hatte ihr den Brotlaib verscherzt. Des drückt mich
das Gewissen heute noch hart.
Als ich endlich mit dem Feuertopfe zurück gegen unser
Haus kam, war ich höchlich überrascht, denn da sah ich aus dem
Rauchfang bereits einen blauen Dunst hervorsteigen. „Dich
soll man um den Tod schicken und nicht um Feuer!“ rief die
Mutter, als ich eintrat; dabei wirtete sie um das lustige Herdfeuer
herum und sah mich gar nicht an. Meine kaum mehr knisternden
Kohlen waren so armselig gegen dieses Feuer; ich stellte den
Tobf betrübt in einen Winkel des Herdes und schlich davon.
Ich war viel zu lange aus gewesen; da war zum Glück der Vetter
Jok von der Talweide heimgekommen und der hatte ein
Brennglas, das er in der Sonne über einen Zunder hielt,
bis derselbe glimmte. Und jetzt war mir die verlästerte Sonne
doch noch zuvorgekommen mit dem Suppenfeuer. Ich war
sehr beschämt und vermag es heute noch nicht der Wohltäterin
offen in das Angesicht zu blicken.
Ich schlich auf den Hausanger. Dort sah ich den Vetter
kauern in seinem langen, grauen, rotverblümten Pelz und
mit seinem weißen Haupt. Und als ich näher kam; da sah ich,
warum er hier so kauerte. Das schneeweiße Zicklein lag vor
ihm und streckte seinen Kopf und seine Füße von sich und der
Vetter Jok zog ihm die Haut ab. Sogleich hub ich laut zu
weinen an. Der Vetter erhob sich, nahm mich bei der Hand
und sagte: „Da liegt es und schaut dich an!“ Und das Zicklein
E
starrte mir mit seinen verglasten Augen wirklich schnurgerade
in das Gesicht. Und doch war es tot. „Peterle,“ lispelte der
Vetter ernsthaft, „die Mutter hat der Knierutscherin einen
Brotlaib geschickt.“ „Ja,“ schluchzte ich, „und der ist mir davon
gegangen, hinab über die Lehnten.“ „Weil du's eingestehst,
Bůbel,“ sagte der Vetter Jok, „so will ich die Sach' schon machen,
daß dir nichts geschieht. Ich hab' zu der Mutter gesagt, ein
Stein oder so was wär' herabgefahren und hätt' das Zicklein
erschlagen. Hab' mir's im geheim gleich gedacht, das Peterle
steckt dahinter. Dein Brotlaib ist schier in den Lüften daher—
gekommen nieder über den hohen Rain, an mir vorbei, dem
Zicklein zu, hat es just am Kopf getroffen; — ist das Dingelchen
hingetorkelt und gleich maustot gewesen. Aber, — fürcht' dich
nicht, es bleibt beim Stein; mit der Knierutscherin werd' ich's
auch abmachen. Und jetz sei still, Bübel, und zerr' mir das
Gesicht nicht so garstig auseinander! Auf die Nacht essen wir
das Tierlein und die Mutter kocht uns eine Krensuppe dazu.“
So ist das Zicklein gestorben. Meine Geschwister er—
zählten mir, ein böser, böser Stein habe es erschlagen. Die
Mutter hatte mir zuliebe meine Kohlen zum Herdfeuer ge⸗
schüttet und bei diesem Feuer wurde das Zicklein gebraten.
Dem Vetter Jok war es vermeint gewesen; nun sollte er davon
den Braten haben. Aber er rief uns alle zu Tisch und legte
uns die besten Bissen vor. Mir hat der meine nicht gemundet.
Am anderen Morgen bewaffnete sich das Jakoberle mit
einem Knittel, ging damit dem Vetter nach auf die Talweide
und wollte den Stein sehen, der das Zicklein erschlug. Hind,“
sagte der Vetter Jok und kaute angelegentlich am Pfeischen,
„der ist weiter gekugelt, über den rinnt das Wasser, der liegt
in der Schlucht.“ Der gute, alte Mann! Mir auf dem Herzen
lag der Stein, der das Zicklein erschlagen.
Peter Rosegger.
42. Auf der Straßenbahn.
In Hitz' und Frost, in Staub und Regen,
Jedwedem Wetter die Stirn entgegen,
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Die Hand an der Kurbel, das Auge gespannt:
So steht der Führer auf seinem Stand.
So steht er von früh bis abends spät.
Das schwatzt um ihn, das kommt und geht,
Das stößt und drängt sich, das scherzt und lacht
Bis in die tiefe Mitternacht.
Starr blickt er hinab in der Straße Gewühl,
Er steht auf Posten, er kennt nur ein Ziel,
Wie's um ihn auch hastet und wirrt und flieht:
Daß nur kein Unglück, kein Unglück geschieht! —
Nur einmal da draußen, da kann es gescheh'n,
Wo grün an der Straße die Bäume noch stehn,
Da bricht ein Lächeln die starre Ruh':
Vom Wegrand blickt fröhlich sein Weib ihm zu,
Sein Junge springt flink an die Vordertür
Und bringt ihm ein Brot und bringt ihm ein Bier,
Fährt jubelnd mit zur Endstation:
Das ist des Tages reichster Lohn. —
Sei jedem, wie und wo er auch fährt,
Solch eine Strecke Weges beschert!
Jakob Loewenberg.
43. Christbrot.
Der Winter war in die Heide gekommen und hatte gleich
Schnee mitgebracht. In blütenweißen, lockeren Flocken rieselte
er vom Himmel hernieder, daß es eine Lust war, dem Weben
und Schweben zuzuschauen. Frau Holle hielte großes Reine—
machen, sagte der alte Schäfer Twille, und nun würden droben
die Betten geklopft und aus den Kissen flögen all' die vielen
Federn auf die Erde. Unsere Mutter aber sagte, die Mutter
Gottes mahle Wolken in der Himmelsmühle zu lauter Flocken
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und die kämen nun vom Himmel und deckten die grünen Saaten
auf den Feldern und die vielen Keime und die Wurzeln und
die Knollen in der Erde zu wie eine warme Decke die Kinder
in ihrem Bett, daß ihnen der bitterböse Frost nichts zuleide
tun könne. Und man konnte ja auch deutlich sehen, wie die
Wolken am Himmel aufstiegen. Oben an der Spitze sahen sie
ganz weiß aus wie mächtige Schneeberge, unten aber waren
sie schwarz wie im Sommer die Gewitterwolken. Und sie stiegen
immer höher am Himmel hinauf und dann dauerte es auch nicht
lange, dann waren sie zu lauter kleinen Flocken zermahlen und
der Wind trieb sie dann her und sie fielen vom Himmel herunter
und es waren ihrer so viele, daß man sie gar nicht zählen konnte,
und deckten die ganze Heide zu, daß nur hie und da noch die
Spitzen von den braunen Heidestengelchen aus der weißen Schnee—
decke hervorschauten, und auch auf die Wacholderbüsche und
auf die Kronen der Fichten und Kiefern legten sie sich, als wollten
sie auch die Bäume und Sträucher einhüllen.
Da einmal, gegen Abend, als die Sonne schon ganz tief
am Himmel stand, stiegen wieder mächtige Schneewolken am
Himmel auf, die in der Nacht Schnee bringen wollten. Und
sie stellten sich gerade vor die untergehende Sonne. Und nun
war es, als ob die Wolken in Flammen ständen und der ganze
Himmel brennte wie lohes Feuer, und alle die kleinen Wölkchen,
die am Himmel verstreut waren, erglänzten in dem Widerschein
wie rotes Gold und die großen, mächtigen Wolkenhaufen waren
an ihrem Rande wie von Purpur umsäumt. Eine solche Pracht
von Farben und Glanz und Schein und Schimmer hatten wir
noch nie zuvor gesehen und riefen unsere Mutter. Und als sie
das Feuer am Himmel sah und den Widerschein in den Wolken,
da sagte sie: „Kinder, die Engel backen Brot im Himmel, Christ—
brot für Weihnacht, und nun brennt das lohe Feuer in den
Wolken. Seid brav und artig, dann bringen sie euch vielleicht
auch ein Stückelchen davon. Und das Himmelsbrot schmeckt
süßer als Semmel und Honig, so süß wie Manna.“ „Kriegen
denn die Menschen auch von dem Himmelsbrot, das die Engel
backen, Mutter?“ fragte ich. „Es gibt welche, die es bekommen,“
sagte sie, „aber nur wenige sind es. Die Engel geben es nur
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denen, die das Himmelsbrot nicht für sich haben wollen, sondern
für andere, für Vater oder Mutter oder Bruder oder Schwester.
Und noch nicht einmal ein Krümchen dürfen sie davon kosten
und wenn sie nur die Lust dazu verspüren, so wird es schon zu Stein!“
Von nun an ließ mir der Gedanke an das Himmelsbrot
keine Ruhe mehr und jeden Tag, wenn es gegen Abend ging,
hielt ich Ausschau nach dem Himmel, ob die Engel nicht wieder
Himmelsbrot büken. Da, nach ein paar Tagen war es wieder
und der ganze Himmel stand wieder in loher Flamme. Dies—
mal lief ich aber nicht zur Mutter, sondern zum Mareile. „Ma—
reile,“ sag' ich zu ihr, „die Engel backen wieder Himmelsbrot,
guck nur, wie es loh brennt! Komm, wir wollen welches holen
gehen, für den Vater und die Mutter!“ „Ja, Pelter,“ sagt
Mareile, „das wollen wir; wir wollen Himmelsbrot holen für
Vater und Mutter und die andern alle. O wie schön wird das!
Wart' nur, ich will erst einen Korb holen, aber einen ganz großen,
daß auch recht viel hineingeht!“ Und nun huschte sie in die Küche
und als sie wieder kam, hatte sie einen mächtig großen Henkel—
korb am Arm. „Wenn wir den voll bekommen, Peter, wird's
reichen,“ sagt sie, „meinst du nicht? Dann könnten wir Sand—
möllers Mutter auch ein bißchen davon mitgeben, die ist immer
krank!“
Und nun gingen wir beide der untergehenden Sonne nach,
wo das Feuer am Himmel lohte, und unser Pudel ging mit.
Und wie wir nun am Wege abbiegen wollen in die Heide hinein,
begegnet uns Nachbar Kettlers Wiesken, die war im Kirchdorf
gewesen und kommt nun heim und trägt auch einen großen
Korb am Arm. „Hanspeter,“ meint da das Mareile, „Wiesken
ist sicherlich auch beim lieben Gott gewesen und hat Christbrot
geholt. Laß uns nur schnell gehen, daß wir hinlommen, sonst
möcht alles vergeben sein und wir können leer wieder nach
Hause gehen!“ Und so wandern wir denn nun in die Heide
hinein. Kein Weg, kein Steg! Überall Schnee, weicher, flockiger
Schnee und fußhoch liegt er. Bis an die Kniee sinken wir ein,
wie Sommers im Sand auf dem Postweg, und wir haben beide
doch nur Holzschuhe an. Es ist ein beschwerliches Wandern
und kaum kommen wir vom Fleck. Ich will's dem Mareile
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leichter machen und „Mareile,“ sag' ich zu ihr, „geh hinter mir
drein, dann trittst du in meine Fußtapfen und brauchst nicht
so durch den tiefen Schnee zu waten“ Das Mareile tut's und
nun kommen wir etwas behender vom Fleck. Weicher, flockiger
Schnee fällt mir bei jedem Schritt in die Holzschuhe und meine
Strümpfe sind naß bis über die Knöchel. „Mareile wohl auch,“
denk' ich; aber ich sage nichts. Da fegt der Wind über die Heide
und er ist kalt, bitterkalt, und Mareile hat ein gar so dünnes
Kleidchen an und mit meinem Kittelchen steht's nicht besser
und mir erstarrt beinah das Blut in den Adern. „Mareile wohl
auch,“ denk' ich; aber ich sage wieder nichts. Damit mir aber
das Mareile nicht umgeweht wird, muß es meinen Stock, aus
einem knotigen Wacholderstämmchen zurechtgeschnitten, den ich
von Haus mitgenommen habe, an dem einen Ende fassen und
ich ziehe am andern. Aber nun frieren mir die Hände beinah
zu Eis, daß ich den Stock kaum noch zu halten vermag, und
Handschuhe habe ich nicht. „Mareile wohl auch,“ denk' ich und
„Mareile,“ sag' ich „wickele deine Schürze um deine Hand, wo⸗—
mit du den Stock hältst, daß sie dir nicht friert.“ Und Mareile
tut's. Und wir wandern weiler dem Feuer am Himmel nach.
Aber nun kann ich nicht mehr und 's Mareile auch nicht; ich merk's
am Ziehen. Ich muß alle meine Kraft zusammennehmen um sie
vom Fleck zu bringen, und mir bricht der Schweiß aus allen Poren.
Da verglimmt das Feuer am Himmel und nur noch ein
paar rote Streifen schimmern zwischen grauen Wolken. Ich
seh' es wohl, aber ich sage nichts. Und's Mareile hat es auch
gemerkt und das ruft aus: „O, Hanspeter, sieh, das Feuer geht
aus am Himmel, sie backen kein Himmelsbrot mehr! Ach, wenn
wir doch da wären! Wenn wir doch da wären! Ach, lieber
Hanspeter, ich kann bald nicht mehr weiter!“ Und nun kommen
wir an die Fichten, die starren schwarz aus der grauen Dämmerung
auf. Und wie ich nun denke: Wir müssen umkehren und haben
kein Christbrot gekriegt, und wie ich mich umwende, mich nach
dem Heimweg umzuschauen, da schimmert's durch die schwarzen
Fichten und's Mareile ruft: „Da ist das Himmelstor und es
ist ganz weit offen!“ Und nun tut sich ein Weg vor uns auf,
mitten durch den Fichtenwald hindurch. Unser Pudel ist schon
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hineingelaufen und bellt laut vor Freude. Und wir gehen nun
auch in die Fichten. „O, nun werden wir doch noch hinkommen,“
jauchzt Mareile, „und dann kriegen wir auch noch Christbrot
und wenn es auch nur noch ein paar Bröckelchen sind!“ Und
weil auf dem Weg in den Fichten kein Schnee liegt, so kommen
wir hurtig von der Stelle und das Blut wird uns wieder warm
in den Adern. Aber nun will der Weg durch die Fichten schier
kein Ende nehmen. Und zuguterletzt sinkt das Mareile auf den
Boden nieder und sagt: „Hanspeter,“ sagt es, „ich bin so müde,
ach, gar so müde und kann nicht weiter; so laß mich hier nur
schlafen und geh du allein in den Himmel Christbrot zu holen,
und hernach, wenn ich mich ausgeruht hab', komm' ich auch
oder du bringst mir welches mit, Hanspeter.“
Da weiß ich mir in meiner Angst keinen Rat; denn weiter
gehen und das Mareile liegen lassen, kann ich doch nicht und
so denk ich: Am besten ist es schon, wenn wir nach Hause gehen
und ich nehme das Mareile auf die Schultern. Vielleicht backen
sie später nochmal Christbrot im Himmel, dann gehen wir ein
bisselchen früher von Haus und wenn kein Schnee liegt. Und
nun sag' ich: „Mareile, wir wollen wieder heimgehen, komm,
steh auf!“ Aber das Mareile rührt sich nicht, es schläft. Und
un rüttele und schüttele ich es und rufe: „Mareile,“ sag' ich,
„steh auf, wir wollen heimgehen; komm, liebes Mareile, und
benn du nicht kannst, so will ich dich tragen “Aber das Ma⸗
reile rührt und regt sich immer noch nicht und liegt am Boden
wie tot und seine Hände sind kalt wie Eis. Da denk' ich: Mein
Mareile ist gestorben! Und nun kommt eine Herzensangst
über mich, so groß, wie zeitlebens nicht vorher und nicht nachher.
Und ich fühle nicht, wie meine nassen Füße leblos und starr sind
wie Eis und die Tränen laufen wie Bäche über meine Wangen
und ich schluchze und rufe, so laut ich kann: „O Mutter, o Mutter,
das Mareile ist tot, das Mareile ist tot! O komm, Mutter,
komm, liebe Mutter!“ Und der Pudel kommt gesprungen,
wie ich so rufe, und heult und heult in die schwarze Nacht
hinein; denn das Himmelsfeuer war nun ganz erloschen.
Wie lange ich so gerufen habe, das weiß ich nicht mehr;
aber das weiß ich, daß der Pudel aufhörte zu heulen und anfing
zu bellen. Und dann hörte ich Stimmen und eine Stimme
rief: „Mareile, Mareile!“ und „Hanspeter, Hanspeter, wo
seid ihr? Wo seid ihr?“ Das war unser Vater und nun jubelte
mein Herz und ich antwortete: „Hier sind wir, Vater, hier sind
wir!“ Und der Pudel sprang ihnen, die da kamen, entgegen,
dem Vater und den Männern, die mit ihm waren. Weil wir
nicht zum Abendbrot gekommen waren, hatten sie uns bei den
Nachbarsleuten gesucht und Kettlers Wiesken hatte ihnen erzählt,
wo es uns gesehen hatte, und nun hatten sie uns gefunden.
Das Mareile haben sie mit Schnee gerieben und wie es dann
wieder Leben zeigte, hat es einer von den Männern auf die
Schulter gepackt und nach Hause getragen. Ich aber mußte
laufen, damit mir meine Glieder nicht starr würden.
„Törichte Kinder!“ sagte unser Vater am kommenden
Tage, als wir nach langem Schlafe wach wurden, zu mir und
Mareile, „daß ihr so durch den Schnee watet!“
Als die Mutter uns auf unser Lager bettete, da faltete
sie mit uns die Hände zu einem heißen, freudigen Dankgebet.
Und wie nun Weihnachten kommt, da kriegen wir doch
Christbrot, einen großen, großen Korb voll, aber irdisches war's,
in der Pfarrküche gebacken; die Frau Pfarrer schickte es uns,
denn sie hatte davon gehört, wie Mareile und ich hatten in den
Himmel gehen wollen, welches zu holen. Und Apfel und Nüsse
schickte sie auch mit.
Das Mareile ist dann gar bald wirklich in den Himmel
eingegangen. Da hatte es himmlisches Christbrot in Fülle.
Theodor Krausbauer.
44. Das Kind am Brunnen.
Frau Amme, Frau Amme, das Kind ist erwacht!
Doch die liegt ruhig im Schlafe.
Die Vöglein zwitschern, die Sonne lacht,
Am Hügel weiden die Schafe.
Frau Amme, Frau Amme, das Kind steht auf!
Es wagt sich weiter und weiter;
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Hinab zum Brunnen nimmt es den Lauf,
Da stehen Blumen und Kräuter.
Frau Amme, Frau Amme, der Brunnen ist tief!
Sie schläft, als läge sie drinnen.
Das Kind läuft schnell, wie es nie noch lief,
Die Blumen locken 's von hinnen.
Nun steht es am Brunnen, nun ist es am Ziel;
Nun pflückt es die Blumen sich munter.
Doch bald ermüdet das reizende Spiel;
Da schaut 's in die Tiefe hinunter.
Und unten erblickt es ein holdes Gesicht
Mit Augen so hell und so süße.
Es ist sein eignes, das weiß es noch nicht:
Viel stumme, freundliche Grüße!
Das Kindlein winkt, der Schatten geschwind
Winkt aus der Tiefe ihm wieder.
Herauf! herauf! So meint's das Kind;
Der Schatten: Hernieder! Hernieder!
Schon beugt es sich über den Brunnenrand.
Frau Amme, du schläfst noch immer!
Da fallen die Blumen ihm aus der Hand
Und trüben den lockenden Schimmer.
Verschwunden ist sie, die süße Gestalt,
Verschluckt von der hüpfenden Welle.
Das Kind durchschauert's fremd und kalt
Und schnell enteilt es der Stelle.
Friedrich Hebbel.
45. Waldlilie im Schnee.
In einem Winkel der Karwässer hat sich der Holzer Bertold
eine Klause erworben. Der Bertold, dessen Familie von Jahr
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zu Jahr wächst und von Jahr zu Jahr weniger zu essen hat,
ist ein Wilderer geworden. Das Holzen wirft viel zu wenig
ab für eine Stube voll von Kindern. Ich schicke ihm an Lebens—
mitteln, was ich vermag; aber das genügt nicht. Für das kranke
Weib eine kräftige Suppe, für die Kinder ein Stück Fleisch will
er haben und schießt die Rehe nieder, die ihm des Weges kommen.
Dazu tut die Leidenschaft das ihre und so ist der Bertold, der
vormaleinst als Hirt ein so guter, lustiger Bursch gewesen,
durch Armut, Trotz und Liebe zu den Seinigen recht sauber
zum Verbrecher herangewachsen.
Ein trüber Winterabend ist es gewesen. Die Fensterchen
sind mit Moos vermauert; draußen fallen frische Flocken auf
alten Schnee. Bertold wartet bei den Kindern und bei dem
kranken Weibe nur noch, bis das älteste Mädchen, die Lili, mit
der Milch heimkehrt, die sie bei einem nachbarlichen Klausner
erbetteln muß. Denn die Ziegen im Hause sind geschlachtet
und verzehrt und kommt Lili nur erst zurück, so will der Bertold
mit dem Stutzen in den Wald hinauf. Bei solchem Wetter
sind die Rehe nicht weit zu suchen.
Aber es wird dunkel und die Lili kehrt nicht zurück. Der
Schneefall wird dichter und schwerer, die Nacht bricht herein
und Lili kommt nicht. Die Kinder schreien schon nach der Milch,
den Vater verlangt schon nach dem Wild, die Mutter richtet
sich auf in ihrem Bette. „Lili,“ ruft sie, „Kind, wo trottest du
denn herum im stockfinstern Wald? Geh heim!““ Wie kann
die schwache Stimme der Kranken durch den wüsten Schneesturm
das Ohr der Irrenden erreichen! Je finsterer und stürmischer
die Nacht wird, desto tiefer sinkt in Bertold der Hang zum Wildern
und desto höher steigt die Angst um seine Waldlilie. Es ist ein
schwaches, zwölfjähriges Mädchen; es kennt zwar die Waldsteige
und Abgründe; aber die Steige verdeckt der Schnee, den Ab—
grund die Finsternis. Endlich verläßt der Mann das Haus um
sein Kind zu suchen. Stundenlang irrt und ruft er in der sturm—
bewegten Wildnis; der Sturm bläst ihm Augen und Mund
voll Schnee, seine ganze Kraft muß er anstrengen um wieder
zurück zur Hütte gelangen zu können.
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Und nun vergehen zwei Tage. Der Schneefall hält an,
die Hütte des Bertold wird fast verschneit. Sie trösten sich über—
laut, die Lili werde wohl bei dem Klausner sein. Diese Hoff—
nung wird zunichte am dritten Tag, als der Bertold nach einem
stundenlangen Ringen im verschneiten Gelände die Klause
vermag zu erreichen. Lili sei vor drei Tagen wohl bei dem
Klausner gewesen und habe sich dann beizeiten mit dem Milch⸗
topf auf den Heimweg gemacht. „So liegt meine Waldlilie
im Schnee begraben!“ sagt der Bertold. Dann geht er zu
andern Holzern und bittet, wie diesen Mann kein Mensch noch so
hat bitten gesehen, daß man komme und ihm das tote Kind
suchen helfe.
Am Abend desselben Tages haben sie die Waldlilie ge—
funden. Abseit in einer Waldschlucht, im finstern, wildverfloch—
tenen Dickicht junger Fichten und Gezirme, durch das keine
Schneeflocke vermag zu dringen und über dem die Schneelasten
sich wölben und stauen, daß das junge Gestämme darunter ächzt,
in diesem Dickicht auf den dürren Fichtennadeln des Bodens
inmitten einer Rehfamilie von sechs Köpfen ist die liebliche,
blasse Waldlilie gesessen.
Es ist ein sehr wunderbares Ereignis. Das Kind hat sich
auf dem Rückweg in die Waldschlucht verirrt und da es die Schnee⸗
massen nicht mehr hat überwinden können, sich zur Rast unter
das trockene Dickicht verkrochen. Und da ist es nicht lange allein
geblieben. Kaum ihm die Augen anheben zu sinken, kommt
ein Rudel von Rehen an ihm zusammen, alte und junge, und
sie schnuppern an dem Mädchen und sie blicken es mit milden
Augen völlig verständig und mitleidig an und sie fürchten sich
gar nicht vor diesem Menschenwesen und sie bleiben und lassen
sich nieder und benagen die Bäumchen und belecken einander
und sind ganz zahm; das Dickicht ist ihr Winterdaheim. Am
andern Tage hat der Schnee alles eingehüllt. Waldlilie sitzt
in der Finsternis, die nur durch einen Dämmerschein gemildert
ist, und sie labt sich an der Milch, die sie den Ihren hat bringen
wollen, und sie schmiegt sich an die guten Tiere, auf daß sie
im Froste nicht ganz erstarre.
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So vergehen die bösen Stunden des Verlorenseins. Und
da sich die Waldlilie schon hingelegt zum Sterben und in ihrer
Einfalt die Tiere hat gebeten, daß sie getreulich bei ihr bleiben
möchten in der letzten Sterbestunde, da fangen die Rehe jählings
ganz seltsam zu schnuppern an und heben ihre Köpfe und spitzen
die Ohren und in wilden Sätzen durchbrechen sie das Dickicht
und mit gellendem Pfeifen stieben sie davon. Jetzt arbeiten
sich die Männer durch Schnee und Gesträuch herein und sehen
mit lautem Jubel das Mädchen.
So hat es sich zugetragen. Und wie der Bertold gehört,
die Tiere des Waldes hätten sein Kind gerettet, daß es nicht
erfroren, da schreit er wie närrisch: „Nimmermehr! Mein
Lebtag nimmermehr!“ Und seinen Kugelstutzen, mit dem er
seit manchem Jahr Tiere des Waldes getötet, hat er an einem
Stein zerschmettert.
Peter Rosegger.
46. Der Fischer.
Im Schilf steht an Einbaum Sie sagt nix, so oft i's
Und a Fischer dabei. Bei'n Händen aa nimm,
J frag: „Wie hat's ganga Köa Pfütgott, wenn i geh,
Den Winter allwei'?“ Nit Grüßgott, wenn i kimm.
„O mei! Wie hat's ganga! Sie strickt ma koa Netz,
Mei Büabei is g'storb'n Nimmt koa Sichel in d' Händ',
Und seitdem is mei Wei Sie is nur grad allweil
Ganz zerrütt' und verdorb'n. Am Gottesacker drent.
Und i kann's do' nit schelten,
Sie is so trauri' gnua. — —
Ajed's Haus hat sein Engel
Und der mei' war der Bua.“
Karl Stieler.
