"1 Brüder Grimm, Wilhelm Tell. 121 anderen nahm er in die Hand, spannte die Armbrust und bat Gott, daß er sein Kind behüten wolle; darauf zielte er und schoß glücklich und ohne Schaden den Apfel von des Knaben Kopf. Da sprach Geßler: „Das war ein Meisterschuß. Aber eins wirst du mir sagen: du stießest den ersten Pfeil ins Göller — was bedeutet das?" Das ist so der Schützen Gewohnheit, meinte der andere; da der Landvogt aber nicht abließ mit Fragen, erklärte er, wenn er ihm das Leben sichere, wolle er es sagen. Als Geßler das getan, sprach Dell: „Nun wohl, sintemal Ihr mir das Leben versprochen, will ich Euch die Wahrheit künden. Hätte ich des Apfels gefehlt und mein Kindlein geschossen, so würde ich Euch mit dem anderen Pfeil getroffen haben." Sobald der Vogt das vernommen, rief er grimmig: „Dein Leben ist dir zwar zugesagt, aber an einen Ort will ich dich bringen, wo Sonne und Mond dich nimmer bescheinen!" Er¬ ließ ihn fangen und binden und in das Fahrzeug legen, mit dem er selbst wieder nach Schwyz schiffen wollte. Als sie nun auf dem See fuhren und bis gen Axerr gelangt waren, packte sie ein grausam starker Wind, sodaß ihr Schiff schwankte und sie elend zu verderben meinten; denn keiner vermochte mehr vor den Wellen das Fahrzeug zu steuern. Indem sprach einer von den Knechten zu dem Landvogt: „Herr, der Tell ist ein starker, mächtiger Mann und versteht sich wohl auf das Wetter; hießet Ihr den losbinden, so vermochten wir wohl aus der Not zu entrinnen." Geßler fragte den Gefesselten, der ihm erwiderte: „Ja, gnädiger Herr, ich getraue mir's, uns fortzuhelfen." Als Tell losgebunden war, trat er ans Steuer und fuhr redlich dahin. Doch lugte er allenthalben auf seinen Vorteil und spähte nach seiner Armbrust, die nahe bei ihm am Boden lag. So kam er einer großen Platte nahe — noch heutigen Tages heißt sie Tellsplatte — und da schien ihm die Gelegenheit zu entrinnen giinstig. Munter rief er den Ruderknechten zu, fest anzuziehen, bis sie an die Platte kämen; wären sie dort, so hätten sie das Böseste überwunden. Als sie nun dem Ufer sich näherten, da gab er dem Fahrzeug einen gewaltigen Schwung, griff seine Armbrust und stieß, indem er selbst auf die Platte sprang, das Schiff zurück, sodaß es auf dem See schwebte und schwankte. Im dunklen Gebirge lief Tell durch Schwyz, bis er gen Küßnach in die hohle Gasse kam. Da langte er vor dem Landvogt an und wartete sein dort. Und als Geßler mit seinen Dienern geritten kam, stand Tell hinter einem Staudenbusch und hörte die grausamen Anschläge, die gegen sein Leben gemacht wurden. Da spannte er die Armbrust und schoß einen Pfeil gegen den Tyrannen, der tot umfiel. Er selbst aber eilte über die Berge gen Uri und berichtete dort seinen Landes¬ genossen, wie alles ergangen war.