Becker: Odysseus giebt sich den Phäaken zu erkennen. 95 und erwartete den näher kommenden Mann, der sie um Kleider und wei¬ tere Hilfe anflehte. Sie schickte ihm einige der ftifch gewaschenen Ge¬ wänder, ließ ihn mit Speise und Trank erquicken und riet ihm in die Stadt der Phäaken zu gehen und im Palast ihres Vaters um gastliche Aufnahme zu bitten. Dann bestieg sie mit ihren Begleiterinnen den wäschebeladenen Wagen und fuhr in die Stadt zurück. Die Sonne war schon untergegangen, und alles war dunkel umher, als der Held sich aufmachte, um in die Stadt der Phäaken zu gehen. Mit Fleiß hatte er den Abend erwartet, damit er kein Aufsehen erregte oder irgend ein übermütiger Einwohner ihn mit Fragen belästigte oder gar mit Schmähungen kränkte. Und sieh, kaum näherte er sich den ersten Häusern, da trat schon seine Freundin Athene ihm entgegen, aber er kannte sie nicht. Sie hatte die Gestalt eines Mädchens angenommen, das mit ihrem Wasserkruge vom Brunnen kam. „Liebe Tochter," redete Odysseus sie an, „zeigtest du mir wohl den Weg zu Alcinous' Wohnung, der hier bei euch König ist? Ich komme weither aus einem entlegenen Lande und kenne niemanden in dieser Stadt". — „Recht gern, Väterchen," ant¬ wortete die freundliche Dirne, „will ich dir das Haus, das du verlangst, zeigen. Der König wohnt ganz nahe bei meinem Vater. Komm nur immer mit mir, ich will dich so führen, daß du keinen Menschen weiter zu fragen noch zu sehen brauchst. Denn hier sind die Leute nicht allzu freundlich gegen Fremde. Das macht ihr kühnes Handwerk. Denn es sind Schiffer, aber ihre Schiffe sind auch schnell wie die Vögel und wie die Gedanken". Odysseus dankte dem lieben Mädchen und folgte ihr, von nie¬ mandem gesehen. Er sah staunend den geräumigen Markt und den Hafen, dessen Schiffe und Mauern hoch und trotzig durch die Däm¬ merung starrten. Als sie eine Weile gegangen waren, stand das Mäd¬ chen still und sagte: „Siehst du, Väterchen, hier ist des Königs Haus. Jetzt wirst du die Fürsten gerade bei der Mahlzeit finden. Da geh nur dreist hinein und fürchte dich nicht. Dem Kühnen gelingt ja alles am besten, wenn er auch anderswoher kommt. Aber eines will ich dir noch sagen. Wenn du in den Saal kommst, so suche nur erst die Königin auf, sie heißt Arete. Sie ist sehr klug und wird weit und breit geehrt vor allen übrigen Weibern, und der König selber hält sie gar hoch. Sie regiert alles und entscheidet sogar die Streitigkeiten der Männer mit Weisheit. Und wenn sie ausgeht, so grüßt sie alt und jung wie eine Göttin. Wenn diese dir wohlwill, so kannst du gewiß hoffen, in dein Vaterland zu kommen und alle deine Wünsche zu er¬ reichen". Mit diesen Worten verließ Athene ihren Freund. Er aber ging in den Vorhof des Palastes und blieb verwundert an der Schwelle des Hauses stehen. Denn überaus schön fand er alles, was er hier sah, die Mauern wie von Erz, die Pfosten wie Silber, und golden war der Ring an der Pforte. Und in der Tiefe des offenen Saales waren rings an den Wänden Sessel gestellt, mit schönen Decken belegt, darauf saßen die Edeln der Phäaken und schmauseten. Neben ihnen