47. Der Geißbube von Solnhofen.
An der Altmühl, ungefähr eine Viertelstunde unterhalb
Solnhofen, ist eine Glashütte im Gang. Das Holz zu den
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Ofen kann leicht über die jähen Bergwände herabgelassen werden
und der reine, zuckerweiße Sand findet sich da und dort in Nestern,
einen oder wenige Schuh unter dem Rasen. Ehe man aber
anfing, diesen Sand in Glas zu verwandeln, bestreuten oder
fegten schon die Hausfrauen in der Umgegend ihre Stuben—
böden, Tische, Bänke und hölzernen Geschirre damit und kauften
ihn von Weibern, die ihn bei Solnhofen gruben und in kleinen
Säcklein zum Verkauf in die umliegenden Orte trugen.
In der ältesten Zeit befaßte sich eine Zeitlang nur ein
einziges Weib mit diesem beschwerlichen Handel, bei welchem
sie oft über fünfzig Pfund auf dem Rücken aus- und nur ein
paar Heller in der Tasche dafür heimtrug. Es war eine Witwe
in mittleren Jahren und hatte einen Knaben von zwölf Jahren,
der im Sommer die Ziegen des Orts hütete und im Winter
mit seiner Mutter in den unterirdischen Felsklüften Sandnester
aufsuchte und ausbeutete, wenn man vor Schnee und Eis in
den Boden kommen konnte. An Unterhaltung fehlte es ihm
auch auf den einsamen Höhen nicht. Da lag der damals noch
unbenützte Kalkschiefer so am Tage, daß es ihm leicht ward,
Platten davon herauszuheben und aus ihnen mit einem ganz
kleinen Hammer, den ihm noch sein verstorbener Vater gemacht
hatte, regelmäßige Vierecke zu fertigen.
Was man so unrichtiger- und sündlicherweise Zufall nennt,
führte den Knaben zu einer wichtigen Erfindung. Benedikt
— so hieß der Knabe — legte einmal eine Schieferplatte, wie
er sie aus dem Boden gebrochen hatte, auf seinen Schoß, zeich—
nete mit einer Kohle von seinem Hirtenfeuer ein Viereck darauf
und sprach dann bei sich: „Wenn ich fünfzig solche viereckige
Tafeln hätte, könnt' ich meine ganze Hausflur damit belegen,
wo jetzt die Hühner scharren, wenn es draußen regnet.“ Und
während er dies dachte, klopfte er mit seinem Hämmerlein auf
dem einen schnurgeraden Kohlenstrich sanft auf und ab; denn
er freute sich über den hellen Klang der Platte. Aber auf ein—
mal wurden die hellen Töne dumpf und immer dumpfer wie
bei einer zersprungenen Glocke und zuletzt sprang die Tafel
gerade in der Richtung des Kohlenstriches mitten entzwei. „Ist
es da so gegangen,“ dachte nun Benedikt, „so kann es auf den
Lesebuch für Höhere Mädchenschulen. J.
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übrigen drei Seiten ebenso gehn,“ und hämmerte auch auf dem
zweiten Kohlenstrich eine Weile vorwärts und rückwärts. Sein
Schluß war richtig. Nachdem er noch einige Minuten so fort⸗
gemacht hatte, lag eine vollkommen viereckige Platte auf seinen
Nnieen. Eine zweite gelang nicht minder — und so fort. Früher
schon hatte er manchmal zwei Schiefertrümmer aneinander
gerieben um sie zu polieren, und gefunden, daß er damit am
schnellsten zustande kam, wenn er von dem Sande, womit seine
Mutter handelte, dazwischen tat und Wasser dazu nahm. Diese
frühere Erfindung wandte er nun auf seine Pflastersteine an
und gewann so einige sehr schöne Platten. Indes trieb er dies
alles als eine bloße Spielerei und sagte davon niemand etwas,
selbst seiner Mutter nicht. Seine schönsten Tafeln verbarg er
da und dort unter einem Busch, wie etwa ein Hirtenknabe an
der Donau schöne Kiesel, die er in ihrem Bett findet, in einem
hohlen Weidenstamm aufhebt.
Eines Tages aber, als er eingetrieben hatte und seiner
Mutter gegenüber an der Suppenschüssel saß, erzählte sie ihm,
daß sie mit Sand in Eichstätt gewesen und dort dem Bischof
so nahe gekommen sei, daß sie jedes seiner Worte verstanden
habe. „Was sagte er denn?“ fragte Benedikt. „Er stand,“
antwortete die Witwe, „mitten unter den Domherren in der
neuen Kirche, die er hat bauen lassen, und beratschlagte mit
ihnen, mit was für Steinen der Fußboden belegt werden dürfte.
ver eine riet dies und der andre das, bis der hochwürdige Herr
der Unterredung damit ein Ende machte, daß er sagte: Nun,
morgen um die elfte Stunde haben wir die fremden Steinmetzen
hierher bestellt und wollen die Proben beschauen, die sie von
allerlei Sand- und Marmelsteinen bei sich haben. Aber wir
fürchten, ein solches Pflaster möchte für unseren bischöflichen
Säckel zu teuer kommen. Wir werden uns wohl die Backsteine
gefallen lassen müssen, die am wohlfeilsten sind.“ „So, so,“
versetzte Benedikt, warf seinen Löffel von Horn in die Tischlade,
wünschte seiner Mutter eine gute Nacht und ging unter das
Dach hinauf in seine Schlafstätte.
Das Sandweib hatte übrigens den Fürstbischof ganz recht
verstanden. Schon bald nach der zehnten Stunde des Morgens
115
versammelten sich in der neuen Kirche zu Eichstätt, in der von
der Hand des Maurermeisters nichts mehr fehlte als das Pflaster,
etliche Steinmetzen, die der Bischof aus Tirol, dem Fichtelgebirg
und dem Rheingau auf seine Kosten berufen hatte. Die Stein—
proben trugen ihnen ihre Gesellen in kleinen, hölzernen Kästen
nach und stellten sie nebeneinander auf eine lange Tafel. Darauf
fanden sich nach und nach mehrere Grafen und Herren aus der
Nachbarschaft ein, die schon reichlich zu dem Kirchenbau bei—
gesteuert hatten und nun auch noch bei dem Pflaster ein übriges
tun sollten. Endlich erschien auch der Fürstbischof mit der ge—
samten Geistlichkeit und seinen weltlichen Beamten hinter sich
und als alle beisammen waren, schien es fast, als sollte eine
Kirchenversammlung gehalten werden, so viele waren ihrer.
Der Bischof nahm nun die schön geschliffenen Proben aus den
gästlein, eine nach der andern, und es war keine darunter, die
ihm und seinem Gefolge nicht gefallen hätte. Auch waren
zum Teil die kleinen Marmelsteine in den Schubladen so neben—
einander gelegt, weiße und schwarze, gelbe und graue, bunte
und einfarbige, daß man schon im kleinen sehen konnte, wie herrlich
schön ein Steinpflaster davon im großen ausfallen würde. Als
aber die fremden Steinmetzen nacheinander sagten, was der
Quadratfuß davon schon an Ort und Stelle koste, und als der
Baumeister an den Fingern berechnete, wieviel Quadratfuß er
brauche, und als der Rentmeister die Gesamtsumme in Gold—
gulden aussprach, fuhr der Bischof mit der Hand hinter das Ohr
und sein Schatzmeister schüttelte mit dem Kopf und die Grafen
und Herren machten große Augen. Alle standen und sahen
einander schweigend an.
In diesem Augenblick entstand unter dem Hauptportale
der Kirche ein Geräusch. Zwei Trabanten des Fürstbischofs
wollten einen barfüßigen Bauernknaben nicht hereinlassen und
hielten ihre Hellebarden vor. Aber der Knabe duckte sich, schlüpfte
darunter hinweg wie eine Henne unter der Gartentür, und
drängte sich dann ohne Umstände mitten durch die Versammlung,
bis er vor dem Bischof stand, dem er den Saum seines Kleides
küßte. Seine Mütze, an der nicht viel zu verkrüppeln war, nahm
er zwischen die Kniee, drei viereckige, zolldicke Schieferplatten,
116
eine blaßgelbe, eine blaugraue und eine marmorierte, nahm
er aus der Schürze, womit sie umwickelt waren, und legte sie
auf die Tafel. Sie waren noch naß, denn er hatte sie erst in
den Dombrunnen getaucht. Desto mehr aber glänzten die
geschliffenen Seiten und zeigten, wie schön die Steine erst dann
werden würden, wenn eine kunstgeübte Hand darüber käme.
Seine Ware zu empfehlen, meinte der Knabe, sei nicht nötig,
sondern er schaute nur einem von den Umstehenden nach dem
andern ins Gesicht und wischte sich mit der Schürze den Schweiß
von der Stirne. Aber als der Bischof anfing, ihn zu fragen,
antwortete er munter und sprach: „Ich gehöre dem Sandweib
von Solnhofen und die Steine hab' ich auf dem Berge hinter
dem Kloster gemacht. Und wenn Ihr noch mehr braucht, so
dürft Ihr mir nur Eure Steinhauer mitgeben, so will ich ihnen
zeigen, wie sie es anfangen müssen.“ Denn der Knabe war
Benedikt, unser Ziegenhirtlein.
Er hatte nach der Abendsuppe, bei der ihm seine Mutter
von der neuen Kirche in Eichstätt erzählte, nicht mehr geschlafen,
sondern ein Gedanke, der ihm unter dem Essen gekommen war,
trieb ihn durch die Hintertür hinaus auf den Berg, wo seine
Steine lagen, und von da in der mondhellen Nacht weiter gen
Eichstätt, wohin er den Weg genau kannte von dem Sandhandel
her. Seine Mutter erschrak freilich, als sie ihn in aller Frühe
wecken wollte und das Nest leer fand. Und sie konnte nicht ein—
mal gehen ihn zu suchen oder ihm nachzufragen; denn die Ziegen
waren schon alle aus den Ställen gelassen und standen meckernd
auf der Gasse oder naschten von den Blumenstöcken vor den
Fenstern des Pfarrhauses. Wohl oder übel mußte sie tun, als
wäre ihr Benedikt krank. Sie nahm Geißel und Stecken und
trieb das Vieh selbst auf den Berg, wo sie den langen, langen
Tag unter vergeblichem Warten und Sorgen zubrachte.
Aber als sie abends hinter der gehörnten Schar das Dorf
hinunterging, kamen einige Maultiere herauf, ihr entgegen.
Und auf dem vordersten saß ihr Benedikt hinter einem Knechte
des Fürstbischofs und zwar so munter, daß die Witfrau sogleich
sah, es müsse ihm den Tag über nicht schlecht gegangen sein.
Und so war es auch. Der Bischof hatte sich sogleich für die
117
Pflastersteine des Sandbuben entschieden und die fremden
Steinmetzen wieder in ihre Heimat entlassen, den Knaben aber
mit sich in sein Haus genommen, gespeist und versichert, daß
er für ihn und seine Mutter sorgen wolle. Dann hatte er ihn
mit dem Baumeister, der das Steinlager untersuchen sollte, nach
Solnhofen zurückgehen lassen.
Der Bischof hielt Wort. Nachdem Benedikt bei einem
Meister Steinmetz in Eichstätt in der Lehre gewesen war, ließ
er sich in Solnhofen nieder und hatte fortwährend so viele Be—
stellungen an Pflaster⸗ und Quadersteinen, daß es ihm und
seiner Mutter nie mehr an dem täglichen Brot fehlte.
Karl Stöber.
48. Wie eine Mausmutter ihre Jungen rettet.
Die Heide blühte und die Wildrosen. Und 's Mareile
hatte nichts lieber als Knospen vom Wildrosenstrauch und
Heideglöckchen, rote und weiße. In die weißen war es ordent⸗
lich vernarrt und wo es ging und stand, hatte es ein Sträußlein
Heide im Haar oder Gürtel und ein paar Rosenknösplein da—
zwischen und Halme vom Zittergras.
Da einmal, wie die Sonne warm schien, sagt das Mareile
zu mir: „Hanspeter,“ sagt es, „laß uns ein bißchen in den Kuhlen—
kamp gehen, du weißt ja, wohin!“ Und nun gehen wir in den
Kuhlenkamp und setzen uns unter den Wildrosenstrauch in die
blühende Heide. Und ich breche dem Mareile die schönsten
Knospen und hole ihm glutrote Heide und Zittergras. Und
dann windet 's Mareile einen Strauß daraus und ich schau ihm
zu und wir halten Umschau im Teich im Kuhlenkamp und rühren
mit einem Staken!) im Froschlaich, der am Ufer schwimmt,
und holen ein paar Fäden mit Kröteneiern heraus, die wie eine
Perlenkette aussehen; aber ganz glitschig sind sie und anfassen
mag sie keiner. Dann kommen ein paar Rabenkrähen geflogen,
die setzen sich in den Wipfel einer Tanne dicht bei dem Teich und
die eine schreit immer „grab! grab!“ und dann gucken sie stetsfort
herunter zu uns. „Hanspeter, die wollen her an den Teich,“
) Staken S⸗ lange Stange.
118
sagt 's Mareile, „sie haben wohl Durst und wollen trinken.
Und nun kommen sie nicht, weil wir hier stehen. Sollst sehen,
wenn wir weggehen, fliegen sie her. Komm, wir setzen uns
wieder unter den Wildrosenstrauch!“ Und wie wir uns hin—
gesetzt haben, kommen die beiden Krähen auch wirklich von der
Tanne heruntergeflogen, erst die eine und dann die andere.
Und die eine fliegt auch an den Teich; aber trinken tut sie nicht.
Sie stolziert am Ufer auf und ab und fliegt dann unversehens
zum Wasser hinab. Und als sie wieder hervorkommt, trägt sie
einen Fisch im Schnabel, den legt sie nicht weit vom Teich auf
den Erdboden nieder und hackt in einem fort mit dem Schnabel
darauf. „Der arme Fisch,“ sagt 's Mareile, „ich glaube, der
Rabe frißt ihn bei lebendigem Leibe auf. Komm, Hanspeter,
wir wollen ihn wegjagen!“ Aber ehe das Mareile sich vom
Boden erheben kann, fass' ich es am Arm. „Sieh mal, Ma—
reile,“ sag' ich, „sieh mal, was hat der andere Rabe dort?“
Das Mareile schaut hin. „Eine Maus,“ sagt's, „eine Maus,
glaub' ich, Hanspeter! Ach, die arme Maus, die wird er ver—
schlingen mit Haut und Haar!“ Und der Rabe fliegt mit der
Maus auf den Tannenbaum und verzehrt sie, und den andern,
der den Fisch gefangen hat, jagen wir nun davon. Der Fisch
liegt am Boden und zuckt und zuckt. Die eine Seite des Leibes
ist ihm aufgehackt und das Eingeweide herausgerissen. „Wir
wollen ihn ins Wasser werfen, Hanspeter,“ sagt 's Mareile.
Und ich tu es.
Am nächsten Tag geht ein Gewitter durch die Heide mit
Sturm und Regen, daß die Rinnsale auf den Wegen und die
Bäche voll Wasser sind. Und nun ziehen wir hinaus mit unsern
kleinen Booten und Kähnen, die wir uns aus Kiefernborke ge—
schnitzt oder aus Tannenbrettern zusammengeleimt haben, Schiff—
fahrt zu treiben auf Rhein und Elbe und Donau und auf welchen
Flüssen sonst und auch auf dem großen Weltmeer und übers
Meer bis nach Amerika. Ein großes Floß treibt auf der Beeke!)
bis zum Teich im Kuhlenkamp, das hat Lütkemeyers Ludken?)
gebaut. Und wie wir nun alle mit unsern Booten und Kähnen
1) Beeke S Bach. ?) Ludken — Ludwig.
E
119
hinter dem Floß dreinziehen, Sandmöllers Fritz und Kettlers
Willem und der Heiner und 's Mareile und ich und die andern
alle und in den Kuhlenkamp kommen, wo die Brücke über die
Beeke geht, da ruft Tomsmeiers Christian mit einemmal:
„Seht mal, seht mal, eine Maus in der Beeke! Die schwimmt
mitten durch!“ Und wirklich schwimmt mitten durch die Beeke
eine Maus und im Maul hält sie ein Junges, das ist noch ganz
putt hennackt, und wie sie an das andere Ufer kommt, da trägt
sie es unter die Brücke und legt's in ein Loch im Mauerwerk,
wo sre, man sieht es genau, Moos und trocken Gras zusammen—
geschlepyt hat. „Wir wollen auf die Maus Jagd machen und
sie totschlagen, wenn wir sie fangen ruft Lütkemeyers Ludken.
Tomsmeyers Christian aber will nicht und die andern auch nicht
und er sagt: „Nun seid mal ganz mucksmäuschenstill, daß wir
sie nicht verschüchtern; wir wollen mal sehen, was sie nun macht.“
Und nun sind sie auch alle ganz ruhig und halten mit ihrer Schiff⸗
fahrt inne. Da kommt das Mäuschen wieder über die Beeke
zurückgeschwommen, pudelnaß, und dann klettert es heraus
und läuft eine Strecke durch die Heide bis zu dem Wacholder⸗
busch, wo am Tag zuvor der eine Rabe die andere Maus ge—
fangen hatte. Hier schlüpft's in den Wacholderbusch hinein
und nach einer Weile kommt's wieder hervor und hat wieder
ein Junges im Maul und das bringt's auch über die Beeke unter
die Brücke zu dem andern. Und wie ich derweil in den Wacholder⸗
busch schaue und das Mareile auch, da finden wir ein Mausenest
Es steht beinah ganz unter Wasser; denn bei dem Gewitter ist
das Wasser im Teich über die Ufer gegangen und bis zum Nest
im Wacholderbusch gekommen und nun trägt die Maus ihre
Jungen einzeln im Maul über die Beeke und bringt sie unter
der Brücke in Sicherheit. Fünfmal ist sie so herüber und hinüber
geschwommen. Und wie sie das letzte Junge hinübergetragen
hat, da hat Lütkemeyers Ludken sich nicht wollen noch länger
zurückhalten lassen. „Ich schlag es doch tot, das verflixte Mäuse—
vieh,“ hat er gesagt, „die Alte samt den Jungen! Mäuse sind
schädliche Tiere!“ Und er hat schon über die Beeke hinüber—
springen wollen. Da hat ihn aber das Mareile am Arm gefaßt
und festgehalten und hat ihm gesagt: „Ludken,“ hat sie gesagt,
129
„fünfmal ist die Maus für ihre Jungen durchs Wasser hinüber—
geschwommen und fünfmal herüber und hat an ihr Leben nicht
gedacht, wo sie doch leicht hätte ertrinken können. Kannst du
die Maus nun totschlagen?“ Ludken hat den Mäusen kein Leid
angetan; aber er ist nach Hause gegangen und hat gesagt: „Ich
schlage sie doch tot, die Mäuse, allesamt, wie sie unter der Brücke
sind, die Alte und die Jungen, denn es ist schädlich Ungeziefer.“
Wie wir nach Hause gekommen sind, der Heiner, das Ma—
reile und ich, da haben wir das mit Lütkemeyers Ludken und
den Mäusen der Mutter erzählt und gefragt, ob wir die Mäuse
hätten totschlagen müssen, weil es schädliche Tiere wären. „Nein,
Kinder,“ hat sie uns darauf zur Antwort gegeben, „wie es das
Mareile gemacht hat, so würde ich es auch gemacht haben. Ich
kann mir nicht anders denken, als die alte Maus, die ihre Jungen
durchs Wasser geschleppt hat, ist die Mutter gewesen und der
Rabe hat am Tag zuvor das Männchen gefressen. Wo aber
eine Mutter für ihre Kinder tut, was die Mausmutter getan hat,
und ihres eigenen Lebens nicht schont und nicht achtet, da soll
man ihre Liebe nicht schlecht lohnen, da sei Gott vor, Kinder!
Wie es das Mareile gemacht hat, so ist es ganz recht gewesen!“
Da waren wir ordentlich froh und ganz stolz auf das Mareile.
Wie wir nach einigen Tagen nach den Mäusen Umschau
halten, da war keine von ihnen mehr da und auch das Nest ist
aus dem Gemäuer herausgerissen. So hatte Lütkemeyers
Ludken also doch getan, was er gedroht hatte. Das Mareile
hat heiße Tränen geweint über die Mäuse. Dem Ludken aber
wurden wir gram über seine Tat und konnten lange lange Zeit
kein freundlich Wort mit ihm sprechen.
Theodor Krausbauer.
49. Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.
Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,
Ein Birnbaum in seinem Garten stand,
Und kam die goldene Herbsteszeit
Und die Birnen leuchteten weit und breit,
Da stopfte, wenn's Mittag vom Turme scholl,
Der von Ribbeck sich beide Taschen voll.
Und kam in Pantinen ein Junge daher,
So rief er: „Junge, wist 'ne Beer?“
Und kam ein Mädel, so rief er: „Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick hebb' 'ne Birn!“
So ging es viel Jahre, bis lobesam
Der von Ribbeck auf Ribbeck zu sterben kam.
Er fühlte sein Ende. 's war Herbsteszeit,
Wieder lachten die Birnen weit und breit.
Da sagte von Ribbeck: „Ich scheide nun ab.
Legt mir eine Birne mit ins Grab.“
Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus
Trugen von Ribbeck sie hinaus;
Alle Bauern und Büdner mit Feiergesicht
Sangen „Jesus, meine Zuversicht,“
Und die Kinder klagten, das Herze schwer:
„He is dod nu. Wer giewt uns nu 'ne Beer?“
So klagten die Kinder. Das war nicht recht;
Ach, sie kannten den alten Ribbeck schlecht.
Der neue freilich, der knausert und spart,
Hält Park und Birnbaum strenge verwahrt;
Aber der alte, vorahnend schon
Und voll Mißtrau'n gegen den eigenen Sohn,
Der wußte genau, was damals er tat,
Als um eine Birn' ins Grab er bat.
Und im dritten Jahr aus dem stillen Haus
Ein Birnbaumsprößling sproßt heraus.
Und die Jahre gehen wohl auf und ab;
Längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab
Und in der goldenen Herbsteszeit
Leuchtet's wieder weit und breit.
Und kommt ein Jung' übern Kirchhof her,
So flüstert's im Baume: „Wiste 'ne Beer?“
121
Und kommt ein Mädel, so flüstert's: „Lütt Dirn,
Kumm man röwer, ick gew di 'ne Birn!“
So spendet Segen noch immer die Hand
Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.
Theodor Fontane.
50. Ein gutes Rezept.
In Wien der Kaiser Joseph war ein weiser und wohl—
tätiger Monarch, wie jedermann weiß; aber nicht alle Leute
wissen, wie er einmal der Doktor gewesen ist und eine arme
Frau kuriert hat.
Eine arme, kranke Frau sagte zu ihrem Büblein: „Kind,
hol' mir einen Doktor, sonst kann ich's nimmer aushalten vor
Schmerzen!“ Das Büblein lief zum ersten Doktor und zum
zweiten, aber keiner wollte kommen; denn in Wien kostet ein
Gang zu einem Patienten einen Gulden und der arme Knabe
hatte nichts als Tränen, die wohl im Himmel für gute Münze
gelten, aber nicht bei allen Leuten auf der Erde. Als er aber
zum dritten Doktor auf dem Weg war oder heim, fuhr langsam
der Kaiser in einer offenen Kutsche an ihm vorbei. Der Knabe
hielt ihn wohl für einen reichen Herrn, ob er gleich nicht wußte,
daß es der Kaiser war, und dachte: Ich will's versuchen. „Gnä⸗
diger Herr,“ sagte er, „wolltet Ihr mir nicht einen Gulden
schenken? Seid so barmherzig!“ Der Kaiser dachte: Der faßt's
kurz und denkt, wenn ich den Gulden auf einmal, bekomme,
so brauch' ich nicht sechzigmal um den Kreuzer zu betteln.
„Tut's ein Käsperlein oder zwei Zwanziger nicht auch?“ fragte
ihn der Kaiser. Das Büblein sagte: „Nein!“ und offenbarte
ihm, wozu es das Geld benötigt sei.
Also gab ihm der Kaiser den Gulden und ließ sich genau
von ihm beschreiben, wie seine Mutter heißt und wo sie wohnt,
und während das Büblein zum dritten Doktor springt und die
kranke Frau daheim betet, der liebe Gott wolle sie doch nicht
verlassen, fährt der Kaiser zu ihrer Wohnung und verhüllt sich
ein wenig in seinen Mantel, also, daß man ihn nicht recht er—
121
kennen konnte, wer ihn nicht darum ansah. Als er aber zu der
kranken Frau in ihr Stüblein kam, und es sah recht leer und
betrübt darin aus, meint sie, es ist der Doktor, und erzählt ihm
ihren Umstand und wie sie noch so arm dabei sei und sich nicht
pflegen könne. Der Kaiser sagte: „Ich will Euch jetzt ein Rezept
verschreiben,“ und sie sagte ihm, wo des Bübleins Schreibzeug
sei. Also schrieb er das Rezept und belehrte die Frau, in welche
Apotheke sie es schicken müsse, wenn das Kind heimkomme, und
legte es auf den Tisch.
Als er aber kaum eine Minute fort war, kam der rechte
Doktor auch. Die Frau verwunderte sich nicht wenig, als sie
hörte, er sei auch der Doktor, und entschuldigte sich, es sei schon
so einer dagewesen und hab' ihr etwas verordnet, und sie habe
nur auf ihr Büblein gewartet. Als aber der Doktor das Rezept
in die Hand nahm und sehen wollte, wer bei ihr gewesen sei,
und was für einen Trank oder Pillen er ihr verordnet habe,
erstaunte er auch nicht wenig und sagte zu ihr: „Frau, Ihr seid
einem guten Arzt in die Hände gefallen; denn er hat Euch fünf—
undzwanzig Dublonen verordnet, beim Zahlamt zu erheben,
und unten dran steht: Joseph, wenn Ihr ihn kennt. Ein solches
Magenpflaster und Herzsalbe und Augentrost hätt' ich Euch nicht
verschreiben können.“ Da tat die Frau einen Blick gegen den
Himmel und konnte nichts sagen vor Dankbarkeit und Rührung.
Das Geld wurde hernach richtig und ohne Anstand von
dem Zahlamt ausbezahlt und der Doktor verordnete ihr eine
Mixtur und durch die gute Arznei und durch die gute Pflege,
die sie sich jetzt verschaffen konnte, stand sie in wenig Tagen
wieder auf gesunden Beinen. Also hat der Doktor die kranke
Frau kuriert und der Kaiser die arme.
Johann Peter Hebel.
