Das Schwarzatal im Winterkleide! Wer könnte seine unbeschreiblich große Pracht vergessen, der sie einmal geschaut hat? Wie prächtig stehen die ernsten, dunklen Tannen in und unter dem Schnee, wie schön ziehen sich silberne Bänder und kristallenes Zackenwerk an den Kanten und Simsen der schroffen Felswände hin! Die Felsen im Flusse sind mit eisigen Panzern bedeckt, und an ihnen herunter hängen die Zacken ellen¬ lang, wie Lanzenspitzen eines Riesengeschlechts. In dieser öden, rauhen Welt unter diesem Eis, in diesem wildbewegten, furchtbar kalten Wasser sich wohl fühlen zu können, dazu gehört eine Natur- und Leibesbeschaffen¬ heit, wie sie uns Menschenkindern versagt ward. Und doch hat auch dieser tolle Wirbeltanz von Eisbrocken und Eiswasser seine Liebhaber, die sich keck und frisch kopfüber in ihn mischen. Bemerkst du das Vöglein drunten auf dem Stein im Wasser? Be¬ trachte es dir genau, es ist einer der wunderbarsten Kumpane in unserer ganzen Vogelwell! Sein Kleid ist schlicht, daran ist keine Farbenpracht zu bewundern: braungrau, rußfarben ist das Röcklein, nur das Vor- hemdchen leuchtet sauber weiß. In der Gestalt und Haltung erinnert das Tierchen etwas an den Zaunkönig, mit dem es vielleicht auch verwandt ist; freilich, seine Größe ist beträchtlicher, ungefähr wie die des Stares, aber der Leib ist plumper als bei diesem und das Schwänzchen kürzer. Auf dieses kurze Schwänzlein scheint der Vogel indessen nicht wenig stolz zu sein, er trägt es mit selbstbewußter Anmut, und von Zeit zu Zeit wippt er mit ihm oder eigentlich mit seinem ganzen Hinterleib, ohne daß man recht wüßte weshalb. Das ist die Wasseramsel, die keiner so schön zu würdigen und mit so herrlichen Worten zu preisen verstanden hat wie Friedrich von Tschudi, der Meister der Meister, dem wir das klassische „Tierleben der Alpenwelt" verdanken. Aber der Vogel ist unser mittlerweile gewahr geworden, erschrocken läßt er ein zankendes Geschrei ertönen und fliegt ab mit schnurrendem Fluge, ähnlich dem seines Hausgenossen, des Eisvogels. Und wie dieser erhebt er sich nicht hoch über den Wasserspiegel und streicht dem Flüßchen nach, allen seinen Windungen und Krümmungen folgend; nur äußerste Not und Gefahr kann ihn zwingen, in gerader Linie über Land von seinem geliebten Bächlein wegzufliegen oder gar in die Luft sich aufzu¬ schwingen. Wir wollen uns hier hinter die überreifte Hecke am Wege verstecken. Soweit ich die Wasseramsel kenne, wird sie bald wieder zu jenem Steine zurückkehren, denn sie hat, wie die meisten auf Flußfischerei angewiesenen Vögel, ihre ganz bestimmten Lieblingsstellen, von wo aus sie ihren Fang betreibt, und wo sie auch nachts zu ruhen pflegt. Die einzelnen Tierchen oder höchstens ein Pärchen haben die Fischerei streckenweise gepachtet. Eine jede solche Strecke ist ungefähr zwei Kilometer lang und jeder Pächter duldet den Nachbar nicht in seinem Revier. Um Porger-Lemp, Lesebuch. IV. 12