51. Sommernacht.
Es wallt das Korn weit in die Runde
Und wie ein Meer dehnt es sich aus;
Doch liegt auf seinem stillen Grunde
Nicht Seegewürm noch andrer Graus;
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Da träumen Blumen nur von Kränzen
Und trinken der Gestirne Schein.
O, goldnes Meer, dein friedlich Glänzen
Saugt meine Seele gierig ein!
In meiner Heimat grünen Talen
Da herrscht ein alter, schöner Brauch:
Wann hell die Sommersterne strahlen,
Der Glühwurm schimmert durch den Strauch,
Dann geht ein Flüstern und ein Winken,
Das sich dem Ahrenfelde naht,
Dann geht ein nächtlich Silberblinken
Von Sicheln durch die goldne Saat.
Das sind die Bursche, jung und wacker,
Die sammeln sich im Feld zuhauf
Und suchen den gereiften Acker
Der Witwe oder Waise auf,
Die keines Vaters, keiner Brüder
Und keines Knechtes Hilfe weiß; —
Ihr schneiden sie den Segen nieder,
Die reinste Lust ziert ihren Fleiß.
Schon sind die Garben festgebunden
Und rasch in einen Ring gebracht.
Wie lieblich floh'n die kurzen Stunden,
Es war ein Spiel in kühler Nacht!
Nun wird geschwärmt und hell gesungen
Im Garbenkreis, bis Morgenluft
Die nimmermüden, braunen Jungen
Zur eignen schweren Arbeit ruft.
Gottfried Keller.
z2. Der arme Musikant und sein Kollege.
An einem schönen Sommertag war im Prater zu Wien
ein großes Volksfest. Ganz Wien zog hinaus in die schönen
Anlagen unter die großen, herrlichen Bäume, die so erquickenden
Schatten boten, auf den frischgrünen Rasen, der so lieblich zum
Sitzen und Lagern einlud, und zu den Eß- und Trinkzelten,
die der Wiener so absonderlich liebhat. Vornehm und gering,
alt und jung freute sich dort des schönen Tages und vergaß den
Bündel Sorgen, den ja jeder mit sich herumschleppt. Viele Fremde
kamen auch heraus sich an der Lust des Volkes zu erfreuen.
Vo viele fröhliche Menschen sind, da hat auch der etwas
zu hoffen, welcher auf die Barmherzigkeit seiner glücklicheren
Mitmenschen angewiesen ist. So sammelte sich denn auch hier
eine große Zahl Krüppel und Bettler, um von den vielen Fröh⸗
lichen mit Gaben bedacht zu werden. Unter ihnen war auch ein
alter Invalide. Geradezu betteln mochte er freilich nicht; er
griff vielmehr zu einer Kunst, die er in seinen jungen Jahren
geübt hatte, nämlich zum Violinspiel, und trieb diese Kunst so
gut und so schlecht als er eben konnte. Er mochte wohl denken:
Geben sie dir nichts für dein Spiel, so sehen sie doch deinen eis⸗
grauen Kopf, deinen Stelzfuß und deinen reichlich geflickten
Rock an. Der Invalide setzte sich bei Gelegenheiten wie diese
unter einen breitastigen Ahornbaum an dem Weg, auf welchem
die meisten Leute vorbeikamen, und spielte seine Stücklein von
Anno damals. Seinen alten Pudel hatte er dazu abgerichtet,
daß er vor ihm saß und den alten Hut im Maul hielt, in den die
Barmherzigen ein Kreuzerlein für die Armut hineinwarfen.
Heute stand er da und fiedelte aus Leibeskräften und der
Pudel saß dabei und hielt den Hut hin; aber die lustigen Leute
plauderten und lachten und gingen vorüber und der Hut blieb
leer. Während der arme, alte Mann seine Märsche und Ländler
spielte, blickte er trüb und seufzend auf die wogende Menschen—
menge, auf die Pracht des Reichtums und den Übermut der
Glücklichen und der Stachel des Schmerzes drang immer tiefer
in seine Brust. Heute mußte er sicher hungern auf seinem Stroh⸗
lager im Dachstübchen, wenn es so fortging. Sein Pudel war
in der Tat besser dran; der fand wohl auf dem Heimweg vor
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irgend einem Rinnstein einen Knochen, an dem er seine Abend—
mahlzeit halten konnte. Schon war's ziemlich spät am Nach—
mittag. Manche Gesellschaften und Familien schickten sich schon
zum Heimgehen an und erst etliche Kreuzer waren in den Hut
gefallen. Die Hoffnung des Alten war so nah am Unter—
gehen wie die liebe Sonne am blauen Himmel. Da legte sich
ein tiefes Leid auf seine Seele und das wetterharte, vernarbte
Gesicht spiegelte ab, was drinnen in der Brust vorging. Als
nun alles fruchtlos blieb und die müde Hand des Greises den
Bogen nicht mehr führen konnte, auch sein gesundes Bein ihn
kaum mehr trug, setzte er sich auf einen Stein, stützte die Stirn
in die hohle Hand und die Erde saugte ein paar heimliche Tränen
ein und die sagt's nicht weiter.
Er ahnte nicht, daß schon längere Zeit nicht weit von ihm
am Stamm eines Baumes ein stattlicher, feingekleideter Herr
stand, der seinem Spiel zuhörte und ihn mit dem Ausdruck tief
empfundenen Mitleids betrachtete. Der fremde Herr, der
dort an dem rauhen Stamm der alten Linde lehnte, hatte ge—
sehen, wie die Hand, die nur noch drei Finger übrig hatte und
mit diesen den Bogen führte, die Tränen heimlich abwischte.
Es war, als ob die Tränen wie siedend heiße Tropfen dem Herrn
auf das Herz gefallen wären; denn er eilte auf den Invaliden
zu, reichte dem erstaunten Alten ein Goldstück und sagte: „Leiht
mir Eure Geige ein Stündchen!“ Der Alte sah voll Dankes
den Herrn an, der mit der deutschen Sprache nicht so umging,
als habe er sie von seiner lieben Mutter gelernt, sondern etwas
holperig, wie der alte Invalide mit der Geige. Was er aber
wollte, verstand der Alte doch und reichte ihm die Geige. Sie
war an sich so schlecht nicht; nur der, der sie gewöhnlich hand⸗
habte, kratzte übel darauf herum. Der Herr stimmte sie glockenrein,
stellte sich darauf ganz nahe zu dem Invaliden und sagte schmun⸗
zelnd zu ihm: „Kollege, nun nehmt Ihr den Hut und ich spiele!“
Er fing nun an zu spielen, daß der Alte seine Geige neu—
gierig betrachtete, als ob er fragen wollte, woher sie denn den
bundervollen Klang habe. Ihr Ton war lauter Gesang und
ging so wunderbar in die Seele, daß man gar nicht wußte, wie
einem war, und die Töne rollten wie Perlen dahin. Manchmal
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war es, als jubilierten lauter Engelstimmen aus der Geige,
und dann wieder, als klagten herzergreifende Laute den tiefsten
Schmerz einer bekümmerten Menschenseele, daß einem das
Wasser in die Augen trat. Jetzt blieben die Leute stehen, keiner
ging vorüber, alle lauschten atemlos den wundervollen Tönen
und Melodien. Immer größer wurde der Kreis der Zuhörer,
selbst die glänzenden Karossen der vornehmen Herrschaften
hielten an. Jedermann erkannte, was der bezaubernde, vor—
nehme Geiger eigentlich beabsichtigte, und man gab reichlich
in den alten Hut, den der arme Mann bittend hinhielt. Da
fiel Gold, Silber und Kupfer, je nachdem es die Leute hatten
und je nachdem das Herz mild oder zäh war. Endlich war der
Hut voll und der Alte mußte ihn ausleeren. Und der Fremde
spielte und bewegte die Herzen so wunderbar, daß er noch einmal
schier bis zum Überlaufen voll wurde. Die Augen des Fremden
leuchteten vor Freude und er spielte, daß es totenstill in der
Menge wurde und dann plötzlich ein Beifallssturm losbrach,
der gar nicht enden wollte, bis der Geiger wieder begann und
es wieder so still wurde, daß man die Herzen hätte klopfen hören
können, die der Fremde bald froher bald wehmütiger schlagen
machte. Allmählich aber wurde es kühl und die Abendluft
feucht. Da ging der Fremde über in die Melodie „Gott erhalte
Franz den Kaiser“, die jeder Osterreicher kennt und liebhat.
Alle Hüte und Mützen flogen von den Köpfen und tausend
Stimmen sangen das Lied. Der Geiger spielte mit der größten
Begeisterung. Plötzlich aber legte er die Geige in des Alten
Hand, nickte ihm freundlich zu und war verschwunden, ehe der
alte Mann ein Gott vergelt's! sagen konnte.
Der Gesang verstummte endlich, als das Lied zu Ende
war. „Wer war das?“ fragte das Volk, gegen den Invaliden
anstürmend. „Ich weiß es nicht,“ erwiderte der alte Mann.
„Aber Gott hat ihn mir zu Hilfe gesandt; denn ohne ihn hätte
ich heute hungern müssen.“ Da trat ein Herr vor und sagte:
„Ich kenne ihn sehr wohl: es war der ausgezeichnete Geigen—
künstler Alexander Boucher, der seit einigen Tagen in Wien
ist und hier seine Kunst im Dienst der Menschlichkeit übte. Laßt
uns sein Beispiel nicht vergessen!“ Nun nahm der Herr seinen
12*
eigenen Hut vom Kopf und sagte: „Boucher spielte für diesen
armen Invaliden, den wir heute alle vergaßen!“ Alle gaben
noch einmal und als der Herr den Hut in des Invaliden Sack
ausgeleert hatte, rief er: „Boucher lebe hoch!“ „Hoch! Hoch!
Hoch!“ rief das Volk. Und dem Invaliden rollten die heißen
Freudentränen über die Wangen. Er faltete seine Hände und
betete: „Herr, belohne du es ihm reichlich!“
Ich glaube, es gab an diesem Abend in Wien zwei, die
zu den Glücklichsten zu rechnen waren; der eine war der Invalide,
der nun weithin seiner Not enthoben war, und der andere war
Boucher, dem sein Herz gewiß ein Zeugnis gab, darum man ihn
beneiden möchte, wenn nicht der Neid eine Sünde wäre.
W. O. von Horn (Wilhelm Ortel).
53. Das Lied vom braven Mann.
Hoch klingt das Lied vom braven Mann
Wie Orgelton und Glockenklang.
Wer hohes Muts sich rühmen kann,
Den lohnt nicht Gold, den lohnt Gesang.
Gottlob, daß ich singen und preisen kann,
Zu singen und preisen den braven Mann!
Der Tauwind kam vom Mittagsmeer
Und schnob durch Welschland trüb und feucht;
Die Wolken flogen vor ihm her,
Wie wenn der Wolf die Herde scheucht.
Er fegte die Felder, zerbrach den Forst,
Auf Seen und Strömen das Grundeis borst.
Am Hochgebirge schmolz der Schnee,
Der Sturz von tausend Wassern scholl;
Das Wiesental begrub ein See;
Des Landes Heerstrom wuchs und schwoll;
Hoch rollten die Wogen entlang ihr Gleis
Und rollten gewaltige Felsen Eis.
38
Auf Pfeilern und auf Bogen schwer,
Aus Quaderstein von unten auf
Lag eine Brücke drüber her
Und mitten stand ein Häuschen drauf;
Hier wohnte der Zöllner mit Weib und Kind.
„O Zöllner, o Zöllner, entfleuch geschwind!“
Es dröhnt' und dröhnte dumpf heran;
Laut heulten Sturm und Wog' ums Haus.
Der Zöllner sprang zum Dach hinan
Und blickt' in den Tumult hinaus.
„Barmherziger Himmel, erbarme dich!
Verloren! Verloren! Wer rettet mich?“
Die Schollen rollten, Schuß auf Schuß,
Von beiden Ufern, hier und dort;
Von beiden Ufern riß der Fluß
Die Pfeiler samt den Bogen fort.
Der bebende Zöllner mit Weib und Kind,
Er heulte noch lauter als Strom und Wind.
Die Schollen rollten, Stoß auf Stoß;
An beiden Enden, hier und dort,
Zerborsten und zertrümmert schoß
Ein Pfeiler nach dem andern fort;
Bald nahte der Mitte der Umsturz sich.
„Barmherziger Himmel, erbarme dich!“
Hoch auf dem fernen Ufer stand
Ein Schwarm von Gaffern groß und klein
Und jeder schrie und rang die Hand,
Doch mochte niemand Retter sein.
Der bebende Zöllner mit Weib und Kind
Durchheulte nach Rettung den Strom und Wind.
Rasch galoppiert ein Graf hervor,
Auf hohem Roß ein edler Graf.
Was hielt des Grafen Hand empor?
Ein Beutel war es, voll und straff.
Lesebuch für Höhere Mädchenschulen. 1.
129
130
„Zweihundert Pistolen sind zugesagt
Dem, welcher die Rettung der Armen wagt!“
Und immer höher schwoll die Flut
Und immer lauter schnob der Wind
Und immer tiefer sank der Mut! —
O Retter, Retter, komm geschwind!
Stets Pfeiler bei Pfeiler zerborst und brach;
Laut krachten und stürzten die Bogen nach.
„Hallo! Hallo! Frisch auf gewagt!“
voch hielt der Graf den Preis empor.
Ein jeder hört's, doch jeder zagt,
Aus Tausenden tritt keiner vor.
Vergebens durchheulte mit Weib und Kind
Der Zöllner nach Rettung den Strom und Wind. —
Sieh! Schlecht und recht ein Bauersmann
Am Wanderstabe schritt daher,
Mit grobem Kittel angetan,
An Wuchs und Antlitz hoch und hehr.
Er hörte den Grafen, vernahm sein Wort
Und schaute das nahe Verderben dort.
Und kühn in Gottes Namen sprang
Er in den nächsten Fischerkahn.
Trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang
Kam der Erretter glücklich an.
Doch wehe! der Nachen war allzu klein
Der Retter von allen zugleich zu sein.
Und dreimal zwang er seinen Kahn
Trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang
Und dreimal kam er glücklich an,
Bis ihm die Rettung ganz gelang.
Kaum kamen die letzten in sichern Port,
So rollte das letzte Getrümmer fort. —
„Hier,“ rief der Graf, „mein wackrer Freund,
Hier ist dein Preis! Komm her, nimm hin!“
Sag' an, war das nicht brav gemeint?
Bei Gott! der Graf trug hohen Sinn.
Doch höher und himmlischer, wahrlich, schlug
Das Herz, das der Bauer im Kittel trug.
„Mein Leben ist für Gold nicht feil.
Arm bin ich zwar, doch ess' ich satt.
Dem Zöllner werd' Eü'r Gold zuteil,
Der Hab und Gut verloren hat!“
So rief er mit herzlichem Biederton
Und wandte den Rücken und ging davon. —
Hoch klingst du, Lied vom braven Mann,
Wie Orgelton und Glockenklang!
Wer solches Muts sich rühmen kann,
Den lohnt kein Gold, den lohnt Gesang.
Gottlob, daß ich singen und preisen kann,
Unsterblich zu preisen den braven Mann!
Gottfried August Bürger.
54. Der kluge Richter.
Ein reicher Mann im Morgenlande hatte eine beträchtliche
Geldsumme, welche in ein Tuch eingenäht war, aus Unvorsich—
tigkeit verloren. Er machte daher seinen Verlust bekannt und
bot, wie man zu tun pflegt, dem ehrlichen Finder eine Beloh—
nung und zwar von hundert Talern an. Da kam bald ein guter
und ehrlicher Mann daher gegangen. „Dein Geld habe ich ge—
funden. Dies wird's wohl sein! So nimm dein Eigentum zu—
rück!“ So sprach er mit dem heitern Blick eines ehrlichen Mannes
und eines guten Gewissens und das war schön. Der andere
machte auch ein fröhliches Gesicht, aber nur, weil er sein verloren
geschätztes Geld wieder hatte; denn wie es um seine Ehrlich—
keit aussah, das wird sich bald zeigen. Er zählte das Geld und
dachte unterdessen geschwinde nach, wie er den treuen Finder
um seine versprochene Belohnung bringen könnte. „Guter
Freund,“ sprach er hierauf, „es waren eigentlich achthundert
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Taler in dem Tuch eingenäht, ich finde aber nur noch sieben—
hundert Taler. Ihr werdet also wohl eine Naht aufgetrennt
und Eure hundert Taler Belohnung schon herausgenommen
haben. Da habt Ihr wohl daran getan. Ich danke Euch.“ Das
war nicht schön; aber wir sind auch noch nicht am Ende. Ehr—
lich währt am längsten und Unrecht schlägt seinen eigenen Herrn.
Der ehrliche Finder, dem es weniger um die hundert Taler als
um seine unbescholtene Rechtschaffenheit zu tun war, versicherte,
daß er das Päcklein so gefunden habe, wie er es bringe, und es
so bringe, wie er's gefunden habe.
Am Ende kamen sie vor den Richter. Beide bestanden
auch hier noch auf ihrer Behauptung, der eine, daß achthundert
Taler eingenäht gewesen seien, der andere, daß er von dem
Gefundenen nichts genommen und das Päcklein nicht versehrt
habe. Da war guter Rat teuer. Aber der kluge Richter, der
die Ehrlichkeit des einen und die schlechte Gesinnung des andern
zum voraus zu kennen schien, griff die Sache so an. Er ließ
sich von beiden über das, was sie aussagten, eine feste und feier—
liche Versicherung geben und tat hierauf folgenden Ausspruch:
„Demnach, wenn der eine von euch achthundert Taler verloren,
der andere aber nur ein Päcklein mit siebenhundert Talern ge—
funden hat, so kann auch das Geld des letzteren nicht das nämliche
sein, auf welches der erstere ein Recht hat. Du, ehrlicher Freund,
nimmst also das Geld, welches du gefunden hast, wieder zurück
und behältst es in guter Verwahrung, bis der kommt, welcher
nur siebenhundert Taler verloren hat. Und dir da weiß ich
keinen Rat, als du geduldest dich, bis derjenige sich meldet, der
deine achthundert Taler findet.“ So sprach der Richter und
dabei blieb es.
Johann Peter Hebel.
55. Der Bauer und sein Sohn.
Ein guter, dummer Bauernknabe,
Den Junker Hans einst mit auf Reisen nahm
Und der trotz seinem Herrn mit einer guten Gabe
Recht dreist zu lügen, wiederkam,
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Ging kurz nach der vollbrachten Reise
Mit seinem Vater über Land.
Fritz, der im Gehn recht Zeit zum Lügen fand,
Log auf die unverschämtste Weise.
Zu seinem Unglück kam ein großer Hund gerannt.
„Ja, Vater,“ rief der unverschämte Knabe,
„Ihr mögt mir's glauben oder nicht,
So sag' ich's euch und jedem ins Gesicht,
Daß ich einst einen Hund bei — Haag gesehen habe,
Hart an dem Weg, wo man nach Frankreich fährt,
Der — ja, ich bin nicht ehrenwert,
Wenn er nicht größer war als Euer größtes Pferd!“
„Das,“ sprach der Vater, „nimmt mich wunder,
Wiewohl ein jeder Ort läßt Wunderdinge seh'n.
Wir zum Exempel gehn jetzunder
Und werden keine Stunde gehn,
So wirst du eine Brücke seh'n
(Wir müssen selbst darüber gehn),
Die hat dir manchen schon betrogen;
Denn überhaupt soll's dort nicht gar zu richtig sein.
Auf dieser Brücke liegt ein Stein,
An den stößt man, wenn man denselben Tag gelogen,
Und fällt und bricht sogleich das Bein!“
Der Bub erschrak, sobald er dies vernommen.
„Ach,“ sprach er, „lauft doch nicht so sehr! —
Doch wieder auf den Hund zu kommen,
Wie groß sagt' ich, daß er gewesen wär'?
Wie Euer großes Pferd? Dazu will viel gehören.
Der Hund — jetzt fällt mir's ein! — war erst ein halbes Jahr
Allein das wollt' ich wohl beschwören,
Daß er so groß als mancher Ochse war.“
Sie gingen noch ein gutes Stücke;
Doch Fritzen schlug das Herz. Wie konnt' es anders sein?
Denn niemand bricht doch gern ein Bein.
Es sah nunmehr die richterische Brücke
Und fühlte schon den Beinbruch halb.
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„Ja, Vater,“ fing er an, „der Hund, von dem ich red'te,
War groß und wenn ich ihn auch 'was vergrößert hätte,
So war er doch viel größer als ein Kalb.“
Die Brücke kommt. Fritz, Fritz, wie wird dir's gehen?
Der Vater geht voran; doch Fritz hält ihn geschwind.
„Ach, Vater,“ spricht er, „seid kein Kind
Und glaubt, daß ich dergleichen Hund gesehen!
Denn kurz und gut, eh' wir darüber gehen:
Der Hund war nur so groß, wie alle Hunde sind.“
Christian Fürchtegott Gellert.
56. Kannitverstan.
Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, in Emmen—
dingen und Gundelfingen so gut als in Amsterdam, Betrach⸗
tungen über den Unbestand aller irdischen Dinge anzustellen,
wenn er will, und zufrieden zu werden mit seinem Schichksal,
wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in der Luft
herumfliegen. Aber auf dem seltsamsten Umwege kam ein deut⸗
scher Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrtum zur
Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis.
Denn als er in diese große und reiche Handelsstadt voll
prächtiger Häuser, wogender Schiffe und geschäftiger Menschen
gekommen war, fiel ihm sogleich ein großes und schönes Haus
in die Augen, wie er auf seiner ganzen Wanderschaft von Tutt—
lingen bis nach Amsterdam noch keines erlebt hatte. Lange
betrachtete er mit Verwunderung dies kostbare Gebäude, die
sechs Kamine auf dem Dach, die schönen Gesimse und die hohen
Fenster, größer als an des Vaters Haus daheim die Tür. Endlich
konnte er sich nicht entbrechen einen Vorübergehenden anzu—
reden. „Guter Freund,“ redete er ihn an, „könnt Ihr mir nicht
sagen, wie der Herr heißt, dem dieses wunderschöne Haus gehört
mit den Fenstern voll Tulipanen, Sternenblumen und Lev—
koien?“ Der Mann aber, der vermutlich etwas Wichtigeres zu
tun hatte und zum Unglück gerade so viel von der deutschen
Sprache verstand als der Fragende von der holländischen, nämlich
* 4
*
5
nichts, sagte kurz und schnauzig: „Kanntiverstan“ und schnurrte
vorüber. Dies war ein holländisches Wort oder drei, wenn
man's recht betrachtet, und heißt auf deutsch so viel als: Ich kann
Euch nicht verstehn. Aber der gute Fremdling glaubte, es sei
der Name des Mannes, nach dem er gefragt hatte. Das muß
ein grundreicher Mann sein, der Herr Kannitverstan, dachte er
und ging weiter.
Gass' aus, Gass' ein kam er endlich an den Meerbusen,
der da heißt: Het Ey oder auf deutsch: das Ysilon. Da stand
nun Schiff an Schiff und Mastbaum an Mastbaum und er wußte
anfänglich nicht, wie er es mit seinen zwei einzigen Augen
durchfechten werde, alle diese Merkwürdigkeiten genug zu sehen
und zu betrachten, bis endlich ein großes Schiff seine Aufmerk⸗
samkeit an sich zog, das vor kurzem aus Ostindien angelangt
war und jetzt eben ausgeladen wurde. Schon standen ganze
Reihen von Kisten und Ballen auf- und nebeneinander am Lande.
Noch immer wurden mehrere herausgewälzt und Fässer voll
Zucker und Kaffee, voll Reis und Pfeffer. Als er aber lange
zugesehen hatte, fragte er endlich einen, der eben eine Kiste auf
der Achsel heraustrug, wie der glückliche Mann heiße, dem das
Meer alle diese Waren an das Land bringe. „Kannitverstan!“
war die Antwort. Da dachte er: „Haha, schaut's da heraus?
Kein Wunder! Wem das Meer solche Reichtümer an das Land
schwemmt, der hat gut solche Häuser in die Welt stellen und
solcherlei Tulipanen vor die Fenster in vergoldeten Scherben.“
Jetzt ging er wieder zurück und stellte eine recht traurige
Betrachtung bei sich selbst an, was er für ein armer Mensch sei
unter soviel reichen Leuten in der Welt. Aber als er eben dachte:
„Wenn ich's doch nur auch einmal so gut bekäme, wie dieser
Herr Kannitverstan es hat!“ kam er um eine Ecke und erblickte
einen großen Leichenzug. Vier schwarz vermummte Pferde
zogen einen ebenfalls schwarz überzogenen Leichenwagen lang⸗
sam und traurig, als ob sie wüßten, daß sie einen Toten in seine
Ruhe führten. Ein langer Zug von Freunden und Bekannten
des Verstorbenen folgte nach, Paar und Paar, verhüllt in schwarze
Mäntel und stumm. In der Ferne läutete ein einsames Glöck—
lein. Jetzt ergriff unsern Fremdling ein wehmütiges Gefühl,
das an keinem guten Menschen vorübergeht, wenn er eine Leiche
sieht, und er blieb mit dem Hut in den Händen andächtig stehen,
bis alles vorüber war. Doch machte er sich an den letzten vom
Zug, der eben in der Stille ausrechnete, was er an seiner Baum⸗
wolle gewinnen könnte, wenn der Zentner um zehn Gulden
aufschlüge, ergriff ihn sachte am Mantel und bat ihn treuherzig
um Verzeihung. „Das muß wohl auch ein guter Freund von
Euch gewesen sein,“ sagte er, „dem das Glöcklein läutet, daß Ihr
so betrübt und nachdenklich mitgeht?“ „Kannitverstan!“ war
die Antwort. Da fielen unserm guten Tuttlinger ein paar große
Tränen aus den Augen und es ward ihm auf einmal schwer
und wieder leicht ums Herz. „Armer Kannitverstan,“ rief er
aus, „was hast du nun von allem deinem Reichtum? Was ich
einst von meiner Armut auch bekomme: ein Totenkleid und ein
Leintuch und von all deinen schönen Blumen vielleicht einen
Rosmarin auf die kalte Brust oder eine Raute.“ Mit diesen
Gedanken begleitete er die Leiche, als wenn er dazu gehörte,
bis ans Grab, sah den vermeinten Herrn Kannitverstan hinab—
senken in seine Ruhestätte und ward von der holländischen Leichen—
predigt, von der er kein Wort verstand, mehr gerührt als von
mancher deutschen, auf die er nicht achtgab.
Endlich ging er leichten Herzens mit den andern wieder
fort, verzehrte in einer Herberge, wo man Deutsch verstand,
mit gutem Appetit ein Stück Limburger Käse, und wenn es
ihm wieder einmal schwer fallen wollte, daß so viele Leute in
der Welt so reich seien und er so arm, so dachte er nur an den
Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, an
sein reiches Schiff und an sein enges Grab.
Johann Peter Hebel.
57. Hoffnung.
Und dräut der Winter noch so sehr
Mit trotzigen Gebärden
Und streut er Eis und Schnee umher:
Es muß doch Frühling werden.
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Und drängen die Nebel noch so dicht
Sich vor den Blick der Sonne:
Sie wecket doch mit ihrem Licht
Einmal die Welt zur Wonne.
Blast nur, ihr Stürme, blast mit Macht,
Mir soll darob nicht bangen;
Auf leisen Sohlen über Nacht
Kommt doch der Lenz gegangen.
Da wacht die Erde grünend auf,
Weiß nicht, wie ihr geschehen,
Und lacht in den sonnigen Himmel hinauf
Und möchte vor Lust vergehen.
Sie flicht sich blühende Kränze ins Haar
Und schmückt sich mit Rosen und Ahren
Und läßt die Brünnlein rieseln klar,
Als wären es Freudenzähren.
Drum still! und wie es frieren mag,
O Herz, gib dich zufrieden;
Es ist ein großer Maientag
Der ganzen Welt beschieden.
Und wenn dir oft auch bangt und graut,
Als sei die Höll' auf Erden:
Nur unverzagt auf Gott vertraut!
Es muß doch Frühling werden.
Emanuel Geibel.
58. Frühlings Einzug.
Die Fenster auf, die Herzen auf!
Geschwinde! Geschwinde!
Der alte Winter will heraus;
Er trippelt ängstlich durch das Haus;
Er windet bang sich in der Brust
Und kramt zusammen seinen Wust.
Geschwinde! Geschwinde!
54—
Die Fenster auf, die Herzen auf!
Geschwinde! Geschwinde!
Er spürt den Frühling vor dem Tor;
Der will ihn zupfen bei dem Ohr,
Ihn zausen an dem weißen Bart
Nach solcher wilden Buben Art.
Geschwinde! Geschwinde!
Die Fenster auf, die Herzen auf!
Geschwinde! Geschwinde!
Der Frühling pocht und klopft ja schon, —
Horcht, horcht, es ist ein lieber Ton!
Er pocht und klopfet, was er kann,
Mit kleinen Blumenknospen an.
Geschwinde! Geschwinde!
Die Fenster auf, die Herzen auf!
Geschwinde! Geschwinde!
Und wenn ihr noch nicht öffnen wollt,
Er hat viel Dienerschaft im Sold,
Die ruft er sich zur Hilfe her
Und pocht und klopfet immer mehr.
Geschwinde! Geschwinde!
Die Fenster auf, die Herzen auf!
Geschwinde! Geschwinde!
Es kommt der Junker Morgenwind,
Ein pausebackig rotes Kind,
Und bläst, daß alles klingt und klirrt,
Bis seinem Herrn geöffnet wird.
Geschwinde! Geschwinde!
Die Fenster auf, die Herzen auf!
Geschwinde! Geschwinde!
Es kommt der Ritter Sonnenschein,
Der bricht mit goldnen Lanzen ein;
Der sanfte Schmeichler Blütenhauch
Schleicht durch die engsten Ritzen auch.
Geschwinde! Geschwinde!
138
2
Die Fenster auf, die Herzen auf!
Geschwinde! Geschwinde!
gum Angriff schlägt die Nachtigall
Und horch und horch, ein Widerhall,
Ein Widerhall aus meiner Brust!
Herein, herein, du Frühlingslust,
Geschwinde! Geschwinde!
Wilhelm Müller.
59. Der Strom.
Tief in waldgrüner Nacht
Ist ein Bächlein erwacht,
Kommt von Halde zu Halde gesprungen.
Und die Blumen sie stehn
Ganz verwundert und seh'n
In die Augen dem lustigen Jungen.
Und sie bitten: „Bleib hier
In dem stillen Revier
Wie sie drängen den Weg ihm zu hindern!
Doch er küßt sie im Flug
Und mit neckischem Zug
Ist entschlüpft er den lieblichen Kindern.
Und nun springt er hinaus
Aus dem stillgrünen Haus.
„O du weite, du strahlende Ferne!
Dir gehör' ich, o Welt!“
Und er dünkt sich ein Held
Und ihm leuchten die Augen wie Sterne.
„Gebt mir Taten zu tun!
Darf nicht rasten, nicht ruh'n,
Soll der Vater, der alte, mich loben!“
Hoch zum Flusse geschwellt,
Von dem Fels in die Welt
Braust er nieder mit freudigem Toben.
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149
„Gebt mir Taten zu tun,
Kann nicht rasten, nicht ruh'n!“
Und schon hört man die Hämmer ihn schmettern.
Und vorbei an dem Riff
Trägt er sicher das Schiff
In dem Kampfe mit Sturm und mit Wettern.
Immer voller die Lust,
Immer weiter die Brust!
Und er wächst zum gewaltigen Strome.
Zwischen rankendem Wein
Schauen Dörfer darein
Und die Städt' und die Burgen und Dome.
Und er kommt an das Meer.
Hell leuchtet es her,
Wie verklärt von göttlichem Walten.
Welch ein Rauschen im Wind?
„Du mein Vater!“ — „Mein Kind!“
Und er ruht in den Armen des Alten.
Robert Reinick.
60. Der Wind.
Wind, Wind,
Wo kommst du her?
Weit übers Meer
Fuhr ich geschwind,
Habe die Wellen
Gepeitscht und geschlagen,
Machte zerschellen
Die Schiffe
Am Riffe! —
Keinen Mast sieht mehr man dort ragen!
Wind, Wind,
Wo kommst du her?
Übers Gebirge
Saust' ich mit Macht,
Hab' die Lawine ins Rollen gebracht;
1**
Wald und Saaten
Hat sie geknickt,
Hirt und Herden
Zermalmt und zerdrückt;
Des Aplers Dorf
Liegt tief unterm Schnee,
Kein Dach, kein Türmchen
Ragt mehr zur Höh'! —
Dann hab' ich sacht
In selbiger Nacht
Ein glimmendes Fünkchen
Zum Lodern gebracht,
Ein Flammenmeer
Durch die Gassen gefegt,
Eine halbe Stadt in Asche gelegt!
Wind, Wind,
Was tatest du dann?
Habe über den grünen Rasen
Einer lachenden Wiese geblasen;
Habe lind die Blüten gewiegt,
Die der gaukelnde Falter umfliegt;
Habe dem Bächlein sanft gesäuselt,
Habe den Birken die Kronen gekräuselt,
Hab' um ein Kind,
Das drunter schlief,
Leis und lind
Die Flügel geschwungen
Und es gesungen
In Schlummer tief.
Wind, Wind,
Was tatest du dann?
Hab' die Wolken am Himmel gejagt,
Bis die Sonne golden getagt;
Hab' der ganzen Welt gelacht
Und mit Brausen den Frühling gebracht!
142
Wind, Wind,
Wohin nun geschwind?
Schwing' mich nun auf zu Himmels Bezirken
Neue Arbeit mir auszuwirken!
Ich kann brausen
Der Welt zum Grausen
Und kann weich wie ein Atem weh'n. —
Aber nun frag' nicht mehr;
Denn ich sag' nicht mehr;
Schweig und laß mich gehn!
Wind, Wind,
Gottes und Dämons Kind,
Wenn deine Hand
Fluch und Segen umspannt:
Gnädig, nur mit sanftem Gebrause
Geh vorüber meinem Hause!
Richard Zoozmann.
61. Herbst.
Es ist nun der Herbst gekommen,
Hat das schöne Sommerkleid
Von den Feldern weggenommen
Und die Blätter ausgestreut.
Vor dem bösen Winterwinde
Deckt er warm und sachte zu
Mit dem bunten Laub die Gründe,
Die schon müde gehn zur Ruh.
Durch die Felder sieht man fahren
Eine wunderschöne Frau,
Und von ihren langen Haaren
Goldne Fäden auf der Au
Spinnet sie und singt im Gehen:
„Eia, meine Blümelein,
Nicht nach andern immer sehen,
Eia, schlafet, schlafet ein!“
Joseph Freiherr von Eichendorff.
125
62. Der Winter.
(Alemannisch.)
Isch echt do obe Bauwele feil?
Sie schütten eim e redli Teil
In d' Gärten aben und ufs Hus;
Es schneit doch au, es isch e Gruus
Und 's hangt no menge Wage voll
Am Himmel obe, merk i wohl.
Und wo ne Ma von witem lauft,
So het er vo der Bauwele g'chauft;
Er treit si uf der Achsle no
Und uffem Huet und lauft dervo.
Was laufsch denn so, du närrsche Ma?
De wirsch sie doch nit gstohle ha?
Und Gärten ab und Gärten uf
Hen alli Scheie Chäpli uf.
Sie stöhn wie großi Here do,
Sie meine, 's heig's sust niemes so.
Der Nußbaum het doch au si Sach
Und 's Herehus und 's Chilchedach!
Und wo me luegt, isch Schnee und Schnee,
Me sieht ke Stroß und Fueßweg meh.
Meng Somechörnli, chlei und zart,
Lit unterm Bode wohl verwahrt,
Und schnei's, so lang es schneie mag,
Es wartet uf si Ostertag.
Meng Summervögeli schöner Art
Lit unterm Bode wohl verwahrt;
Es hat kei Chummer und kei Chlag
Und wartet uf si Ostertag.
Und gangs au lang, er chunnt emol
Und sider schloft's und 's isch em wohl.
144
Doch wenn im Früehlige's Schwälmli singt
Und d' Sunnewärmi abe dringt,
Potztausig, wacht 's in jedem Grab
Und streift si Totehemdli ab.
Wo nummen au e Löchli isch,
Schlieft's Leben use jung und frisch. —
Do fliegt e hungerig Spätzli her!
E Brösli Brot wär si Bigehr.
Es luegt ein so verbärmtlisa,
's hat sider nechte nüt meh gha.
Gell, Bürstli, sell isch anderi Zit,
Wenn 's Chorn in alle Fure lit?
Do hesch! Loß andern au dervo!
Bisch hungerig, chasch wieder cho!
s muß wohr si, wie 's e Sprüchli git:
„Sie seihe nit und ernte nit,
Sie hen kei Pflug und hen kei Joch
Und Gott im Himmel nährt sie doch.“
Johann Peter Hebel.
63. Was die Weisheit unsrer Dichter spricht.
1. Zwischen heut und morgen
Liegt eine lange Frist.
Lerne schnell besorgen,
Da du noch munter bist!
2. Es ließe sich alles trefflich schlichten,
Könnte man die Sachen zweimal verrichten.
z. Glaube nur, du hast viel getan,
Wenn dir Geduld gewöhnest an.
Mann mit zugeknöpften Taschen,
Dir tut niemand was zulieb;
Hand wird nur von Hand gewaschen:
Wenn du nehmen willst, so gib!
the.
Gor
1 a
5. Gesell' dich einem Bessern zu,
Daß mit ihm deine bessern Kräfte ringen;
Wer selbst nicht weiter ist als du,
Der kann dich auch nicht weiter bringen.
Prahle nicht heute: „Morgen will
Dieses oder das ich tun!“
Schweige doch bis morgen still,
Sage dann: „Das tat ich nun.“
7. Wehe dem, der zu sterben geht
Und keinem Liebe geschenkt hat,
Dem Becher, der zu Scherben geht
Und keinen Durst'gen getränkt hat.
8. Auf das, was dir nicht werden kann,
Sollst du den Blick nicht kehren.
Oder ja: sieh recht es an,
So siehst du gewiß, du kannst's entbehren.
— Friedrich Rückert.
9. Eh' du den Nebenmann verklagst,
Gib acht, daß du dich prüfst und fragst,
Ob des Vergehns, des du ihn zeihst,
Du selbst nicht zwiefach schuldig seist.
—11 Fr. Wilh. Weber.
10. „Freund in der Not“ will nicht viel heißen:
Hilfreich möchte sich mancher erweisen;
Aber die neidlos ein Glück dir gönnen,
Die darfst du wahrlich Freunde nennen.
Paul Heyse,
11. Wer Freunde sucht, ist sie zu finden wert;
Wer keinen hat, hat keinen noch begehrt.
Gotth. Ephr. Lessing.
Lesebuch für Höhere Mädchenschulen. J. 10
146
12. Hütet eurer Zungen!
Das geziemt den Jungen.
Schiebt den Riegel vor die Tür,
Laßt kein böses Wort herfür!
Walter von der Vogelweide.
4. Was die „Weisheit auf der Gasse“ spricht.
Ein wenig zu spät ist viel zu spät.
Frisch gewagt ist halb gewonnen.
Erst besinn's, dann beginn's.
Guter Rat kommt über Nacht.
Man muß das Eisen schmieden, solang es warm ist.
Steter Tropfen höhlt den Stein.
Von einem Streiche fällt keine Eiche.
Übung macht den Meister.
Morgenstunde hat Gold im Munde.
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.
Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.
Man muß nicht jedes Wort auf die Goldwage legen.
Wer A sagt, muß auch B sagen.
Versprechen macht Schulden.
Muß ist eine harte Nuß.
Wie man sich bettet, so schläft man.
Was einer sich einbrockt, das muß er ausessen.
Die Alten zum Rat, die Jungen zur Tat.
Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen.
Spare in der Zeit, so hast du in der Not.
Die Zeit bringt Rosen.
———
42
147
V. Land und Leute.
65. Arbeitergestalten aus den Bergen.
1. Der Holzkneceht.
Wandre mit mir den prächtigen Waldsteig entlang, der
von Ramsau nach dem Hintersee führt! Wild schäumt der
Bergbach neben uns. Sein Wasser ist heute trüb, grau und
hochgeschwollen; mit donnerähnlichem Rauschen wälzt es
tausende und abertausende von braunen Holzblöcken dabher.
Einzelne dieser Holæblöcke sind dieck wie Eimerfässer, andere
schmächtiger; rund und braun sind sie alle, soweit ihnen nicht
die stürmische Talfahrt schon ihr Rindengewand in Petzen
abgerissen hat. Man möchte jedem dieser Holzblöcke nach-
schauen, wie er seine Reise vollbringt, wie das wilde Wasser
ihn dreht und wirft, ihn ab und zu zwischen ein paar Pels-
zacken klemmt, um ihn nach einigen Minuten wieder los-
zureiben und weiterzuwirbeln.
Und nun kommen uns auch zwei Männer entgegen, denen
die schwere und nicht ganz gefahrlose Arbeit zuteil geworden
ist, die Talfahrt dieser Hölzer zu leiten. Holzknechte heiben
diese Leute in den bayerischen Bergen. Hochgewachsene,
kraftvolle Gestalten sind's mit wetterbraunen, trotzigen Ge-
sichtern. die tragen einen grünen Spitzhut mit einer Peder
darauf, Joppe, kurze Lederbeinkleider, Strümpfe und schwere,
eisenbeschlagene Schuhe. Als besonders auszeichnend und
malerisch an ihrer Tracht aber erscheint ein breiter, dunkler
Lederkragen. In dieser vollen Tracht, zu weleher aueh noch
der Rucksack und die Axt über der Schulter gehört, erscheinen
sie aber nur, wenn sie zur Arbeit ausziehen. Jetzt, wo wir
sie mitten in deèr Hantierung sehen, ist Joppe, Kragen, Ruck-
14*
sack und Axt zurückgeblieben; dafür ist jeder mit dem Gries-
beil, einem langstieligen Haken, bewehrt, der ibhm Bergstock
und Werkzeug zugleich ist.
Die Aufgabe dieser Männer und ihrer nach ihnen kom-
menden Kameraden ist es, den Waldbach herab das getriftete
Holz zu begleiten und jeden Block, der sich etwa zwischen
Felsen festklemmt oder ans Ufer herausgeworfen wurde, wieder
in die nasse Bahn zurückzustoben. Nicht selten kommt es
dabei vor, dab Dutzende von Blõcken dureh die schãumenden
Wasser auf einen Haufen getürmt werden, der dann mitten
im Wildbach liegt, ein bedenkliches Hindernis für die nach-—
kommenden. Da mub der Holzknecht oft genug bis an die
Kniee oder wohl auch bis an die Brust im eiskalten Wasser
stehen und in wilder Hast an dem Trümmerhaufen stoben und
ziehen, bis er zerfällt und unwillig seinen rauschenden Weg
fortsetat. Bewunderungswürdig ist es, mit weleher Geschick-
lichkeit die Holzknechte auf die flutüberströmten Steine
springen, um von da aus die Hölzer weiterzustoben, oder wie
sie auf schwankenden Holzinseln Fub fassen, diese Inseln unter
sich zertrümmern und sich dann aus den Trümmern wieder
ans Ufer schwingen. Weiter flubabwärts beginnt dann das-
selbe mühsame Werk von neuem.
Nach halbstündiger Wanderung kommen wir an einen
Platz, wo ein steiler Waldhang unmittelbar nach der Ache zu
abfällt. Bis hoch hinauf zeigt er nichts als eine mächtige
Halde von Holzblõöcken. Und diese Halde ist in rollender,
springender Bewegung. Ein ganzes Stück Wald ist's, das da
mit einem Male herabgewälzt wird. Zwei im Dienst ergraute
Manner begleiten von oben her den Holzsturz. Mit ihren Gries-
beilen reihen sie jeden der etwa liegen gebliebenen Holzblõcke
in die Bahn, bis er kollernd und polternd sich wieder in Be—
wegung setzt und mit wütenden Sprüngen herunterjagt, um
endlioh kopfüber in die Ache zu stürzen, daß das Wasser hoch
aufzisecht, oder auf der Holzinsel liegen zu bleiben, eingeklemmt
zwischen Hunderten von Kameraden. Und während diese
hölzernen Geschosse aus der Höhe herabsausen, arbeiten die
kühnen Männer am Ufer des Waldbachs daran die Holzinsel
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zu zertrümmern. Stück für Stück reißen sie los und stoben
es in die Wellen hinaus.
Stundenlang kann man ihnen zuschauen ohne müde zu
werden. Endlich wirbeln die letzten Trümmer des Holzberges
in der Ache von dannen. Hinter ihnen drein wandern die
letzten der Holzknechte, um jeden Klotz, der etwa von der
vorgeschriebenen Marschrichtung abspringen wollte, in das
Fahqlrwasser zurüũckzutreiben. Nach ein paar Stunden wird die
ganze ungeheure Holzmasse vor dem Rechen zu Berchtesgaden
aufgestapelt sein. So schnell muß die ganze Arbeit geschehen
sein; denn die Ache hat ja für gewöhnlich nicht so viel Wasser
um solehe Holzmassen triften zu können; das ist nur möglich,
indem man das Wasser höher droben aufgestaut hat und plötz-
lich schieben läßt.
Eine eigenartige Arbeit ist diese Holætrift. Hier gibt's
einen Kampf mit dem Wasser, mit dem Gestein und mit dem
Holz zugleich. Die wilden Bergbäche unserer Alpen werden
fast überall als Triftwege benützt; auf stundenlange Strecken
sient man es ihnen aber oft nicht an, dabß sie dieseem Zweck
dienen können und müssen. Dann aber, wenn man auf dem
schmalen, oft kaum bemerkbaren Triftsteig entlang wandert,
der sich am WVildbache hinzieht, gelangt man plötzlich an eine
Klause. sSo beibt man die Bauten, welche aufgeführt sind,
um die Triftbäche künstlich aufstauen zu können und hernach
dureh Offnen der Klause auf einmal größere Wassermengen
zu erhalten, als der Triftbach für gewöhnlich fübhrt.
Die Arbeit der Holzknechte beim Triften beginnt damit,
daß die Hölzer — es sind entweder Sägbäume oder Brenn-
holz — in den Triftbach eingeworfen werden, nachdem man
die Klause dureh hölzerne Tore geschlossen hat. Die Auf-
schichtung mub locker sein, damit das talwärts schiebende
Wasser die Holzmassen leicht erfassen und loslösen kann.
Sobald die Klausentore geöffnet werden, stürzt das aufgestaute
Wasser zornig und schäumend herab und reißt die Holæmassen
mit sioh fort. Da gibt es nun mancherlei schwere, aufregende
und gefahrvolle Arbeit. Wo größere Massen von Sägbäumen
aufgestapelt liegen, um beim Beginn der Trift in den Driftbach
1
geworfen zu werden, wurden sie vorher so aufgespeichert, dab
sie dureh einen oder ein paar Männer leicht losgelöst werden
können. Ein paar Axtschläge — und die Bäume, welohe den
ganzen Haufen festhalten, lösen sich aus ihrer Stellung, der
riesige Holzhaufen aber gerät in sohwankende Bewegung und
kollert mit furehtbarem Gepolter in den Wildbach hinab,
wãhrend der kecke Gesell, der den hölzernen Riegel gelöst hat,
schauen darf, dab er sich mit einem Seitensprung rettet. Eine
Viertelsekunde zu spãt — und er würde, erdrückt und zermalmt,
zwischen den Stämmen im Triftbache hinabgerissen. Aber
aueh noch andere Gefahren drohen den kühnen Waldmenschen.
Mitunter verengt sieh die Schlucht, durch welche der Trift-
bach braust, zur finsteren Klamm, die zu beiden Seiten von
turmhohen, senkrechten, oft überhängenden Wänden ein—
geschlossen ist. Drunten in der Tiefe gurgeln dié Wasser;
gespenstige Lichter nur fallen von oben in den Schlund. Wenn
da drunten das Triftholz sich aufstaut, mub einer der Holz-
knechte, an einem Seile hängend, hinabgelassen werden. Er
muß auf dem finsteren, flutumrauschten Holzberg selbst Fub
fassen und mit dem Griesbeil die sohweren Hölzer auseinander
reihen, bis sie wieder schwimmend werden. In dem Augen-
bliecek aber, in welchem die Holzmasse unter seinen FPüben
in Bewegung gerät, mub er auch wieder emporgezogen werden,
sonst ist er verloren. — So ist die Arbeit des Holzknechtes
reieh an Mühsal und Gefahr. Aber Mühsal und Gefahr prallen
ab an den stählernen Herzen dieser Menschen und an ihrer
eisernen Gesundheit.
Wenn sich jemand die Mühe nehmen wollte, die kleinen
Gedenktafeln zu zählen, die „Marterln“ zur Erinnerung an
Holzknechte, die bei ihrem Berufe verunglückten, er könnte
eine lange, lange Liste aufbringen. Und mancher arme Teufel
hat gar kein Marterl erhalten. Seine Kameraden gruben den
Zerschmetterten unter dem mörderischen Holzberg hervor oder
sie fischten ihn mit den Griesbeilen aus der tobenden Ache;
hernach begruben sie ihn schweigsam in dem kleinen Friedhof,
auf dessen Gräber die steinernen Gestalten der Berge herunter-
schauen. Und dann gehen sie wieder an ihre Arbeit, kühn und
50
151
unverdrossen wie zuvor. Nur das Jauchzen, mit welchem sie
hoceh droben im sonnigen Bergwalde sioh zurufen, das klingt
ein paar Tage lang nicht so hell und bergfrisoh wie sonst.
2. Der 9ager.
Wãhrend die Berufstätigkeit des Holzknechts gröbßten-
teils in kameradschaftlichem Verband ausgeübt wird, ist der
Jãger meist allein. Manchmal lebt er als wirklicher Einsiedler
in einer weitab mitten in tiefster Pelswildnis gelegenen Hütte.
Sein einziger Gesellschafter ist der treue Hund; ab und zu hält
er dann Einkehr in den nächsten Sennhütten, die aber auch
oft eine halbe Stunde Wegs entfernt sind. Dabei ist seine
Nahrung die denkbar einfachste bei schwerer und anstrengender
Tãtigkeit.
Im tiefen Winter, wenn im Bergwalde der Schnee oft
klafterhoch liegt und kaum die stärksten Hirsche mehr im-
stande sind, Stellen aufzusuchen, wo sie den Sehnee wegscharren
und Asung suchen können, ist es die Arbeit des Jagdgehilfen
auf den Futterplätzen nachzuschauen und dem hungernden
WVild frisches Heu vorzuwerfen. Selbst mit den Schneereifen
an den Füßen mub er oft unglaubliche Anstrengungen machen
um sich die Wege zu erkämpfen. Und weil das vor Hunger
und Frost ermattete Wild im härtesten Winter am leichtesten
eine Beute des Raubzeugs wird, mub er gerade in dieser Zeit
Fallen stellen und sie häufig untersuchen. Im Frühjahr treibt
ihn das „Verhören“ der Auerhähne und Spielhähne oft schon
um Mitternacht an hochgelegene Weidplätze hinauf; dann mubß
er wieder, um die ,Sulzen“ (Salzlecken) für das Hochwild
aufzufrischen, schwere Lasten Salz bergeinwärts tragen. Zur
Birschzeit mub er frühmorgens und am späten Abend im
WVald sein, mub während der Erntezeit an jenen Plätzen, wo
WVilldschaden zu befürohten ist, nächtlicherweile das Wild aus
den Feldern abtreiben, vährend ihm im Herbste die Hirsch-
und Gemsjagd wieder andere Anstrengungen verschafft. Dabei
darf er keineswegs schiebon, wo und was er will; in manchen
Revieren, wo die Jagdherren das Wild selbst erlegen wollen,
darf er nur als dessen Hüter und Beschützer auftreten. Und
1 t
zu allen Anstrengungen und Entbehrungen des Berufes kommen
noch dessen Gefahren. Die eine Art dieser Gefahren, jene,
welche die leblose Natur dem Bergjäger entgegenstellt, an sie
denkt er gar nicht mehr. Er klettert die unglaublichsten
Pfade mit einer Ruhe und Behendigkeit, als wären es teppich-
belegte Palasttreppen. Wo ein Nagel seines Bergschuhs, ein
Finger seiner Hand sich festhaken kann, da findet er seinen
Weg. Der führt ihn an mauerrecht abfallenden Felswänden
entlang und auf handbreiten Schuttbändern; im scheinbar un-
ersteiglichen Geschröff findet das wegkundige Auge Ritzen und
Kamine; das schwankende Geäst der Bergföhre wird zur Leiter-
sprosse für den wagenden Fub und über jäh abschiebende
Schneefelder, unter denen grausenhafte Abgründe gähnen,
schreitet er mit todverachtender Sicherheit. Den bergkundigen
Jãger kümmern weder die Steinschläge, die über ihm und um
ihn her gleich verderbenbringenden Geschossen von den Wänden
sausen und poltern, noch der Nebel, der ihn in ein dickes
Leichentuch einhüllt, dab er oft kaum klafterweit vor sich
sieht, auch nicht der rasende Schneesturm, der über den Grat
hinfegt und den verwegenen Wanderer in die Tiefe zu werfen
droht. Das alles sind ihm Dinge, die sich, je nach Ort und
Jahreszeit, eigentlich von selbst verstehen; sie stören ihn nicht
ärger, als den städtischen Arbeiter Zugluft und Hitze in seiner
Werkstatt stöõren dũürfen.
Seine schlimmste Gefahr droht ihm von Menschen. Die
Wilderer oder, wie sie in der Jãgersprache heihen, dié , Lumpen?““
sind's, mit denen er in beständigem Kampf lebt. Jeder Holz-
knecht und jeder Hirt kennt in unsern Bergen die Wechsel
und Fährten des Wildes. Ist er ein braver und gewissenhafter
Mensch, so unterläbt er zwar das Wildern; aber es juckt ihn
doch in den Fingern, als müsse er nach dem Drücker einer
Büchse fahren, sobald er das Geweih eines Edelhirsches oder
ein Rudel Gemsen sieht. Ist dagegen sein Gewissen nur ein
bißehen schwach bestellt und hat er ein halbwegs brauchbares
Gewehr in seiner Kammer, dann braucht's keiner starken Ver-
suchung um ihn wirklich zum Wilderer zu machen. Dabß das
Schieben fremden Wildes dureh das Gesetz verboten ist, weib
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5
er zwar; aber einem Kameraden fällt es nicht schwer ihm
einzureden, dab dieses Gesetz ein übles sei, gegen welches man
sich ohne Sünde und Schande auflehnen dürfe, wenn man sioh
nur nicht „derwischen“ lasse. Hat der Anfänger aber einmal
das Gewehr in den Wald getragen, dann steht er auch auf dem
Kriegsfuß mit dem Jäger. Und begegnet er ihm virklich
einmal, dann treibt ihn sein erstes verzeihlicheres Vergehen mit
unerbittlicher Notwendigkeit zur zweiten ungleich gröbern
Schuld. Denn dann heißt es: „'s Gewehr runter!“ — und
blitzschnell richten sich die unheimlichen Läufe gegeneinander.
Rasch wirft sich jeder der beiden Gegner hinter den nächsten
Fels oder Baumstamm. Manchmal aber kracht auch Schub
um Schub, ehe die Deckung gefunden ist, und das Ende ist
nur allzuoft, dab ein bleicher Toter mit durchschossener Brust
droben liegt in der Ode des Hochgebirgs.
3. Fĩscher auf dem Chiemsee.
Regungslos und spiegelblank unter glühender August-
sonne flimmert der See. Gewitterdunst hüllt die hochauf-
ragenden Bergriesen an seiner Südseite in tiefblaue Schleier;
schwül und brütend liegt der Wald hinter dem von weißem
Kies gesäumten Strande.
Ein Fahrzeug stöbht an diesen Strand. Es ist ein hoch-—
geschnã beltes, altes Eichengebäude, an seinen vom Wetter und
von den Jahren zerrissenen Wänden vielfach mit Eisenklammern
geflickt. Drei Männer sind in dem Schiff und ein Haufen
Tau- und Netzwerk. Nun wirft der eine dieser Männer ein
Tau mit einem daran befestigten Hole2stück ans Land; dann
stößt das Fahrzeug wieder vom Ufer ab, indem es das Tau,
an welchem eine Reihe von Holzpflöcken hängen, hinter sich
fallen läßt. Einer der drei Männer wirft das Tau aus; die
andern beiden rudern. Nachdem etwa zehn oder fünfzehn
Schiffslàngen Tau ausgeworfen sind, folgt das Netz, oben durceh
Hõölzer, dié auf dem Wasserspiegel schwimmen, festgehalten,
nach unten dureh Tongewichte beschwert. In grobem Bogen
wird es ausgeworfen, dann kehrt das Schiff wieder dem Lande
zu. Abermals folgt ein Stück Tau, das hinter dem Schiffe
154
ins Wasser sinkt; dann stöbt der Bug des Fahrzeugs wieder
knirschend auf den Kies. Die Männer legen ihre Ruder nieder;
zwei von ihnen schwingen sich über den Schiffsrand ins Wasser,
waten ans Ufer und fangen an die Taue mit gleichmäbigen
Griffen an sich zu ziehen. Es ist furchtbar schwere Arbeit;
man erkennt das Gewicht des Netzes daran, wie weit die
Männer sich nach rückwärts lehnen müssen, wie sie sich mit
ihren Holzschuhen in den schlammigen Kies einstemmen und
wie sich die Muskeln ihrer gebrãunten nackten Arme aufblähen.
Nach einer Viertelstunde etwa sind die Taue zu Ende und das
Netz erscheint. Sorg am wird es zusammengefaßt und an—
gezogen. Der dritte FPischer fährt mit dem Schiffe in den
Bogen des Netzes hinein und schlägt mit dem Ruder ins Wasser,
um die etwa zwischen den Netzwänden befindlichen Fische in
den hintersten, sackartigen Teil des Netzes, den, Bären“, zu
treiben. Rascher werden die Bewegungen der Männer, ihre
bisher gleichgültigen Gesichter beleben sich. Diesmal scheint
etwas im Netze zu sein. Das ist den Fischern aber auch wohl
zu gönnen; denn seit Tagesanbruch sind sie an der Arbeit und
haben noch kein Schüppchen gefangen. Und nun nähert sich
der „Bär“ dem Lande. Er ist zentnerschwer, silbern blitzt
und schimmert es darin, es schlägt und zappelt. Hart treten
die Fischer aneinander, bis sie endlich den Bären selbst fassen.
Ein Berg von Fischen liegt vor ihnen, eingeschlossen in den
Maschen des Netzes. Es sind , Brachsen“, keine sonderlich
wertvollen Fische, aber gut zum Räuchern und alle miteinander
wohl über hundert Pfund schwer. Nun werden sie rasch ins
Schiff geworfen, Netz und Taue hinterher. Die Fischer schwingen
sich wieder über den Bord und greifen zu den Rudern.
Die Sonne ist mittlerweile verscohwunden, eine dunkle
Gewitterwand deckt den halben Himmel, schwer und lichtlos
liegen die Berge, schwarzgrün der See. Eine schreckhaft aus-
sehende, rostfarbene Wolkenwalze schiebt sich unter der
schwarzen Gewitterwolke daher. Die Männer wissen, dab ein
schwerer Sturm kommt. Das Inseldorf von FPrauenchiemsee
aber, ihre Heimat, liegt noch in Meilenferne jenseit der dunkeln
Wasserfläche. Und nun fängt die Hläche zu zittern an, wenige
175
Minuten später kommt der heulende Sturm geflogen und bald
klatscht das Schiff dureh hochgehende, graue Wogen hin.
Stundenlang dauert der Kampf mit ihnen, wvährend Blitze
zucken und das Rollen des Donners mit dem Sausen des Sturms
und mit dem Rauschen der Schaumkronen siech mengt. Die
Männer in dem alten Eichenschiff kümmern siech wenig um
den Aufrubr der Elemente. Sie haben schon Sehlimmeres
mitgemacht und es ist ihnen ziemlieh gleichgültig, daß das
Schiff ab und zu wie ein bäumendes Pferd auf einen Wogen-
rũcken hinansteigt und daß ein andermal eine Sturzsee mãchtig
Kklatschend an die Sobiffswand schlägt und einige Liter kaltes
graues Wasser auf einmal in das Pahrzeug wirft. Nur wie
dem im Gransen rudernden Mann eine Spritzwelle plötz iceh bis
in die Pfeife springt und das darin glimmende Tabakhäufehen
zischend auslõscht, da kann er nicht umhin einen derben Hluch
zu murmeln. Dann rudert er lautlos weiter.
Nach einer Stunde schwerer Arbeit ist ein schützender
Landvorsprung erreicht; in ruhigerem Wasser gleitet das Pahr-
zeug rasch zur heimischen Lände. Zwe MWeiber und ein paar
weibhaarige Kinder warten dort am Ufergestein auf die Heim-
kehrenden. Nun werden die Bütten herbeigebracht, der FPang
wird verteilt und die Netze zum Trocknen auf ein Gerüst aus
grauen Stangen gehängt. Jetzt kann aueh die erloschene
Pfeife wieder angezündet werden und eine Stunde Rast auf
der Ofenbank ist den nassen, müden Männern wohl vergönnt,
ehe sie an den Rest der Tagesarbeit gehen, an das Plicken des
Netzes und das Zurichten der Fische zum Räuchern.
4 Die Sennerin.
Hett haben wir Glück. Stundenlang stiegen wir bergauf
im schattigen Hochwald, neben uns im tiefen Graben brauste
der Wildbach. Als wir aus dem Walde herauskamen auf
schattenlose Matten, da stand die Sonne schon weit im Westen;
kühl wehte der Wind über die Schneide her. Ein heiteres
Wandern war es zuletzt gewesen, an steilen Grashalden ent-
lang. Uber und unter dem schmalen Steig standen mächtige,
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156
alte Fichten vereinzelt umhber; einige davon waren zu grauen
Baumleichen verwittert, riesenhaft und knorrig. Um eine
scharfe Felsenecke ging's noch zuletzt, dann zwischen Krumm-
holz und Felstrümmern auf einer Art Treppe aus Wurzeln steil
empor — und nun stehen wir droben auf der Alm.
Es ist die richtige sonnige, bayerische Alm. Eine wunder-
bar hellgrüne, wellenförmige Matte, in einer flachen Mulde
gelegen. Einzelne hausgrobe Felstrümmer liegen auf der Matte
umher, zwischen ihnen ein paar Almhütten. Wir sind am
Rande des Waldwuchses, vereinzelte hohe Fichten stehen noch
auf der Matte. Da es an Holz hier nieht gefehlt hat, sind
auch die Hütten aus Holz erbaut. Meist sind diese hölzernen
Hũtten wohnlicher als die steinernen, obschon man aueh unter
den letztern recht hübsche finden kann. Die Dächer sind
überall flach, mit grohen Schindeln und Beschwersteinen belegt.
Die erste Hütte, die wir heut finden, ist eine der schönsten
zwischen Salzach und Lech. Wie wir päher treten, sehen wir,
daß die Holzbalken der Aubenwände, wo sie gegen Regen
geschũtæzt sind, eine feine, dunkelrote FParbe haben; der Innen-
raum aber sieht vollends aus wie poliertes Nahagoni. Es ist
altes Zirbenholz, das edelste, das in den Alpen wächst, in den
Voralpen findet man es kaum mehr. Wollte man die Hütte
heute noch aus diesem Holz bauen, so würde sie mehr kosten
als ein vierstöckiges Stadthaus. Vor der Hütte, die an der
Stirnseite auber der Tür zwei kleine Penster zeigt, finden wir
auf einer etwa fubhohen, gepflasterten Terrasse eine Holzbank
und an der andern Seite der Tür aufgeschichtetes Brennholz.
Auf diesem Holz stehen zum Trocknen aufgerichtet die tönernen
Weidlinge (Milehschũsseln), die aber bei manchen Almen noch
aus Holz sind.
In unsrer Hütte selber ist's recht behaglich. Die schönen,
dunkelroten Holzwände machen einen heimlichen Eindruck.
Der Herd in der einen Ecke ist über den Boden erhöht und
mit saubern Holzbalken eingefabt. Eine zweite Ecke des
Gelasses nimmt eine Bank mit einem Tischehen ein. Letzteres
jst schon ein ziemlicher Luxus in einer Sennhütte. Auberdem
finden wir noch drei Türen, die eine führt in den Milchkeller,
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die zweite in den Stall, die dritte in das winzige Scohlafgemach
der Sennerin. Ein solohes besitzt sio aber auch nur in den
vornehmsten Hütten; gewöhnlich steht ihr Bett in der einzigen
Stube, die zugleich als Küche dient. Immer aber steht es stark
erhöht, oft bis hart an das Schindeldach der Hütte ragend.
Unter ihm ist dann ein Raum, in welehem Melkkübel, Tränk-
schäffel und anderes untergebracht werden. Zu den wesent-
lichen Einrichtungsstücken gehört noch die RKesselreib'n“, ein
ũber dem Herde drehbares Gebälk, an welehem ein mãchtiger,
schwarzer Kessel hängt, ferner das Butterfab und ein Schüssel-
rahmen mit ein paar Tellern und Löffeln.
Und nun die Wirtschafterin selbst, die Sennerin! Eben
kommt sie langsam den steinigen Pfad herab, auf dem Kopf
ein Milehschaff, in der Hand ihr kleines, dreibeiniges Melk-
stühlehen tragend. Wie wird sie sein? Auch damit haben
wir heute Glück. Die Alplerin, auf deren Hausbank wir sitzen,
ist jung und sauber und — was vor allem anzuerkennen ist —
ihr sonnverbranntes Gesicht lacht uns freundlichen Willkomm
zu. Wir dachten an so etwas schon früher; denn schon vor
einer halben Stunde, als wir den steinigen Weg heraufklommen,
hat sie uns aus der Höhe einen bergfrischen Jauchzer herab—
gesandt. Man ist nicht allweg auf Almen gut aufgenommen,
obwohl jetzt alle Hütten, wo häufiger Bergwandrer einkehren,
schon halbe Wirtshäuser geworden sind. Die Verwaltung der
Kũhalmen dureh weibliche Kräfte hat den Vorzug gröberer
Reinlichkeit. Man mub gesehen haben, mit welcher Sorgfalt
die Sennerin, wenn sie auch auf ihre eigene Schönheit weniger
bedacht sein sollte, um die Reinhaltung ihrer Melkkübel und
Milehgefäbe sioch bemüht. Der Dienst ist nioht leicht, da
manche Sennerin zwanzig und mehr Kühe zu versorgen hat,
wobei ihr höchstens noch ein Hüterbube behilflieh ist. Die
einfachste almerische Arbeit ist das Austreiben und Heimholen
der Kühe. Auch das wird manchmal recht mühsam, wenn
sich die Weideplãtze etwas entfernt von der Hütte befinden
oder wenn ein Stück Vieh sioeh im Krummhbolz verstiegen hat.
Mitunter besorgt das ein Hüterbube, aber nicht jede Sennerin
hat solehen Knappen.
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Neben dem Uberwachen des weidenden Viehes sind andere
wichtige Arbeiten das Melken und Buttern, das Bereiten von
Käse dann die bestänctige Säuberung des Milchgeschirrs; ab
und zu mub aueh ein Trank für eine kranke Kuh gekocht
werden und nebenher läuft dann noch die Sorge für die eigne
Nahrung. Die schwerste Arbeit ist's aber, wenn die Sennerin
ihre Molkereiware hinuntertragen mub zu ihrem Bauern. An
der steilen Rõthenbachwand, die unter den Teufelshörnern auf
den geisterhaften Spiegel des Obersees hinabschaut, traf ich
einst eine wackere Dirne mit einer ,Kraxen“ auf dem Rücken,
die mit sechzig Pfund Butter und Käse beladen war. Und
da Konnte das brave Mädel noch jauchzen, als es mit seiner
Last hinter den Felsen des steinigen Weges verschwand. Wenn
sie hernach wieder „gen Alm“ steigen wird, trägt sie Mehl und
Brot für sich und Salz für ihre Kühe mit hinauf. Das wiegt
zwar nicht so schwer, aber dafür hat sie es weit, weit hinauf-
zutragen. Wohlhabenden Bauerntöchtern, die etwa auf der
Alm wirtschaften, wirdd wohl manches erleichtert, indem ihnen
der Bauer einen Knecht oder Träger schickt.
Die ganze Sorgfalt der Sennerin richtet sich auf ihre
Kuühe. Diese ibhre Kleinode aber behandelt sie in ganz mütter-
licher Weise. die gibt ihnen die zärtlichsten Namen, ruft sie
„Glũckei,“ „Sengei,“ „Wachtei,“ „Braunelei“ und redet mit
ihnen, wie man mit einem vernunftbegabten Wesen spricht.
Zur Melkzeit kommen in der Regel die Kühe zur Hütte. Den
schweren Simmentaler Tieren aber mub die Sennerin mit dem
Melkkübel bis zu ihrem Weideplatz nachgehen; denn diese
würdigen Hornträgerinnen mögen sich in dem Geschäft er-
giebigster Milehbereitung nicht dureh unnötiges Umherklettern
stöõren lassen. Die angesehenste Kuh der Herde ist die Kranzel-
oder Roblerkub, die eine mächtige kupferne Glocke am Halse
trãgt. Manchmal haben auch mehrere Kühe die Ehre Glocken
tragen zu dürfen; immer aber ist die Roblerkuh das Leittier;
sie geht voran, venn im Sommer auf die Alm und wenn im
Herbste wieder zu Tal gezogen wird.
Max Haushofer.
66. Das Münchener Oktoberfest.
Am 12. Oktober 1810 war es, als König Ludwig JI. von
Bayern, damals noch Kronprinz, die schöne Prinzessin Therese
von Sachsen-Hildburghausen in die Residenz seiner Väter heim-
führte. Die Stadt München wollte es sich nicht nehmen lassen
an diesem FPreudentage mit den höfischen Pestlichkeiten zu
wetteifern und lud ganz Bayern zu einem groben Volksfest ein.
Diese Aufforderung war von vollstem Erfolg begleitet; denn
nicht nur die Bevölkerung Münchens und seiner Umgebung
fand sich ein, sondern auch zahlreiche Teilnebmer weit ent-
legner Städte und Landstriche und München sah an diesem
Tag ein Volksfest, wie es in seinen Mauern noch nie gefeiert
worden war. Besonders das Pferderennen erfreute sich des
allgemeinen Beifalls, so dah man beschlob, es jährlich um
diese Zeit zu wiederholen. Das hauptsächlich von Landleuten
besuchte Fest war auch der Anstob zur Gründung eines land-
wirtschaftlichen Vereins, der schnell in ganz Bayern NMitglieder
fand, und so fügte es sich leioht dessen Stiftungsfest in den
spätern Jahren mit dem Wettrennen zu verbinden. Das
Bauernvolk strõmte von Jahr zu Jahr in seinen Pestkleidern
in immer gröbhern Scharen herbei und so bildete sich dieses in
seiner Art einzige Pest heraus.
Eigentlich dauert es nur acht Tage, vom ersten Sonntag
im Oktober bis zum nächstfolgenden. Aber lange vor dem
eigentlichen Beginn baut sich schon die Stadt der Schaubuden,
Würstelverkãufer und Bierschenken auf und findet ebenso
Zuspruch wie lange nach dem Pestschluß; der Münchner leistet
eben auch im Ertragen von Vergnügungen geradezu Erstaunens-
wertes. Am Sonnabend vor dem eigentlichen Beginn trifft,
wenn das Wetter nur einigermaben günstig ist, der Haupt-
strom der auswärtigen Besucher mit Sonderzügen von allen
Seiten ein, meist 40 bis 50 000 Mann. Der Sonntag bringt
dann noch eine zweite Menschenwelle, welche zwar die vom
Tag vorher nicht erreicht, aber doch wieder an 30 000 Menschen
in die Halbmillionen-Stadt wirft.
Am Sonnabend findet in der königlichen Reitschule die
Besichtigung und Musterung der zur Tierschau gestellten Vieh-
159
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arten statt. Bei den ungeheuren Mengen, die da aufgetrieben
werden, haben die Sachverständigen alle Hände voll zu tun
und so vergeht der Tag, bis die Auslese beendet ist.
Gegen zwei Uhr nachmittags bemächtigt sich der Massen,
die auf dem flachen Peld der Theresienwiese hin und her fluten
oder auf dem steilen Rande links und rechts von der Bavaria
Platz genommen haben, eine sichtbare Aufregung. Sie harren
auf die Ankunft des Prinzregenten und des Königlichen Hofes,
für deren Empfang ein Prunkzelt errichtet ist, vor dem Bürger-
meister, Magistrat und Festordner die Ehrengäste erwarten.
Pũnktlich um zwei Uhr verkündet Kanonendonner die Ankunft
des Regenten. Nun beginnen die landwirtschaftlichen und die
Schũtzen-Vereine mit ihren Fahnen und Wagen den Vorbei-
marsch, der im Laufe der Jahre mehr und mehr zu einem
prachtvollen Volkstrachtenzug geworden ist. Dann folgen die
preisgekrõnten Tiere mit ihren buntgeschmücekten Führern und
drallen Führerinnen, die mit sichtlichem Stolz an dem all-
geliebten Regenten vorbeimarschieren. Wenn der Zug vorbei
ist, begibt sich der Prinzregent unter die Volksmenge, besichtigt
noch einzelne der ausgestellten Tiere und Geräte und kehrt
dann zu dem Pestzelt zurück. Dort verteilt er eigenhändig
die Medaillen, Preisfannen und Diplome, welche vorher von
Knaben in altdeutscher Pagentracht in feierlichem Aufzug unter
Trompetenfanfaren zum Königszelt gebracht worden sind.
An die Preisverteilung sohliebt sien unmittelbar das
Wettrennen an. Es ordnet sich ein Zug, der von berittenen
Trompetern erõffnet wird. Dann folgen in knapper spanischer
Tracht die Trãger der Rennpreise mit gold- und silberflitternden
Fahnen und Fähnlein, dann die lustige Schar der Rennbuben,
Jockeys und Stallmeister in buntester Gewandung und endlich
die von ihren Besitzern geführten Rennpferde. So durch-
schreitet der Zug einmal die eine Viertelmeile im Umfang
messende Bahn; dann geht es zum Start. Das Rennen selbst
ist nun weniger zur Förderung des Rennsports da als vielmehr
hauptsächlich zur Belustigung der weit über 100 000 Kõpfe
zauhlenden Volksmenge. Guter Wille zur Begeisterung ist allent-
halben vorhanden. Dreimal muß das Peld umritten werden
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und überall, wo die Reiter vorüberkommen, begrüßt jubelnder
Zuruf den Schnellen und höhnische Spottreden und alle Laute
einer richtigen Katzenmusik den Nachzügler. Zwar bekommen
die meisten Leute nichts andres zu sehen als ein paar bunte
Jockeymũtzen und allenfalls einen Pferdekopf; aber geschrien
mub werden, sonst gäb's „ka Hetz“ und so steigert sioh der
unbeschreibliche Lärm von Runde zu Runde, bis endlich der
Sieger durehs Ziel geht.
Nun mub die Menge noch warten, bis die Rennpreise
verteilt sind; dann aber ergiebt sioh die unwiderstehliche Sturm-
flut über den Festplatz, von dem sich bald ein nicht zu be—
gchreibender Geruch von gebratnen Fischen, Käse, Weißwürsten
und Bier als Speis- und Trankopfer zum Himmoel erhebt. Wie
berall bei solehen Festen spielen auch hier die Schaubuden
eine grobe Rolle: Menagerien, Akrobaten, Riesendamen, Feuer-
fresser, Momentphotographen, Schiebbuden und was es sonst
an Volksbelustigungen gibt. Dazwischen fehlen natürlich aueh
nicht die Glückshäfen, zu denen ein fescher Bursch nach dem
andern mit seinem Dirndl herantritt, um einen blanken „Zwei-
märker“ in Losen anzulegen, die selbstverständlich zumeist
Hanswursteln‘ (Nieten) sind.
Natürlich ist die erste Voraussetzung eines fröhlichen
Oktoberfestes, dab der Himmel den Münchnern gnädig ist.
WVenn wirklich warmer Herbstsonnenschein den weiten Raum
von den altehrwürdigen Frauentürmen bis zum fernen Alpen-
wall füllt, dann entwickelt sich hier ein lebenvolles Bild, das
in Europa seinesgleichen sucht.
Am darauffolgenden Montag beginnt das PFestschieben
nach der Scheibe und beweglichen Zielen, einem springenden
Hirsch oder fliegenden Vogel. Die im Rathaus aufgestellten
Preise werden in feierlichem Zug zum PFestplatz gebracht und bald
nallt es an allen Ecken und Enden von früh bis abend, während
in den Trinkbuden die durstigen Kehlen nioht alle werden.
Endlich am nächsten Sonntag kommt mit der Verteilung
der Preise und einem Nachrennen der behördliche Schluß des
Festes, an dessen letztem Abend ein prachtvolles Feuerwerk
Lesebuch für Höhere Mädchenschulen. 1.
11
162
abgebrannt wird. Aber noch viele Tage dauert es dann, bis
der letzte Tempel des Gambrinus von der Wiese verschwindet
and der letzte Trinker heimwärts wandelt mit dem betrübenden
Bewubtsein, daß jetzt 1116 Monat ins Land gehen mũssen, bis
der Kalender wieder den Beginn des fröhlichen Festes anzeigt.
R. Schaarwãchter.
67. Lindau.
Hinter dem stolzen Boot, das uns von Bregenz oder von
der Schweiz nach Lindau trägt, zieht ein wogender Wellen-
schweif die Spur seiner Fahrt. Heller und heller glänzt vor
uns die Stadt: im Vordergrund lichtgrüne Wasser, alte Giebel
und Türme im NMittelgrund und im Hintergrund Rebengelände
und waldige Höõhen und der Blick auf den Säntis, der wie ein
Praum der Luft jenseit der breiten Wasser steht.
Links am Hafeneingang erhebt sich der schlanke, 33 Meter
hohe Leuchtturm, von einem hübschen Zinnenkranz und einem
Pavillon gekrönt; in der Nacht sendet er ein Strahlenspiel von
Lichtern aus, das bis an die schweizerischen Häfen von Rorschach
und Romanshorn hinüberleuchtet und den Schiffen den Weg
weist. Dem Leuchtturm gegenüber erhebt siech der bayrische
Lõwe, ein mächtiges Sinnbild der Landeshoheit, und im Hinter-
grund des Hafens, der ein weites, prächtiges, sandsteinernes
Becken bildet, das hohe eherne Denkmal des Königs Maxi-
milian II., der in wirklich königlicher Haltung auf den See schaut.
Lindau ist eine der Städte des Bodensees, die ihr altes
Aussehen am treusten bewahrt haben. Zierender Schmuck,
Tũren mit Schnitzereien oder Werken der Schmiedekunst, be⸗
malte Fassaden und reizende Erker, alte Giebel und Türme
verleihen ibhr das Gepräge einer echt altdeutschen Stadt. Die
Hauser führen besondre, oft recht seltsame Namen und die
mãcehtig gewõlbten, ssteinernen Lauben“ und die „Beischläge“,
weit in die Strabe vorspringende Kellerhälse mit Sitæplätzen kür
die nachbarliche Unterhaltung, geben ihnen die örtliche Eigenart.
163
An der Maximilian-Strabe, am Markt, steht das schöne,
alte Rathaus mit offner Treppe und bedeckter Altane, von der
herab zur reichsstädtischen Zeit die Beschlüsse des Rats ver-
kündet wurden. Es wurde in der ersten Hälfte des 15. Jahr-
hunderts erbaut, in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
erneuert und in den letzten Achtzigerjahren mit prächtigen
Fassadengemãlden geschmückt. Neben der prächtigen Frei-
treppe und der in bunten Ziegeln schimmernden Vorhalle fesseln
besonders die alte Prachtuhr, die schönen, alten Säle und im
Obergeschob der vielversprechende Anfang eines städtischen
Museums. Die Stadt besitzt noch allerlei Erinnerungszeichen
alten Schutzes und alter Wehr, neben Schanzen und Bastionen
zwei Stadttũürme, darunter den Diebsturm mit zierlichen Seiten-
türmchen an der Spitze. Lindau war aueh eine mächtige
Handelsstadt. Gegen dreibig Städte und Städtehen sandten
ihre Fuhren zu den Samstag-Getreidemärkten, oft an andert-
halbtausend Karren und Wagen.
Der schmale Streifen See, der das Eiland von der festen
Erde Deutschlands trennt, ist so seicht, dab er fast jeden
Winter überfriert und ein spiegelglattes Eisfeld bildet, auf dem
sich die Jugend und Gäste von nah und fern lustvoll tummeln.
Zu der Brücke, die von uralters her Lindau mit dem Pestland
verbindet, hat sich ein aus mächtigen Granitblöcken auf-
gebauter, über einen halben Kilometer langer Eisenbahndamm
gesellt. Von München, von Ulm und Stuttgart und vom
Arlberg laufen über den Damm Züge in Lindau ein. Im Sommer
jst die Stadt Durchgangsort für viele Tausende ferienfroher
Menschen, die aus Deutschland nach den Bergen ziehen, auch
der vielen Schweizer, welche die Kunststadt München besuchen.
Welche Pracht, wenn sich die Stadt im Dämmerabend und im
Schein ihrer Lichter in den Fluten spiegelt, venn noch ein
Dampfboot hellerleuchtet in den Hafen fährt und fern am
Schweizerstrand unzählige Lichtpunkte funkeln! Oder der
Morgen, wenn tief im Hintergrund des Rheintals die Pelsen-
gipfel der Drei Schwestern sonnerleuchtet glänzen und der von
Stunde zu Stunde Stimmung und Farbe wechselnde See träumt
im Lichtzauber der Alpenwelt. . eer.
68. Im Urwald.
Wir steigen durch Wiese und Feld einen Abhang hinan.
Steine und Felsstücke sind aus beiden zu groben Haufen zu-
sammengelesen oder zu Mauern am Weg hin übereinander ge—
schichtet. Zur Linken am Saum des Waldes noch ein mit
verkohlten, zerstreuten Wurzelstöcken bestandnes Ackerland,
zur Rechten ein frischer Holzschlag, das Holz aufgeklaftert,
nur einzelne Stämme ragen noch hoch in die Luft; AIste und
Zweige haben die Holzhauer zu groben Haufen zusammen-
geworfen, aus denen dicker Rauch aufwirbelt.
Ein wenig betretener , Paschersteig führt in den Wald.
Man mub vorsichtig schreiten, will man nicht über die durch
die Feuchtigkeit geglätteten Wurzeln abglitschen oder tief ein-
sinken im moorigschwammigen Boden. Endlich ist man ein-
getreten in den Wald und schöpft tief Atem in der erquickend
kühblen Luft, wenn drauben die Sonne brannte. Wie man aus
dem bunten Treiben in Stadt und Land eintritt in die stillen,
ernsten Hallen eines Doms, — nicht anders ist der Eindruck.
Da strebt alles ernst und majestätisoh in die Höhe; wie die
gaulen des Doms stehen die Säulen des Waldes da, schlank,
riesengrob, sohweigend. Das Auge folgt dem mächtigen Stamm
von unten bis oben; die gewaltigen Aste verschlingen sich zu
einem dichten, dunkelgrünen Gewölbe, dureh das das Licht des
Himmels in das Halbdunkel hereinstrahlt.
Oft aber ist der Eindruck ganz anders. Sturm, Wetter
und die Jahrhunderte haben nur Bilder der Zerstörung und
Verwirrung übrig gelassen. Die Stämme stehen „schütter“,
einzeln und einzeln, dazwischen dichtes Gestrübp von Him-
beeren, Brombeeren, Heidelbeeren, Weidenröschen, ein Gewirr
von PFelsblõoken, modernden Zweigen, Asten, Stämmen und
Stöcken. Hier steht ein Riesenstamm noch grün; aber der
Sturmwind hat ihm die Krone abgerisson und von den Asten
hängt wie greises Haar das Bartmoos in klafterlangen Fäden,
die der Wind hin und her wiegt. Dort steht ein Stamm längst
abgestorben, morseh und faul, ausgedörrt, dab er angezündet
wie glühender Zunder fortglimmt, eine graue, gespenstige Ge-—
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165
stalt, die ihre nackten Knochenarme in die Luft reckt. Hier
wieder liegt eine Fichte mit der Wurzel ausgerissen, in deren
Netzwerk Erdklumpen und PFelsstücke hängen, der mächtige
WVurzelstock wie eine Mauerruine, und daneben eine breite
Grube. Dort liegt eine Tanne, am Stamm abgerissen; sie ver-
modert und verfault und auf dem Leichnam keimt üppig junges
Leben, eine neue Tannen- und Fichtensaat. Und zwischen
all dem Gewirr rundliche Granitblõcke wie gebleichte Riesen-
schädel, von weiben Flechten überzogen; üppiges Strauchwerk,
Farnkraut und Moos, Stamm und Stein mit frischem Grün,
saftigem Leben überwuchernd. Ist man in solchen Wirrwarr
einmal hineingeraten, so hat man Mühe und Not wieder heraus-
zukommen. Die morschen Stämme fallen dumpf krachend unter
dem Tritt zusammen, weiche Mooshügel überdecken trügerisch
lockeres Haufwerk und Pelsklüfte, in die man durchbricht.
Aber gewib wird sich jeder gern die groben Eindrücke
zurückrufen, die er empfand, als er, in soloher VWildnis mühsam
emporkletternd über Felstrümmer und Baumleichen, endlieh
hervortrat auf die letzte hohe Felsplatte und nun von der
Kuppe aus hinwegsah über die ungeheuern, dũüstern Valdmassen,
aus denen nur da und dort ein blauer Rauch aufstieg, das
Zeichen des Holzhauers. der sich mit Feuer und Eisen Bahn
bricht in die uralten Wälder.
Ferdinand von Hochstetter.
69. Wie die Bing-Höhle in der Fränkischen Sehweiz entdeckt
wurde.
Wer von Ebermannstadt im Wiesent-Tal aus flub-
aufwärts wandert, sieht häufig in den hohen, steilen Felsen
an beiden Ufern runde Löcher, so groß, dab man bequem
hineinkriechen könnte. Oft springt ein Felsdach darüber vor
wie ein schützender Mützenschirm und der Wandrer könnte
darunter, etwas zusammengekauert zwar, einen Regenschauer
wohl vorüberziehen lassen. Selten gehen diese Löcher tief in
den Berg hinein; häufig sind auch ihre Eingänge dureh ab-
gerutschte oder hergeschwemmte Erdmassen so eng geworden,
166
dab nur Füchse, Dachse und andres Raubzeug durchschlüpfen
können. Vor Jahrtausenden aber, als noch der fürchterliche
Hõhlenbär in den Jurabergen hauste, als noch Herden von
langhornigen Aueroehsen die Wälder bevölkerten und Riesen-
hirsche mit gewaltigem Schaufelgeweih im Talgrund ästen: da
waren diese Höhlen willkommene Wohnstätten der Menschen;
denn andre dauerhafte und schützende Wohnungen konnten sie
sich mit ihren Steinwerkzeugen nicht bauen.
Eine solohe Felsenspalte, einen Schlupfwinkel für allerlei
lichtscheues Getier, kannten seit Jahren die Jäger in den
Bergwãnden nördlich von dem lieblichen Wiesentorte Streit-
berg. Herr Geheimer Kommerzienrat Igna? Bing aus
Nũürnberg erwarb im Jahre 1905 das Recht den Höhleneingang
aufgraben zu lassen. Er hoffte, dabei allerlei Uberreste aus
der Zeit der Höhlenmenschen zu finden und damit seine groben
Sammlungen zu vermehren. Diese Hoffnung wurde auch er-
küllt. Beim Herausschaffen der lehmigen Erdmassen fanden
sich fast in jeder Schaufelvoll Erde Tierknochen, oft ganze
Kiefer, nooh vollständig mit Zähnen besetzt. Später stieb
man aueh auf fünf Feuerstellen mit Uberresten von verkohltem
Holze. Noch wertvoller waren aber die Scherben uralter Gefäbe
mit unbeholfnen Verzierungen und einzelne Tierknochen, die
auf einem Steine spitzig geschliffen worden waren. Am größten
war die Freude, als man unter den Knochen kleine Teile von
menschlichen Gerippen entdeckte. So waren die Arbeiter,
immer sorgfältig grabend und suchend, etwa 30 Meter im
Innern des Pelsens vorwärts gekommen; da sperrten feste
Steinmassen den Weg. Wären nun in dem herausgeschafften
Schutt nicht vielfach auch Tropfsteine eingebettet gewesen, so
hätte man die Arbeit vielleioht aufgegeben. So aber durfte
man vermuten im Vorraum einer Tropfstein—
höhle zu stehen.
Nachdem die Steinwand dureh Sprengungen zerrissen
worden war, zeigte sioh den Arbeitern ein schmaler, niedriger
Gang mit wundervollen Tropfsteinbildungen an der Decke und
am Boden. In unvordenklichen Zeiten mub ein reihender Bach
diese Höhle durehströmt haben und am jetzigen Eingang als
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mãchtige Quelle hervorgeschossen sein. Er ist verschwunden;
niemand kann sagen wann und wodurch. Menschen siedelten
gich im vordern Teile der nun trocknen Höhle an und räumten
den eingeschwemmten Lehm, wie ihn herabrauschende Regen-
güsse mitbrachten, immer sorgfältig wieder weg. Aueh clie
Uenschen verschwanden und tiefer und tiefer drang die Lehm-
gchicht ins Innre der Höhle vor, bis endlich der Eingang kast
völlig vesrschlossen war.
Da begann im Innern des Berges eine geheimnisvolle, un-
ablässige Arbeit. Aus zahllosen Spalten und Rissen der Kalk-
decke drangen unaufhörlich Millionen von groben Wasser-
tropfen und fielen klatschend auf den Boden. Jeder führte
ein winziges bibehen aufgelösten Kalks in sich; das Wasser lief
ab, versickerte in Bodenritzen und verdunstete zum Leil, nur
das bihehen Kalkerde blieb liegen und wurde fest. Im Laufe
von Jahrhunderten entstand am Boden eine kleine Erhebung;
die wuehs duroh die unausgesetzte Arbeit der Wassertropfen in
die Breite und in die Hõhe und so entstanden die seltsamen
Gebilde, die wie emporgestreckte Arme vom Boden der Höhle
aufragen oder gleich Eiszapfen von der Decke herabhängen.
Aber die vielen Wassertropfen sammelten sioh am Boden, auf-
gehalten dureh den eingeschwemmten Lehm, zu einem zwar
gehr seichten, aber langen unterirdischen See an. Auf seinem
Grunde setzte sich allmählich eine dünne Schicht aus winzigen
Kalkkristallen ab; die wuchs und wuehs und wurde im Laufe
von Jahrtausenden meterdick. Dadurch wurde die Höhle
immer niedriger, bis endlich nur eine enge Röhre übrig blieb.
Alein die unendlieh kleinen Kalkkristalle setzten sioh auch da
an, wo die Wasseroberfläche die Wände der Hõhle und die
aufragenden Tropfsteine bespülte. So bildete sioh längs der
geitenwände und rund um die Tropfsteine ein schmaler Rand
wie ein zierliches Gesims. Das unterirdische Gewãsser muß
plõtzlich verschwunden sein; aber seine Bildungen, die dicko
Kalkdecke am Boden und die Wandborte, geben nooh heute
Zeugnis von dem einstigen Hõhblensee.
Um nun die entdeckte Tropfsteinhöõhle gangbar zu machen,
mubte die dicke Kalkdecke weggeschafft werden. Sprengen
15
durfte man den Kalkstein nicht um die wunderschönen Tropf-
steine nicht zu beschädigen; so mubte er mit Meibel und Hammer
sorgfältig herausgehauen werden. 90 Arbeitstage waren nötig
um so etwa 50 Meter vorwärts zu kommen. Dann aber war
der Gang so weit vertieft, dab ein Erwachsner bis zur Brust
darinstand, und nun konnte man dureh die reiche Sammlung
von Tropfsteinen hindurchgehen wie etwa dureh eine Aus-
stellung, wo rechts und links von einem schmalen Gang auf
hohen Tischen seltsame und kostbare Sachen stehen. Eine
nischenartige Vertiefung sah aus, als ob sie durch einen mäch-—
tigen, faltenreichen Vorhang aus schwerer, gelbgrauer deide
verkleidet sei. Und überall an der Decke, wo eine schmale
Spalte das Wasser durehgelassen hatte, hingen Tropfsteingebilde
wie schmale, gewebte Borten mit kurzen, scharfen Spitzen.
So waren die Arbeiter etwa 90 Meter ins Erdinnre fast
ganz eben vorgedrungen, als wieder eine Stainmauer Halt gebot.
Nur dureh eine kleine, enge Offnung im Felsen konnte man den
Raum hlinter der Mauer etwas ableuchten; aber ihn zu betreten
war unmöglich, denn durch die Spalte konnte kein Erwachsner
schlüpfen. Da erklärte ein dreizehnjähriger Knabe, der einen
groben Teil seiner Zeit bei den Arbeitern zubrachte, er wolle
hindurehkriechen. Schon nach kurzer Zeit kam er zurück mit
der frohen Nachricht, daß sich die Hõhle noch weit ins Innre des
Berges hineinziehe und an einzelnen Stellen weit und hoch
werde. Man bat ihn, sich ein zweites Mal durebzuzwängen und
so weit zu gehen als dies möglich sei. Der mutige Knabe tat's
ohne Zögern. Diesmal blieb er fast Dreiviertelstunden aus
und die Zurückgebliebenen wollten schon ängstlich werden;
da sahen sie den Schein seiner Laterne wieder duroh das Loch
fallen. Fast bis ans Ende der Höhle war er gegangen und was
er erzählte, war so wunderbar, dab die Durchbruchsarbeit
sofort begonnen wurde. Nach kurzer Zeit war ein Tor fertig,
das ein Mann aufrecht durehsohreiten kKonnte. Zunächst zeigten
sich den erstaunten Blicken gewaltige Mauern, aus regelmäbigen
Blõcken aufgeschichtet. als hätten hier Riesen kunstgerecht
mit Lot und Richtscheit gebaut. Nirgends am Boden ein
Tropfstein, nur die kleinen Eiszapfen an der Decke. Da ent-—
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169
fährt dem Vordersten ein lautes, Ah!“ und als die andern
nachdrängen, sehen sie, mitten im Weg aufragend, einen riesigen
Tropfstein-Einsiedler, mehr als zwei Meter hoch und an seinem
Fube so dick, dabß er rechts und links die Wand berührt. Und
seltsam! Seine Oberfläche ist nicht glatt wie bei seinen Kame-
raden; sie hat Absatze, als ob er aus lauter einzelnen, immer
dünnern Stücken zusammengesetzt sei. Dazu verbindet ihn
ein ganz dünner Kalkfaden mit der Decke des Gewõlbes. Sorg-
faltig drücken sioh alle an der Wand vorbei, den wunderbaren
Riesen nicht zu verletzen.
Weiter geht der schmale Weg zwischen den glatten
Mauern. NMit einem Male weiten sieh die VWände, ein kapellen-
ahnliches Gewölbe spannt sich über den Häuptern aus und
am Boden stehen rechts und links riesige Kerzen aus sohnee-
weibem Kalkstein, manche höher wie Männer, aber keine dicker
als ein Arm. Zufällig stellt ein Arbeiter seine Lampe hinter
eine dieser schlanken Säulen; da glüht sie dureh und durch
in den zartesten Farben des Abendrots. Und da, sieh! Da
sitzen zwei sonderbare einträchtig beisammen: ein kurzer,
stãmmiger Bursche neigt sich herab, einem kleinern, zartern zu
wie Brüderchen und Schwesterchen und wenn die Lampe
dahintersteht, glühen beide, als ständen sie im NPeuer.
Dann ein neues Wunder! Ein nicht hoher Gang, die
Decke verkleidet mit zierlichen Tropfsteinborten. Da stehen
zarte, blendendweibe Säulchen nebeneinander auf der dünnen
Kalkdecke wie Lichter auf einem groben Tische, und aus den
Wanden ragen schief zahlreiche kurze Zapfen gleich hinein-
gesteckten und vergessenen Lichtern. Dort wieder lehnen ein
paar Steinriesen schief an der Wand. Deutlich zu erkennen
jst der kurze Stumpf, worauf sie sahen, bevor sie vor Jahr-
tausenden durceh eine gewaltige Erschütterung im Berge los-
gebrochen wurden. Längst aber sind sie dureh die Tätigkeit
der Wassertropfen wieder so festgewachsen, dat sie Menschen-
kraft nicht losreiben könnte. Eine grobe däule reicht vom
Boden bis zur Decke wie ein gewaltiger Stützbalken. Aber sio
ist mitten durehgebrochen und das obere Stück paßt nicht
mehr auf das untere, sondern ist nach der Seite verschoben.
— —
7
Und wieder ein enger Gang, die Wände aus groben Kalk-
blöcken, aber überall in dem feuchten Gestein schwärzliche
Flecken. Die Arbeiter halten ihre Lampen dicht an die Wände.
Was sehen sie? Viele Tausende von kleinen, zierlich gefältelten
Muschelschalen, die hier in den Kalkstein eingebettet liegen.
Vor undenkbar langer Zeit lebten zwischen diesen Schalen die-
selben schleimigen, schlüpfrigen Muscheltiere wie noch heute
zwischen den Schalen unsrer gewöhnlichen Teichmuschel.
Freilich, damals flutete da, wo sich heute der Jura erhebt, ein
Meer und die Kalkberge waren noch Schlamm auf dem Grunde
dieses Meeres. Die Muscheln sanken hinunter auf den Meeres-
grund, wenn ihre Tiere gestorben waren, und immer neue
Schlammschichten deckten sie zu. Das Meer verschwand; der
Kalkschlamm wurde zum harten Stein und mit ihm die leeren
Muschelschalen. Ein grober PFelsenkirchhof ist es also, den
die Arbeiter vor sich sehen.
Weiter geht der Weg fast ohne Beschwer durch herrliche
Tropfsteingrotten mit kleinen Wasserbecken, bis wieder ein
mãcehtiger, faltiger Vorhang von der Wand herabwallt. Einer
der Arbeiter hält seine Lampe dahinter und wirklich, er sieht
aus wie das zarteste Gewebe, sogar von bräunlichen Bändern
wie von einem Muster durchzogen. Und als ein andrer scheu
die dünne Decke mit dem Finger berührt, hebt ein wunder-
volles, langtönendes Klingen an, wie wenn ein kunstfertiger
Musiker seine Harfe anschlägt.
Aber der kleine Zug mub weiter. Wie tief die Höhle in
den Berg reicht, müssen sie heute noch erfahren. Da stehen
sie ganz unvermutet schon am Ende. Ein gefrorner Wasser-
sturz liegt vor ihnen; aber die Schollen sind zerbrochen und
dureh das treibende Wasser übereinander geschoben worden.
Doch nicht Eis ist es, sondern eine feine, feuchte Kalkdecke.
Einst mag hier das Gewölbe niedergebrochen sein; das kalk-
haltige Wasser ergob sieh in Tausenden von Tropfen unauf⸗
hörlich über die Trümmer und so entstand in langen langen
Zeitrãumen die gelbe, glänzende Schieht über dem Gestein.
Wer weib, welehe Wunder dieser Felssturz abgesperrt hat!
*⁊
Wollte man das herrliche Eismeer zerstören und weiter mit
Meißel und Schlägel arbeiten, sicher würdlee man eine Fort-
setzung der Höhle mit immer neuen Schõnheiten finden. Aber
wer möchte dieses Gotteswunder verniohten!
Langsam und da und dort von neuem stehen bleibend,
wandern die Höhlenforscher wieder dem Eingange zu. Eine
große Freude lebt in ihnen: J ahrtausendelang hatten die
Unterirdischen Geheimnisse im Zauberschlaf gelegen wie Dorn-
röschen — und sie waren die erston Menschen, die diesen
WVunderbau der Natur betreten und bestaunen und zum Leben
erwecken durften.
Emil Grimm,
70. Frankenwald-FlöBer.
Wenn im Januar oder Februar die Erde noch schwer in
den Banden des Winters liegt, die Eisdecke Flüsse und Teiche
überspannt und jedermann froh ist, in der warmen Stube
sitzen zu können: dann gleichen die Ufer der Frankenwald-
flüsse bei jedem größern Ort einem Zimmerplatz. Hunderte
von schlanken, weiben Baumstämmen, die von den Höhen
heruntergeschleift und am Ufer aufgeschichtet worden sind,
werden von Zimmerleuten an den Enden viereckig zugehauen
und dann mit zähen hölzernen Seilen aus Baumwurzeln oder
dünnen Stämmchen, den sogenannten „Wieden“, oben und
unten an einen Querbalken befestigt. So entsteht ein Flob
oder, wie es in der Sprache der Flöber heibt, ein „Boden“.
In fleibigem Zugreifen Tag für Tag sind die Stämme bald auf-
gearbeitet und am Ufer liegen aufgestapelt die Böden über-
cinander, jeder Stamm mit dem besonderen Flobzeichen des
Holæherrn versehen, ein paar senkrechten, wagrechten und
schiefen Kerbschnitten.
Mitte März etwa ist auch in den Frankenwaldtälern
die Macht des Winters gebrochen, der Schnee sohmilzt und
die Bche gehen hoch mit Trümmereis. Wenn sich die reihenden
Wasser wieder in ihr Bett zurückgezogen haben, dann kann
172
man es erleben, dab eines Morgens auf dem Floßplatz ein
Geschrei anhebt, als ob ein Haufe Männer in eine wilde Schlãgerei
verwickelt sei. Tritt man hinzu, so blickt man wohl in erhitzte,
schweibtriefende Gesichter und hört abgerissene Worte wie
Schreie hin und wider fahren, besonders deutlich das beliebte
„Feuerdunnerkeil‘ und „Du Kreistenkähl“; aber man sieht
aueh, dab die Männer unter dem Druck einer harten. Arbeit
stehen und ihr Schreien eine ganz ungefährliche Kraftent-
ladur ist. Die derben, englischledernen Hosen sind bis weit
hinaut mit sehmutzigem Schneewasser bespritat und zuweilen
tritt einer mit dem schweren, benagelten Halbschuh bis über
die Knöchel in den aufgeweichten Boden; aber unablãssig
arbeiten sie, die schweren Böden, einen nach dem andern, auf
geglätteten Stämmen ins Wasser gleiten zu lassen. Nur da
und dort steht einer ein paar Augenblicke still, holt aus seiner
tiefen Hosentasche ein rundes Tabakpãäckchen, schüttet die
hohle, schwielige Hand voll von dem trockenen, braunen
Kraut und stopft es in den Mund; ein kurzes Kauen — und
die ganze Masse liegt sicher verwahrt wie eine dicke Geschwulst
unter der Backe. Endlich sind alle Böden versorgt, die vor-
dersten mit Weiden an die Erlensträucher am Ufer gebunden,
und der Fluß gleicht weit hinauf einer wogenden Brücke.
Die paar folgenden Tage sind die Zeit, wo die Buben
in der Schule nicht mehr ruhig sitzen können. Kaum haben
ssie die Schiefer und Bücher daheim irgendwo hingeworfen,
s0 geht's hinunter ans Wasser und nun beginnt ein katzen-
gewandtes Turnen auf den holperigen, glitschigen Bõden, ein
wildes Schwanken um die mitgelaufenen Kleinen zu ängst⸗
lichem Schreien zu bringen, manchmal auch eine kleine Flob-
reise auf eigene Faust mit einem losgemachten Boden, bis ein
langgeheultes „Feuerdunnerkeil!“ die ganze Bande auf das
ungefährliche andre Ufer treibt. Nittlerweile sind die Flöße
noch mit Stangen und Brettern beladen worden, welehe die
Reise mitmachen sollen; die schweren Flobhaken — lange
Stangen mit einer Pisenspitze und einem krummen Wider-
haken — werden zurechtgelegt und um den 19. März beginnt
die Ausreise. Ein paar Fässer Bier, ein Haufen Wieden und
173
ein kleiner Anker werden gut verstaut, auf dem oder jenem
Floh auch eine altertüũmlich bemalte ,Lade“ mit dem Sonntags
staat der Flößer und dem nötigen Kochgeschirr: dann setzt
sich die FPlotte in Bewegung.
Anfangs ist die Fahrt wohl ein Vergnügen und man sieht
es dem Plöber an, wie er sich freut, endlich wieder einmal
seinen geliebten Boden unter den Füben zu haben. Breitbeinig
steht er da mit der Kappe und dem gestriekten, Koller“ unter
der kurzen, schwarzen Jacke, die Augen scharf nach vorn
und auf die Uferränder gerichtet und den Flobhaken jeden
Augenblick bereit. Aber bald schon bringt ein Mühlwehr quer
über den Fluß das erste Hindernis. Der Müller hat schon von
weitem die Rufe der Plöber gehört und einen Teil der Wehr—
bretter herausgezogen, so dab sieh nun das Wasser reibend
dureh die breite Rinne ergiebt. Der erste Boden naht, immer
rascher von der Strömung dahingetrieben. Der PFlöber steht
auf dem äubersten Hinterteil seines Bodens; da stürzt das
Flob schon, hinten steil aufgerichtet, hinab. Der vordere LTeil
steht tief im Wasser; aber ehe er noch aus dem weiben Schaum
wieder aufgetaucht ist, steht der Führer schon mitten in dem
quirlenden Wasser, das über den Boden rollt, und lenkt das
schwankende Fahrzeug mit starker Hand in ruhiges Wasser.
Einen einzigen Augenblick zu spät und das FPlob kann sich auf
einer seichten Stelle im tiefer gelegenen Bachbett festfahren,
die andern kommen nach, von der Strömung gerissen, und
schieben sich übereinander. Ein Hagel der schrecklichsten
Verwünschungen prasselt auf den Unachtsamen nieder; lauter
Zuruf hält die weiter oben Fahrenden auf; dann springen alle
knietief ins Wasser, heben und schieben unter taktmäbigen
Rufen den schweren Boden, bis er wieder flott ist und den
andern den Weg freigibt.
So wird allmählich der Main erreicht und dann beginnt
auf den Böden auch ein regelrechter Haushalt mit eigner
Küche. Abwechslungsreich ist der Küchenzettel zwar nicht;
„schwarzes“ PFleisch und „grobe“ Klöbe aus Gerstenmehl
stehen so ziemlich jeden Tag darauf; aber wenn nur recht
viel Bier zum Nachspülen da ist, dann ist alles gut. Von dem
lachenden Frühlingsgelände, das sich zu beiden Seiten des
Flusses ausbreitet, sieht der Flöber freilich nicht viel. Den
ganzen Tag mubß Auge und Hand gespannt sein und nach
Sonnenuntergang ist er froh, venn er seine „Ruh“ hat. Nach
vier bis fünf Wochen ist das Reiseziel erreicht und die Böden
werden abgeliefert. Die Flöber werfen sich in ihren Sonntags-
staat, zieben das blütenweibe Hemd mit dem breiten um—
gelegten Kragen an, schlingen das schwarzseidne Halstuch
herum, daß zwei länge Zipfel rechts und links hinausstehen
und streben dem Bahnhof zu. Die Eisenbahn trägt sie wieder
in ihre Heimat, wo schon neu hergerichtete Böden auf sie
warten. So geht die Arbeit bis zum 21. Oktober ohne längere
Unterbrechungen fort.
Lang aber halten selbst diese rauhen Gesellen einer rauhen
Gegend die gesundheitmordende Arbeit nioht aus. Der Rheu—
matismus, dieé Berufskrankheit der Wasserarbeiter, und damit
verbundene Herzleiden reiben sie meist schon vor dem fünf—
zigsten Lebensjahre aus den Reihen. Dann sitzen sie im Prüh-—
jahr hinterm hFenster, die steifen Finger mit den dicken Ge—
lenken in Tücher gewickelt, ein Kissen auf den unförmig ge—
schwollenen Knieen, und schauen griesgrämig hinunter auf das
Leben und Treiben am Flub. Wenn dann die Böden zu schwim-
men beginnen, humpeln sie wohl am Stock an die FPloblände,
schauen den FPlöben nach, bis auch das letzte verschwunden
ist, und schleichen dann, ein „Dunnerkiel‘ zwischen den
Zahnen zerkauend, wieder heim in ihr warmes Gefängnis.
Emil Grimm.
71. Aus dem Bauernleben in der Rhön.
Daß der dichte Waldbestand unsrer Mittelgebirge deren
Klima und Fruchtbarkeit günstig beeinflubt, ist eine Er-
kenntnis, die heutzutage jedem Kind geläufig ist. Für das
Gegenteil gibt uns die Rhöõn den besten Beweis. Unverstand
und Eigennutz der vielen frühern Gebietsherren dieser Gegend
brachten es fertig, dab die ganze Hochfläche der Rhön, die
vorzeiten ein einziger grober Wald bedeckte, heute mit ge—
17
ringen Ausnahmen vollständig kahl liegt. Dadurch erhielt
die Rhön ibr ungewöhnlich rauhes, nordisches Klima und
alle die angestrengten Bemühungen der Regierungen die
Hõhenrũcken wieder aufzuforsten, werden davon zuschanden
gemacht. Der erste Schnee fällt stets im Oktober, zuweilen
sogar schon im September und selbst im Juni kann man in
Furchen und Schluchten noch schmutzige, vereiste Schnee-
krusten antreffen. So ungeheure Massen häufen sich in den
WVintermonaten an, dab oft von den hohen Schneepfählen und
Schneebüschen längs der Straben und Wege kaum mehr die
Spitze hervorschaut. Dazu braust über die freien Hochflächen
ein schneidend scharfer Sturm, der in ganz kurzer Zeit haus—
hohe Schneewehen auftürmt, und alles darunter begräbt,
was nieht stärker ist als Vind und Wetter. Kein Winter ver—
geht denn auch in der Rhön ohne Opfer an Menschenleben
und manchen spurlos verschwundenen Hausvater entläbt erst
das Tauwetter des nächsten Frühlings aus seinem kristallenen
Grabe. Die Wiederkehr der bessern Jahreszeit kündigt sich
dureh anhaltende, undurchdringliche Nebel an. Bis aber die
Witterung so günstig wird, dab die Felder bestellt werden
können und die jungen Gräser den Wies- und Hutflächen einen
zarten grünen Schimmer geben, blühen in den Tälern der Vor—
landschaften längst die Obstbäume und in den Saatfeldern
könnte sich gut ein Häslein verstecken. So kommt es, dab nur
die wenigsten Rhönbauern so viel Ackerfeld besitzen, um den
Brotbedarf für ihren eigenen Haushalt decken zu können; die
meisten müssen Gott danken, wenn die Rartoffeln und das
„Kräut“ gut geraten. Mit Stärkemehl wird dann der kärgliche
Vorrat von Brotmehl tüchtig „gedehnt“, was allerdings ein
schweres, speckiges Brot gibt. Preilich trägt der reichliche
Kartoffelbau wohl auch die Schuld an den vielen kleinen
Branntweinbrennereien, dié dem Rhöner den Stoff liefern,
womit er täglich mehrmals sein „Kännje“ füllt, blob daß
„'s Muil geschmiert werd“‘. Begreiflich werden aber, wenn
man diese armseligen Verhältnisse kennt, manche Dorfnamen
der Rhön, wie Dörrenhof, Kaltennordheim,
Sehmalnau und Sparbrod.
176
Weitaus ergiebiger als der Feldbau ist die Wieswirtschaft.
sn manchen Kreisen des Rhöngebiets bildet das Wiesen- und
Weideland mehr als die Hälfte des ertragfähigen Bodens.
Allerdings liegen die guten zweimähdigen Wiesen alle in den
Flubtãälern; in einer Hõhe von 600 m findet man meist nur
Weideland, „Huet“, wie der Rhöner sagt, und Wüstung, die
sogenannten „Ellern“ mit dünnem, pfriemigem Gras und
übersät mit Steinbrocken. Dazu kommen auf der Hohen Rhön
noch die Hochwiesen, die aber mit dem Wiesenland im Tal
nicht verglichen werden können. Die Heumahd ist für den
Rhõner das eigentliche Erntefest. Anfangs Juli sammeln sich
um Mitternacht die Mähder auf dem Dorfplatz. Jeder trägt
ein Paar Sensen, einen Rechen und eine strobgeflochtne Korb—
tasche mit der unentbehrlichen Schnapsflasche und der ebenso
notwendigen Tabakspfeife. Mit launigen Scherzworten und
Neckereien suchen sich alle über die unangenehme Schläfrig-
keit wegzubringen. Da erklingt plötzlich wie ein Schrei der
quãkende Ton einer Klarinette, eine zweite setzt ein, dann
eine Trompete, ein Hlüũgelhorn, ein Bombardon; — und unvwill-
kürlich setzen sich die Fübe in Bewegung und der Zug mar-
schieèrt geschlosson aus dem Dörfehen hinauf zu den Höhen.
Lang und beschwerlich ist der Weg und kann nicht jeden Tag
hin und zurück gemacht werden. Darum ersteht droben auf
den Hochwiesen für ein paar Wochen ein kleines luftiges Zelt-
dorf für den kurzen Schlaf und die Mittagsruhe. Morgens
beim Sonnenaufgang kommt das Weibervolk mit den Heu—
wagen und dem ausgesucht leckern und reichlichen Mund-—
vorrat, wie ihn der Rhöner sonst nur noch an Pastnacht, an
der Kirmeb oder zu Hochzeiten siebht. Den ganzen Tag über
wird geschafft bis in die sinkende Nacht, oft mit fröhblichem
Wechselgesang. Nachmittags fahren die vollbeladenen Wagen,
geleitet von Mädehen oder Frauen, zutal und an jedem Samstag
folgen ihnen die Mähder, bis endlich nach vier bis sechs Wochen
die lustige Mirtschaft und damit das leidige FPrühbaufstehen
ein Ende hat.
Bei dem ausgedehnten Wiesbau ist es selbstverständlich,
dab der Bauer wie der , Hüttner“ in der Rhön vorzüglich auf
7
die Viehzueht angewiesen ist. Doch ist nirgends die Alm-
wirtschaft eingeführt, sondern das Vieh wird täglich zweimal
vor und nach der Schulzeit von den Hütbuben zuberg und
wieder in die Ställe getrioben. Neben der Rindviehzuoht be-
treibt der Rhöner noch mit Fleiß und Sorgfalt die Scohafzucht
und die fetten Rhönhämmel sind im Unterfränkischen bekannt
und geschätzt. Von den Abfällen der Kartoffeln zieht der
Bauer jãhrlich auch ein paar Schweine auf und Hausfütterung
und Hut nähren leicht eine grobe Herde Gänse, die gegen den
Martinstag alle die Gänsstraß“, d. h. nach Würzburg und
den benachbarten Städten, ziehen.
Emil Grimm.
Nñä
Lesebuch für Höhere Mädchenschulen. 1.
12
178
VI. Bilder aus dem Tierleben.
72. Ein flatterhattes Mesen.
Ich sitze in meinem Zimmer am Schreibtisch; die Fenster
hab' ich geöffnet, denn der Abend ist lau und mild und die
Amsel flõtet so zart und sanft ihr erstes Lenzeslied. Da flattert
es mir um den Kopf mit leichten Schwingen, ein Rundflug
durehs Zimmer und wieder hinaus in den weichen Abend.
Mein Gott, mit was für kleinen Dingen kannst du doch dem
armen Menschenkind eine Riesenfreude bereiten: ein bibehen
Vogelgesang, ein Kätzchen an der Hasel, ein kleines Blumen-
glõckchen, ein gelber Falter und — eine Fledermaus!
Wo sie wohl die kalten Monate verträumt hat? Im
Sparrenwerk des Dachstuhls, vielleicht nanhe dem Schornstein,
der ihr vorzeitig den Frühling vortäuschte, oder im Rauchfang
selbst? Zieh dich nur wieder zurüẽk, du armer Narr, ins warme
Versteck zu deinen Brüdern und Schwestern, die alle noch
schlafen; Käfer und Nachtschmetterlinge beginnen so früh
nicht zu schwärmen und von den paar Spinnen hier und dort
in den Winkeln wirst du nicht satt!
Eine überwinternde Fledermausgesellschaft — es handelt
sich bei uns meist um die gemeine FPledermaus, die besonders
Geselligkeit lioebt — gewährt einen ganz eignen Anblick; auf
den Dachbõden des alten Schlosses in meinem Geburtsstädtohen
habe ich sie oft zu Hunderten gesehen. An den Zehen der
Hinterpföõtehen hängen die kleinen Tieère, den Kopf abwärts
gerichtet und den ganzen Körper lose eingewickelt in die fal-
tigen Flughãute, dab nicht viel mehr als das spitze Schnäuzchen
dureh einen Spalt hervorschaut. So schlummern sie oft dutzend-
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weise in Reih und Glied an demselben Balken dem kommenden
Lenze entgegen, kleine, hilflose Geschöpfe; wie ein Bündelohen
abgestorbenen Laubes sehen sie aus, mumienartig eingetrocknet
und ohne Leben.
Aber jetzt reckt sich der eine Arm, er reckt sich und
dehnt sich und auch am andern spreizen siceh die Finger; das
Kõöpfehen mit den blitzenden Augen schaut nach links und
nach rechts und nach oben. Bald hat die Daumenkralle den
Ritz im Balken gefunden, wo sie sich einhakt, und langsam
zieht nun die Spannkraft des Arms das ganze Tierchen empor,
bis es oben sitzt auf dem Sparren, die Flughaut nur halb ge-
lüftet um noch ein wenig zu verschnaufen, bevor es den ersten
Flug wieder wagt nach der langen Winterrube.
Hei, wie schön und sicher geht es trotz des engmaschigen
Balkenwerks! Ein ganzes Dutzend der Schlafgenossen ist
gleichfalls erwacht und flattert nun auch, leise hohe Pfeif-
tõne ausstobhend, unruhig umher in dem beschränkten Raum.
Noch ein kurzes Rasten auf einem Sparrenkopf und dann
hinaus dureh die Dachluke, hei! in den wonnigen Frũhlings-
abend! Um den ersten Turm herum und jetzt um den zweiten
— vie der dicke Abendfalter schmeckt nach dem langen,
langen Fasttag! lautlos wirbeln seine Flügel herab zur Erde
— und nun zur Kirche und über die Wiese hinab ans Fluß-
ufer, wo die hohen Pappeln stehn und Spinner und Spanner,
Wicekler und Eulen und schwärmende RKäfer aller Art Hochzeit
halten in lauwarmer Nacht.
Der Fledermausflug hat etwas Phantastisches an sich,
lautlos wie der Flug aller nächtlichen Tiere, zackig die Bahn,
als sei sie ein Abbild des häutigen Flugorgans selbst, unsicher
scheinbar und ohne Ziel. So fliegt kein Vogel durceh die Luft,
kein Abendfalter, ein Flattern ist es, kein Fliegen. Und doch
wie gewandt! Besonders unsre zweite, etwas größere PFleder-
mausart — die „frühfliegende hat man sie genannt, weil
zie schon am Spätnachmittag auf Insektenfang auszieht —
ist eine grobe Künstlerin in aller Art Luftgymnastik. Ihre
Finger klaftern besonders weit, dabei sindd die Flughäute
schmal, den Flügeln des Mauerseglers zu vergleichen. Auch
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das viel kleinere , Grobohr“, das bei uns ebenfalls nicht selten
ist, tut's ihr nicht gleiecn. Das Wunderbarste am Fledermaus-
flug ist aber dies, dab die Tierchen selbst in dunkelster Nacht,
ja auch in einer ganz fremden Umgebung nirgends anstoben
und auoh dem feinsten Asstwerk, dünnen Fäden sogar geschickt
auszuweichen verstehen. Der selige Spallanzani hat vor
länger als hundert Jahren in dieser Beziehung mit geblendeten
Fledermãäusen Versuche angestellt; er glaubte einen sechsten
Sinn bei ihnen annehmen zu müssen, denn von den unzäh—
ligen Endkörperchen der Tastnerven in den Flughäuten hatte
er noch keine rechte Vorstellung. Diese vermitteln die Wahr-
nehmung der leisen Luftwellen, die auch von den zartesten
Gegenstünden zurũückgeworfen werden, in deren Nähe die
Flatterer sich bewegen. Und da können sich unsere Damen
noch ängstigen, dal die Fledermaus ihnen in die wuschligen
Haare fliegen werde, die eignen oder die fremden; das wãre ja ganz
schrecklich — für das arme Tierchen nämlich, die FPledermaus!
Uberhaupt, was für Dummheiten man sieh noch heut-
zutage von unserm verkannten flatterhaften Wesen erzählt,
das geht nicht auf — einen Druckbogen. Marshall wurde
noch vor wenig Jahren gefragt, ob die FPledermaus wirklich
ein Säugetier sei, und auch von mir hat man Aufschlub ver-
langt: die FHledermaus sauge doch wohl den Kühen die Mileh
aus dem Euter? Das Märchen, das man sich von der Nacht—
schwalbe erzählt, das, meinte man, sollte auch für die nächt—
lich lebende Fledermaus passen. Und dann das unsinnige
Spiel, das der tollste Aberglaube mit den unschuldigen Tierchen
treibt. Wieviel Hokuspokus knüpft sioh an den Fledermausflũgel,
an ihr Herz, an ihr Blut! Noch heute nagelt der Bauer meiner
Heimat seine beste Freundin an die Stalltũre gegen — Hexenspuk.
Martin Braeb.
73. Einsiedlerleben unter der Erde.
Ein mürrischer, bissiger Einsiedler ist der schwarze Be-
wohner des Erdreichs, der Maulwurf; kein Tier leidet er in
seinem Gebiet. Einen groben Teil des Tages verbringt er sohla-
I
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fend in seinem Kessel, der ihm Rube und Sicherheit gewãhrt.
Luft dringt von oben dureh die feinen Spalten und Ritzen
hindureh und zu einer Pfütze oder einem Bach gräbt sich der
unterirdische Burgherr wohl auch einen Gang; doch bedarf
er bei seiner Fleischnahrung nur selten einen Schluck Wasser.
Aber dreimal am Tag, morgens, mittags und abends, eilt der
Regenwurm- und Engerlingvertilger nach seinem Revier, so
dab er also täglich sechsmal seinen Weg durch die Laufröhre
nimmt, wo er sich auf den Sohlen der trippelnden Hinterfübße
und dem Innenrand seiner Grabhände sehr schnell und sicher
bewegt. vein Jagdgebiet durehwühlt und durchstampft er
nach allen Richtungen in unzähligen Röhren, die sich ver-
æweigen und kreuzen. Täglich werden sie um neue vermehrt,
besonders in der kalten Jahreszeit, wenn die Nahrung knapp
ist; denn immer ist der Unersättliche bemüht seine Herrschaft
noch zu erweitern. Diese wagrechten und wenig tiefen Nah-
rungs- oder Jagdgänge sind mehr nur für den Augenblick be-
rechnet; sie stürzen bald wieder zusammen, denn ihre Wände
werden nicht festgedrückt; die Erdmassen befördert der
Wühler, sobald sie sieh in den Gängen häufen, mit Kopf und
Hals an die Oberfläche. Doch ist der Maulwurf bei dem Empor-
sgtobhen fast immer so vorsichtig etwa handtief unter dem Boden
zu bleiben Richtung und Ausdehnung des Jagdgebiets zeigen
die aufgeworfenen Erdhügel an. Nährt das Revier seinen Be-
ssitzer nicht mehr genügend, so wird vom RKessel aus eine neue
Laufröõhre nach einer andern Richtung getrieben, wo sich der
Jãger reichere Beute verspricht. Ist der Maulwurf gesättigt,
so kehrt er nach seinem Kessel zurück und ruht schlafend
von den Mũhen der Jagd aus.
Im MNinter folgt er den Engerlingen und andern Larven
in die frostfreie Tiefe; denn einen VWinterschlaf hält dieser
Insektenfresser unsrer Heimat ebensowenig wie sein kleiner
Verandter, die Spitzmaus Aueh in regenarmen Sommer-
monaten, wenn die Erde fubtief austrocknet, verlegt der Maul-
wurf seine Jagdgründe tiefer; doch kommt er um diese Zeit
nicht allzu selten aus seinen Gängen hervor um an der Ober—
fläche nach einer Beute zu schnuppern.
Dab ein solcher mürrischer Einsiedler und Selbstsüchtling
kein gemütliches Familienleben führt, versteht sich von selbst.
Mit seinem Weib lebt er blob ein paar Tage in Frieden. So-
bald es die Erwählte vermag, entweicht sie dem tyrannischen
Gatten und gräbt sich einen eignen Bau, wo sie der Geburt
ihrer Kinder entgegensient. Der Vater darf die Kleinen nicht
finden; er würde sie fressen und die Mutter mit ihnen, falls
es ihr nicht gelänge, den Mann selbst totzubeiben und zu ver-
zehren. Vier Wochen nach der Hochzeit liegen drei bis fünf
Junge im Nest. Bohnengrob und nackt, ganz unbehilflich
und unfertig sind sie, aber dabei wohlgenährt. Wie Kleine
vollgestopfte Säckohen sehen sie aus, faltig die rosige Haut,
nur das Schnäuzechen, die kurzen Breithände und die runden
Hinterfübchen schauen aus dem Körper hervor. Wenn sie
entwöhnt werden sollen, schleppt die Mutter Regenwürmer
und Kerbtiere herbei und verfüttert sie in Stückchen ihren
schnuppernden Kindern. Droht eine Gefahr, so trägt sie die
Kleinen Säckehen im Munde nach einer andern in gröbter
Eile gegrabenen Höhlung; besonders Uberschwemmungen sind
es, dié manchmal im Sommer die Kinderstube bedrohen.
Ein bis zwei Monate bleiben die Jungen bei der zärtlichen
Mutter. Zuerst wächst ihnen das zartgraue Plüschröckohen am
Kopf und am Rücken, später hüllt es das ganze Persönehen
bis auf Hände und Schnäuzchen ein. Diese Teile bleiben
zeitloebens ohne Bekleidung; denn für einen Tiefbauarbeiter
taugen Handschuhe nicht, und wer seine Nase immer gebraucht,
wãre töricht sie in einem Plüschfutteral zu verbergen. Unter
der Fübrung der Mutter lernen die Kleinen selbst im Revier
nach Engerlingen und Würmern zu jagen, und wenn sie dann
so weit sind, dab die Alte denkt: Nun ist's genug; geht jetzt
eure eignen Wege! so pufft sie die Kinder weg, beibt auch nach
ihnen, daß sie quiekend aufschreien, und will nichts mehr
von ihnen wissen. Sie graben sich nun ihre eignen Wohn-
rãume, gewöhnlich noch wenig geschiekt und der Oberfläche
ganz nah, und beginnen, jedes für sich, das Einsiedlerleben,
wie es die Eltern jahraus jahrein führen. Erst im nächsten
Frübjahr sind die jungen Tiere völlig erwachsen. Dann baut
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82
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sich jedes an geeigneter Stelle eine unterirdische Burg mit
Laufgräben und Sicherheitsröhren und so erneuert sioh stetig
der Kreislauf des Lebens von Geschlecht zu Geschlecht.
Martin Braeb.
74. Eine Igelfamilie.
Als die Frau des Schäfers einen Komposthaufen aus-
einanderstõbt, findet sie in einem Haufen welken Grases fünf
kleine, rosige, weibstachelige Dingerchen neben einer alten
Igelin liegen. Nachmittags will sie sie ihrem Mann zeigen;
aber sie sind nicht mehr zu finden. Die Igelin hat ihre Jungen
verschleppt. Unter dem alten Schlehbusch hat sie ihnen ein
neues Nest gekratzt und sie warm zugedeckt. Da säugt sie
sie tagsũüber; aber nachts treibt sie sich im Garten umher nund
frißt sieh an Sohnecken und Würmern diek, scharrt Mäuse-
nester aus und fängt junge Frösche, schont auch die junge Brut
der Rotkehlehen nicht und nimmt aueh die junge Amsel mit,
die ihr in den Weg tolpatscht. Sogar die grobe Wanderratte,
die sich in dem Schlageisen gefangen hatte, mubte daran glauben;
trotz ihres Strampelns und Quietschens wird sie totgebissen
und bis auf Kopf, Pell und Schwanz aufgefressen.
Nach vier Wochen führt die Igelin ihre fünf Kleinen aus.
Eines Abends, als der Schäfer vor der Tür sitzt und seine
Pfeife raucht, raschelt es hinter dem Brennholz und da kommt
schnaubend und prustend erst die Igelin angetrippelt und
hinter ihr wackeln die fünf Kleinen. Der Schäfer ist ein ernster
Mann und lacht selten, heute aber muß er doch lachen; denn
es sieht zu putzig aus, wie die kleinen Dinger hinter der Alten
herbummeln, überall kratzen und scharren und ihre Nasen
in alle Lõcher am Boden stecken oder hastig hinrennen, venn
die Mutter einen tüohtigen Wurm blobgescharrt hat und ihn
sich von den Kleinen fortnehmen läßt. veit der Zeit ist es
für den Schäfer und seine Frau ein Hauptvergnügen den Igeln
zuzusehen, und damit sie nicht gestört werden, wird Widu,
der junge Hund, jeden Abend angelegt. Auch allerlei Ebbares
legt der Mann den Igeln hin. Butterbrot verschmähten sie,
1&
aber frisches Hleisch nahmen sie gern und auch kleine Fische,
die der Schäfer für die Hechtangeln gefangen hatte.
Mittlerweile wurden die kleinen Igel immer gröbßer,
hielten auch nicht mehr zu der Alten, sondern gingen ihre
eignen Wege und wenn sie der Alten begegneten, wurden sie
von ihr weggebissen. So wanderten sie denn aus, der eine
in die Heidberge, der andre in die Eichen, der dritte in den
Wiesenbusch, noch einer in das Dorf und der letzte nach dem
Immenzaun, und wenn der Schäfer einen von ihnen antraf,
dann zeigte er sie den Leuten und sagte: Das ist einer von
meinem Hofe“; denn er kannte sie gleich wieder, weil er allen,
dem einen am Kopf, dem andern hier oder da am Rücken ein
Büschelchen Stacheln abgeschoren hatte. Bis in den Herbst
hinein sah er bald hier bald da einen von seinen Igeln und sogar
im Februar, als nach einem leichten Schnee die Sonne schön
warm schien, traf er die alte Igelin am hellen Nachmittag vor
der großen Hecke am Immenzaun. Er nahm sie mit und
setzte sie in den Schafstall, und als im März die Sonne die
Oberhand bekam, traf er fast jeden Abend einen Igel an im
Garten, auf dem Hofe oder unter den Eichen und hatte sein
Vergnũügen an ihnen.
Eines Tages aber kam eine Zigeunerhorde zugewandert
und der Vorsteher wies ihnen die Heide bei den Richen als
Lagerstätte an. Wahrend die Männer sich überall herum-
trieben und die Weibsleute wahrsagen gingen, zogen die Jun-
gens auf die Igeljagd. Sie hatten Stöcke, an denen oben ein
langer, dicker, spitzgefeilter Draht befestigt war, und damit
stachen sie in alle Laubhaufen und Hecken und unter die
Schafstãlle. Ab und zu quietschte es und einer von den Bengeln
zog einen aufgespiebten Igel aus seinem Verstecke, den er
dann totsehlug.
Abend für Abend saß der Schäfer auf der Bank vor der
Tür und wartete auf seine Igel. Er sah sie nie wieder.
Hermann Löns.
75. Nachtleben am Fuchshbau.
Abends, wenn die Sonne schon niedriger steht, erscheinen
die Jungfüchse regelmäbig in verschiedenen besonders bevor—
zugten Röõhren. Erst reckt man sich, schüttelt den Balg, unter-
sucht mit feinem Näschen Luft und Boden, dann bricht der
jugendliche Mutwille duren und hier balgen sich zwei nach
Art junger Hunde, dort zerren zwei andre an einem alten
Hasenbalg um die Wette und wieder andre spielen Fangen,
daß das Laub stiebt. Ein andrer sitzt inzwischen mit komisch.
ernstem Gesicht auf den Keulen und unterbricht seine Be—
trachtung nur auf Augenblicke, wenn die Plagegeister seines
Balges zu lebhaft werden. Der vorübergaukelnde Abend-
falter, surrende Mist- und Aaskäfer sind willkommenes Spiel⸗
zeug, nach dem in drolligen Sätzen mit Rifer gehascht und
geschnappt wird. An einer Röhre sitzt ein junges Füchschen,
guekt mit schiefgehaltenem Köpfchen hinein, springt zu,
duckt sich, fährt zurück und versucht auf alle Weise die Mutter,
die hier noch vorsichtig in der Röhre steckt, zum Verlassen
des Baues, zur Beteiligung am muntern Spiel zu veranlassen.
Doch Frau Reineke ist vorsichtig und verläbßt den Bau
meist erst in dunkler Nacht, steckt erst nur den Windfang
heraus, prüft lange mit allen Sinnen und erst, wenn alles sicher
erscheint, verläßt sie die Röhre, schüttelt den Balg, daß der
darin haftende Sand fliegt, hält Umschau und liebkost die
herandrängenden Jungen. Jetzt unternimmt sie einen weiten
Beutezug. die versäumt nicht dem weit entfernten Bauern-
hof, der ihr neulich einen Braten geliefert hat, einen Besuch
abzustatten, nimmt die Ratte vom Schweinestall weg, birscht
in der Schonung auf schlafende Karnickel, verfolgt im PFelde
den Junghasen und Hamster, findet hier ein ergiebiges Mäuse-
feld, eine brütende Fasanhenne, ein Rebhubn und kehrt zu
verschiedenen Malen während der Nacht mit Beute zu ihrem
Bau zurück. Wohl immer aber findet sie sioh in der Morgen-
dämmerung am Bau ein. Nie vergibt sie dabei die Vorsicht;
sie umkreist den Bau erst in gröberer Entfernung und erhebt
auf das geringste Geräusch oder fremde Witterung ihr heiseres
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Gekläff, die Warnung für die Jungen sich in den sichern
Bau zurũckzuziehen.
Die Jungen erwarten die Mutter vom ersten Morgengrauen
an am Bau und vertreiben sich die Zeit mit Spiel und Balgerei
und kauen, vom Hunger geplagt, an alten Hasen- und Reh-
knochen. Beim Ertönen der mütterlichen Warnungsstimme
springen freilich einzelne schon beherztere der kläffenden Alten
entgegen, wenn der Hunger stärker ist als ihr kindlicher Ge-
horsam. Dann versteckt sie die Alte wohl gelegentlich mit
neuem Raub in irgend einem passenden Schlupfwinkel. Ist
aber alles in Ordnung, so bringt die alte PFüchsin den Raub zum
Bau und die Jugend katzbalgt sich nun um die besten Bissen.
Wenn die Sonne hochkommt, das Rotkehlchen zu trillern
beginnt und die Holztaube rukst, verschwindet dann die ganze
Räuberbande im sichern Schlupfwinkel.
Hermann Meerwarth.
76. Eichhörnehen im Minter.
Es ist noch ganz grau im hohen Holze. Und ganz
still iss es. Der Nordost, der drei Tage und drei Nächte
tobte, hat sich gelegt. Dem scharfen Nordost hat weiche
Sũdwestluft Platz gemacht.
In der dicken, schwarzen Kugel, die in der höchsten
Zwille der langschäftigen Buche schwebt, knistert es leise.
Ein halblautes Schnalzen ertönt von da. Die Eichkatze hat
ihr Nest verlassen und putzt sich. Ab und zu hebt sie den Kopf
und schnuppert in den Wind hinein. Das MWetter gefällt ibr.
Ein bibehen zu dunkel ist es zwar noch; aber da unten über
den schwarzen Hügeln wird der Himmel schon rot. Und der
Hunger ist grob. Drei Tage und drei Nächte vom eignen Pett
zu leben, das hält nicht vor.
Die Eichkatze rückt auf dem Aste hin und her, sohnuppert
an der Rinde, knabbert ein paar dünne Knospen ab und ist
mit einem jähen Satz in der nächsten Krone. Dünn sind die
Zweige und brüchig vom Frost; aber ehe sie dazu kommen
abzubrechen. sind sie die Last schon wieder los und die Lich-—
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37
katze rennt sehon über einen Zweig in dem folgenden Baum,
wirft sich in den vierten, schlüpft einen dünnen Ast entlang,
daßb er sioh tief biegt und sie in den fünften Baum befördert,
und dann noch ein Sprung und noch einer und sie fällt in den
Wipfel der alten Samenfichte. Hastig geht es einen langen
Ast hinunter fast bis in die Spitze. Scohwer beladen war er im
Herbst mit langen Zapfen; wenige hängen nur noch daran.
Einen nach dem andern holte sioh das Eichkätzehen und half
sich mit der magern Kost über manchen strengen Wintertag.
Der ganze Boden unter der Fichte ist besät mit den rostroten
Schuppen, überall ragen die Zapfenquirle aus der Schneedecke
hervor und auf den halbverschneiten Felsbrocken liegen in
ganzen Haufen die Uberreste der kärglichen Mahlzeiten.
Die Eichkatze hat einen Zapfen losgebissen, hält ihn im
Maule und klettert mit ibhm kopfüber den Stamm hinab, ganz
eilig, aber ab und an innehaltend und nach allen Seiten spähend.
Dann ein Sprung und sie sitzt auf ihrem Pelsblock, hoch auf-
gerichtet, zur Flucht bereit. Aber es kommt nichts Arges.
Schnell dreht die Eichkatze den Zapfen mit den Vorderfüben
um, die gelben Nagezähne fassen die Schuppen, beiben sie
dureh und hastig nehmen die Lippen ein Samenkorn nach
dem andern fort. Eben war das Ding noch ein glatter, schöner
Tannenzapfen; jetzt liegt nur noch der Kern hier und rund
herum bedecken die Schuppen den grauen Stein.
Es ist ganz hell im Holz geworden. Die grauen Stämme
schimmern silbern, die Schneedecke des Bodens leucehtet goldig.
Die Eichkatze hüpft rastlos unter den Fichten umber, kratzt
hier, scharrt da, schnüffelt dort, macht alle Augenblicke ein
Männchen, heftig mit den langpinseligen Ohren zuekend und
die Rute schnellend; dann verharrt sie ganz regungslos und
schlüpft schlieblich wieder hastig über den Boden, beraubt
jetzt einen Zweig der Knospen, zerknabbert dann eine Buchen-
nub und zerfasert nun einen weihfaulen Ast, in dem die Puppen
von Kãfern stecken.
Dann auf einmal rennt sie wie gehetzt zutal ohne aueh
nur einmal haltzumachen, ohne rechts und links zu äugen
und erst am Rande des Holzes hält sie ein. Da recken einige
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dicke Eichen ibr krauses Asstwerk über dichtem Buschwerk
von Schlehe, Weißdorn und Wildrose. Ohne sich zu besinnen,
fährt das rote Tier in das hohe, gelbe Gras, springt hierhin,
hüpft dahin, kratzt den Schnee fort, scharrt das Laub auf,
zernagt gierig eine Eichel, verspeist eilig eine Mehlbeere, schält
den Schlehenstein aus seiner Hülle und knackt ihn auf, tut
sich an drei Pflaumenkernen gütlich, die im Herbste der Jäger
von dem Hochsitz warf, findet noch eine dicke Brotrinde,
einen Apfelkropf mit vielen leckern Kernen und zuletzt noch
zwei Schweinsrippen mit schönen, mürben Knorpelenden.
Dann eilt sie in hastigen Sprüngen auf die Klöppenwand
zu. Das ist ihre Hauptspeisekammer im Winter. Dort steht
ein hrummer Lindenbaum, der alle Jahre trägt. Vier alte
NMubsträucher spreizen sioh dort unter zwei sturmzerfetzten
Samenfichten, und obgleich dort keine Eiche wächst, so sind.
in den Felsspalten immer Eicheln zu finden, welche die Häher
hierhin vertragen, und die alte Buche virft jedes zweite Jahr
reichlich Früchte in die Schlucht. Auch ein Wildapfelbaum
schiebt sioh aus der Wand, am Ausgang der Schlucht stehen
Vogelkirschen und an Schlehen, Weibßdorn und Rosen mangelt
es nicht. Ist es mit der Kost im Wald einmal schlecht bestellt,
hier findet sieh immer etwas für den Magen. Nicht weit davon
liegt das Porsthaus und in dem Garten wachsen Apfel, Birnen,
Pflaumen, Kirschen und Walnüsse. Ein bibehen lebensgefährlich
ist es dort freilich; denn seitdem der Förster dahinter gekommen
ist wer ihm seine Birnen zernagt und seine Nüsse fortschleppt,
pabt er sehr auf; doch vor Tau und Tag lebt es sich da herrlich.
Wãährend der warmen Mittagsstunden turnt die Eichkatze
dann bedächtig an der Wand herum und sucht im Laube nach
Eicheln und Buchnüssen. Nachmittags aber, als die Sonne
hinter Wolken verschwindet, sucht sie ihr nächstes Nest in der
gegabelten Fichte auf, einen weichen, warmen Kobel, den sie stets
bezieht, wenn sie der Abend hier bei den Klĩöppen überrascht.
Hermann Löns.
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77. Gemswild im Frühling und Sommor.
Lustig pfeifend streichen die Kreuzschnäbel im Berg-
wald von Wipfel zu Wipfel. Ihre Brut ist trotz der Härte
des Bergwinters gut gediehen und besueht nun unter Führung
der Alten die Hauptfutterstände. Lifrig trägt der Tannen-
häher Niststoffe zu Holz: Moos, Flechten, aueh Tierhaare,
die er unter der Wettertanne reichlich findet: Noch wenige
Wochen, dann kommt neues Leben in die Bergwelt. Mit
Sausen und Brausen weht der Pöhn, haut den Schnee von den
Bãumen, lockert in wenig Tagen die Schneelagen steilhängender
Halden und läbt sie als donnernde Lawine zutal fahren. In
unglaublich kurzer Zeit zaubert hier an den schneefreien Stellen
die Sonne frisches Grün aus dem Boden und ruft die Tiere
der Alpenwelt zum leckern Mahl nach langer Entbehrung.
Von Tag zu Tag mãchtiger tost der Bergbach, so daß der muntere
Gesang der Bachamsel kaum mehr zu vernehmen ist. Die
Macht des Winters ist gebrochen.
Beim ersten Ruf des Frühlings, als die alten Mettertannen
sich im Föhnsturm bogen, ist das Gemswild vom tiefer ge—
legenen Bergwald wieder aufgebrochen, bergan, den sehnee-
freien Plãtzen zu, die bald mit verheihbungsvollem Grün winkten.
Nicht allen ist es vergönnt jetzt hier oben mit der kräftigen
Asung die letzte Drangsal des Winters zu überwinden: maneh
ein verwaistes Kitz war zuletzt der Kälte und Not unterlegen,
ein Raub der Füchse geworden; gar manches Tier stürzt auf
halb verschneitem Pfad in den Abgrund und nicht gar selten
finden ganze Rudel auf dem Wechsel zur verheißungsvollen
Alphöhe ihr Grab in niedergehenden Lawinen.
Jetzt gibt's wieder mühsame Arbeit für die Jägerei.
In stockdunkler Nacht steigt der Jäger-Hias den bescohwer-
lichen Weg hinauf, den Urhahn und den Spielhahn zu ver—
hören und vor unberufenen Liebhabern zu hüten. Mitten im
tollsten Gejodel verstummen die beiden Spielhähne auf dem
Aluboden unter der alten Wettertanne, machen sekunden-—
lang einen langen Hals und streichen dann polternd ab gerade
über unserm Jäger, der schon in Erwartung eines Neben—
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buhlers die Büchse fester fabt. Doch es war nichts und seine
Miene erhellt sich, wie er die Störenfriede erkennt, ein Gems-—
rudel, das bei eben hochkommender Sonne die schneefreie
Stelle des Almbodens zur Asung annimmt. Elf Gemsen zählt
der Jãger hier, darunter drei Böcke; ein verwaistes Kitz hält
sich dicht bei einer Muttergeib, deren eigner Sprößling vom
letzten Jahr die Unbill des Vinters besser überstanden hat als
die Waise. Auf einem kleinen Bestätigungsmarsch, den nun
der Jäger unternimmt, bemerkt er noch mehrere Gemsrudel
und kann nun seinem Jagdherrn frohe Botschaft senden.
Im NMai bringen die Muttergeiben im heimlichen Latschen-
dickicht ihre Kitzchen zur Welt und halten sich von da an
von den übrigen Gliedern des Winterrudels abgesondert. Erst
wenn das neugeborne Kitz gewandt genug ist, der Mutter
überallhin zu folgen, duldet sie auch wieder das vorjährige,
den Jahrling, und zieht nun mit beiden gemeinsam zur Asung.
Ihre Hauptsorge gilt freilich immer dem Jüngsten, dessen
tãppische Unbeholfenheit in seinen ersten Lebenstagen so oft
die Aufopferung der Muttergeib beansprucht, wenn es gilt,
einem allzu lüsternen Reineke mit wuchtigem Schlag der
Vorderläufe den Weg zu weisen oder das Junge mit dem eignen
Kõörper auf schmalem Felsband gegen den dicht über ihnen
kreisenden Adler zu decken. Viel Mühe und Überredungs-
kunst kostet es, bis die Mutter das Vertrauen des Jungen in
die Kraft und Gelenkigkeit der eignen Glieder geweckt hat;
gar oft mub sie, immer und immer wieder, leise blädelnd.
eine Klippe überspringen, ehe das ängstlich klagende Kleine
sich zum Sprung entschliebt. Doch diese Zeit der kindlichen
Unbeholfenheit zählt nur nach Tagen und ehe eine Woche
vergangen ist, folgt das Kitz blindlings der Mutter, die durch
sorgsame Auswahl des Wechsels seinen Kräften nichts Un-
mõgliches bietet. Und morgens und abends auf den Asungs-
plãtzen, wenn verschiedene Kitzgeihen zusammenkommen, übt
sich die Jugend in neckischen Bocksprüngen und Hetzjagden.
Doch nicht allzulange dauert die Herrschaft des Gems-
wilds über die Almwelt. Schon lange prüft der Talbauer die
Schneelagen der Almberge: kein Zweifel, sie werden von Tag
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zu Tag zusehends kleiner, ja sogar weit droben und selbst
auf der Wetterseite erglänzen hellgrüne Mattenflecke; also
auch für die Ziegen des Hofes ist schon genügende Weide vor-
handen. Brüllend und blökend verläßt am Johannitag das Vieh
den Hof, voran der Toni mit den Ziegen, jodelnd und singend,
dann die stramme Resi mit der kranzgeschmückten Leitkuh,
die am verzierten Halsband die grobe, tiefgestimmte Glocke
trãgt, und dahinter folgt die ganze Schar des jüngern Melkviehs.
Das Gemsrudel war gleich am ersten Abend vor dem
Viehgebrũlle und der Jodelstimme des Geibbuben in die Wände
geflüchtet. Da steht es nun die Nacht über, vernimmt das
Bimmeln der Kuhglocken und das Blöken und Meckern und
wendet sich am frühen Morgen, da es auf dem vertrauten Asungs-
platz nooh das weidende Vieh eräugt, der Hõhe zu. Immer
weiter nach den entlegensten, unzugänglichsten Steinkaren,
in die Nachbarschaft des ewigen Schnees und der Gletscher
weiceht es zurück. Aber selbst in die allem andern Weidevieh
unzugänglichen Grasbänder findet die Ziege den Weg und
mit ihr teilt sich das Gemswild in die höchsten Weiden, freilich
nur das „Geraffl“, die Geiben mit den Jahrlingen, den Kitzen
und schwächern Böcken. Die ältern meiden solehe Gesellschaft
und nehmen jetzt ihren heimlichen Stand im entlegenen
Latschendickicht, aus dem sie zur Nachtzeit zur Asung treten,
heute hier, morgen da, oft wochenlang unsichtbar, wãhrend
sie an Latschen- und Beerentrieben und dem Gras kleiner
Bergwiesen ihre Asung finden bis in den Spätherbst hinein.
Hermann Meerwarth.
78. Hlefantenbad.
Jeden Nachmittag pünktlich um vier Uhr findet sich
mit der Hõflichkeit der Könige vor seinem geräumigen Schwimm-
bassin das behãbige Elefantenpaar ein, das sioh in unserm Klima
recht gut eingebürgert hat. Zwei ihm wohlvertraute Wãrter
halten zwar mit der Peitsohe Wache, wenn es etwa einen
vwischenfall gibt. Doch der erfrischende Vorgang pflegt durch⸗-
—
scnubocnht lomen
aus programmäbig zu verlaufen. Die beiden ungefügen
Dickhäuter begrüben das feuchte Element mit unverkenn-
barem Wohlbehagen und benehmen sich, als wären sie
geborne Amphibien. Nachdenklieh schaut aus dem Nachbar-
quartier das junge Nashorn über den Zaun und man liest
ihm vom Gesicht ab, daß es in seinem breiten Schädel
zweifelsũchtige Betrachtungen anstellt über die unerhörte
Reinlichkeitsliebe seiner Kollegen.
Der kleinere der beiden Riesen ist im Wasser der Vorder-
mann. Es bedarf keinerlei freundschaftlicher Aufforderung
seitens des Bademeisters; aus eignem Antrieb taucht er unter
mit Rücken und Kopf, pudelt sich in den Wellen, die seine nicht
immer anmutigen Bewegungen erzeugen, wie ein übermütiger
junger Hund und lagert sich sohlieblich der Länge nach auf
den Grund, wobei er gleich einem Pohlen auf grüner Weide
alle Viere in die Luft streokt. Seinem Gefãährten, der ein be—
trächtliches gröher und stärker ist, verstellt er planvoll den
Wes, läuft ihm beständig zwischen die Beine und drängt ihn
mit der platten Stirn aufs Trockne. Der Grobe behandelt die
Unarten des Kleinen mit Uberlegenheit und wartet geduldig,
bis dieser auf entschiedenen Befehl des Vorgesetzten das Peld
räumt. Dann befreundet sich der graue Geselle auf seine Art
mit dem kühlen Naß. Zum völligen Untertauchen kann er
sioh nicht entschlieben; der mächtige Rücken bleibt unbenetzt
und sieht aus wie ein verwitterter Pelsblock in bewegter Plut.
Aber der Erzieher des Inders ist nicht für halbe Arbeit. Er
ergreift eine Schaufel und verhilft mit diesem einfachsten
Schõpfgerãt seinem Pflegling zu einer mehrmaligen gründlichen
Dusche. Dadurch kommt der Badende hinter den Geschmack.
Mit Rüssel und Schwanz bespült er nun selbst die übrigen
Kõrperteile; die Säulen stehen tief im Wasser; der Rüssel
arbeitet wie ein Gartenschlauch und sobald sieh eine recht
ansehnliche Menge von Zuschauern angesammelt hat, ergießt
sich der Wassergehalt des Rüssels auseinanderstrahlend mitten
ins Publikum. Das gibt dann ein Aufschreien und Auseinander-
stieben und bald ein versöhntes Lachen und Zurückkommen
— bis ein zweiter Spritzer über das eiserne Gitter fliegt und
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aufs neue zur FPlucht zwingt. Der gemütliche Wassertreter
scheint sioh in dem Glauben zu wiegen die Leute hätten sieh
eingefunden, ihm Vorstellungen zu geben. Daß er Schau-—
gegenstand ist, geht ihm nieht im entferntesten auf. So ver-
harrt er auch mit Bedacht bei der groben Wäsche und nimmt
in keiner Weise Rücksioht darauf, dab die Neugierigen nun
aueh das Nashorn wollen ins Bad steigen sehen.
Dieses allerdings ist mit des Vorgängers Ausdauer höchst
einverstanden; denn als endlich der Wärter für freie Bahn
im Bassin sorgt, steht das gehörnte vorsintflutliche Ungeheuer
noch halbstundenlang mit der Miene peinlichster Verlegenheit
vor dem Wasserrand, beschnüffelt ihn vorsiehtig — und
macht entschieden kehrt.
Die Elefanten werden inzwischen mit der Bürste be—
arbeitet. Manchmal tritt auch ein Reisbesen in Tätigkeit.
Mit diesem wissen sie übrigens selber aufs elegantesteé umzu-
gehen. Sie schwingen ihn mit dem Rüssel und fegen sioh säu-
berlich damit ab. Preilich kostet dieses Verfahren jedesmal
einen neuen Besen. Doch diese Unkosten sind ja bei der Ele—
fantenversorgung die geringsten. Wenn dann die beiden frisceh
gebadeten und gebürsteten, gutgelaunten Rüsseltiere ordent-
lich blitzen vor Sauberkeit, beschlieben sie die Reinigung
in der Regel damit, dab sie ihren Rüssel eifrig voll Sand
saugen und sieh mit diesem Sand — über und über be—
stäuben, als hätten sie Tinte aufzutrocknen. Dann erst ist
ihre Stimmung auf der Höhe.
Anna Behnisch-Kappstein.
79. Nachbescherung.
Es gibt Länder, in denen unsere deutsche Ohristbescherung
auf Neujahr oder auf Dreikönigstag verlegt wird, und bei uns
übernimmt man diese Sitte gern in Fällen, wo man sieh zu
Weihnachten einer Unterlassungssünde schuldig machte und
die Verpflichtung spürt, sich nachträglioh zu „revanchieren“.
Einem solchen Drückeberger glaubte ich zu begegnen,
als ich einen alten Herrn traf, der mit einer ganzen Sammlung
Lesebuch für Höhere Mädchenschulen. J.
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von Tüten und Paketen wie der leibhaftige Weihnachtsmann
eiligen Schrittes dureh die westlichen Straben lief. Vielleicht
ist es auch ein Eranzose oder ein Italiener, vandte ich mir
zu seiner Entschuldigung ein. Aber das unverfälschte Ber-
liniseh, in dem er auf einen neben ihm herlaufenden Jungen
einsprach, der ebenfalls mit Paketen beladen war, belehrte
mich. Der alte Herr, der, in einen schönen Pelz gehüllt, recht
wie ein guter Onkel aussan, war augenscheinlich in bester
Laune. Ich wurde ordentlich neugierig auf den Inhalt seiner
Papierhüllen. Da trat er in einen Grünkramladen. Rote, runde
Apfel lagen im Schaufenster, Apfelsinen und Knackmandeln.
Ich folgte ihm; denn es ergibt immer ein Stilleben, wenn
man zusieht, wie jemand schönes Obst kauft. Doch er kaufte
keins, sondern verlangte für fünfzig Pfennig Mohrrüben:
„Es schad't nichts, wenn sie schon ein bißchen angefroren
sind; sie schmecken doch.“ Ein Pfund Nüsse nahm er auch
noch mit — von der billigsten Sorte. Vor einem Bäcker—
laden angelangt, schickte er seinen Begleiter nach einer Tüte
— alter Semmeln. Ein edler Menschenfreund in der Tat, der
so verschwenderisch zu beglücken verstand!
Jetzt war ich wirklich gespannt, wohin der Wohltäter
seine Schritte lenken würde. Er bog zum Kurfürstendamm
ein und verschwand hinter dem Elefantenportal des Zoolo-
gischen Gartens. Wabhrscheinlich hatte er sieh beobachtet
gefühlt und das genierte ihn. Allein ich hatte auch meine
Abonnentenkarte in der Tasche und war hinter ihm her wie
das böse Gewissen. Aber er spazierte ganz ruhig unter den
kahlen Bäumen. Am Bärenzwinger blieb er stehen. Meister
Petz riß den Rachen auf und winkte mit der Tatze, als begrübe
er einen alten Bekannten. Die harte Semmel fand „reibenden?““
Abgang. Dann ging es zu den Hirschen und Rehen, denen die
angefrorenen Mohrrüben über alle Maßen schmeckten. Jedes
Tier bekam sein Teil und die warme schwärzlichrosa Zunge
leckte dankbar die Hand des Gönners. Vor dem Schafhause
wurden saftige Kohlabfälle, gekochte Kartoffelreste und Apfel-
schalen verteilt. Die Schafe und Zicklein sahen ihn mit Augen
an, in denen sich unergründliche Einfalt mit inniger Rührung
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paarte. Bei den kleinen Raubtieren wurden die leckersten
Vorrãte ausgepackt. Nasenbär und Fuchs erhielten Wurst-
pellen, das Katzenvolk begnügte sich mit Bücklingshäuten,
die Dachse zankten sich um Nüsse, die sie flinß mit ihren
scharfen Nagezähnen aufknackten. Die größte Tüte wurde
den Hunden beschert, die sich an Freudensätzen nicht genugtun
konnten. Ich konstruierte mir dabei das Peiertagsmenũ des
Alten zurück. Einmal hatte es bei ihm einen biedern Gänse-
braten gegeben, dessen ganzes Skelett einzeln an die Tibet-
hunde mit den treuherzigen Augen verteilt wurde, ein ander-
mal einen Hammelrücken und vorher Hühnersuppe und Pri-—
kassee. MWabhrscheinlich waren Gäste dabei gewesen; denn
dieser Art von Knochen, an denen noch ganz hübsches Pleisch
sab, waren viele. Am dritten Pesttag hatte die Köchin ge-
spart; denn nun gab es nur noch die Ruinen einiger Schweins-
koteletten. Bei den Hühnern und Tauben regnete es Erbsen,
bei den Eichkätzchen wiederum Nüsse und Zucker; dle
Makis ergötzten sich sogar an Bonbons. Die Taschen des
Weihnachtsonkels schienen unerschöpflich. Sein letzter Besuch
galt den Pferden, deren Herz er mit Brotkanten, Schrippen
und Kohlrüben gewann.
Als seine Hände endlich leer waren und er bemerkte,
dabß er Zuschauer hatte, wandte er sich zu ibnen um: „Ja,
sehen Sie, ein alter Mann, der keine Pamilie besitzt, will auch
seine Weihnachtsfreude haben. In den eigentlichen Peier-
tagen lassen einen ja die Menschen mit ihren ewigen Einladungen
und Besuchen nicht dazu kommen. An das liebe Vieh denkt
keiner zu Weihnachten. Dabei ist es dankbarer als die Menschen.
Wenn ich bei den Armenbescherungen den Kindern aufbaue,
stehen gleich die Mütter herum und kritisieren und schätzen
den Preis ab. Das Viehzeug ist noch nicht so klug; aber
es versteht sioh zu freuen.“ Ganz unrecht konnte ieh dem
Mann nicht geben.
Anna Behnisch-Kappstem.
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