v. Tschudi: Der Steinadler. 175 auf kurze Zeit. Er ist kühner, rüstiger und lebhafter als der Lämmer¬ geier, von dem er sich auch durch seinen hüpfenden Gang unterscheidet. Stunden lang scheint er in unermeßlicher Höhe am blauen Himmel zu hangen und ohne Flügelschlag in weiten Kreisen dahinzuschweben; Jäger wollen ihn über dem Gipfel des Wetterhorns und des Eigers, also in einer Höhe von mehr als 12000 Fuß schwebend gesehen haben. Mutig, kräftig, klug, scharfsichtig und von so feiner Witterung, daß er hierin kaum vom Kondor übertroffen wird, ist er zugleich außerordent¬ lich scheu und vorsichtig, meist einsam seiner Beute nachspähend, seltener auch mit seinem Weibchen. Sein helles „Pfülüf" oder „Hiä—hiä" klingt weit durch die Lüfte und erfüllt das kleinere Geflügel mit Schrecken. Wenn er sich seiner Beute nähert, stößt er oft ein „Kik—kak—kak" aus, senkt sich allmählich festen Blickes auf sein Opfer und stößt dann blitzschnell in schiefer Linie auf dasselbe. Keines unserer kleineren Tiere ist vor seiner Kralle sicher; Rehkülber, Hasen, wilde Gänse, Läm¬ mer, Ziegen, die er kühn vor Häusern und Ställen wegholt, Füchse, Dachse, Katzen, Feld- und Waldhühner, Hunde, Trappen, Störche, zahmes Geflügel, selbst Ratten, Maulwürfe und Mäuse sind ihm an¬ genehm, vorzüglich aber Hasen, die er seinen Jungen stundenweit mit ungeschwächter Kraft zuträgt. Den Vierfüßer rettet der flüchtigste Lauf nicht, eher den kleinen Vogel der hastige Flug. Der Adler setzt seine Jagd mit ebenso großer Beharrlichkeit als List fort und ermüdet das flinke Rebhuhn und die rasche Waldschnepfe durch fortgesetzte Verfol¬ gung. Oft jagt er dem Wanderfalken seine Taube, dem Habicht sein Haselhuhn ab. Er ist Herr des Reviers; kein Vogel, überhaupt kein Tier wird ihm gefährlich. Wo er einmal gute Beute gemacht, dahin kehrt er gern zurück. Er ist mutig und stark genug, um gelegentlich auch auf kleine Kinder zu schießen und sie wegzutragen. An den unzugänglichsten Felswänden und lieber im Innern des Hochgebirges als in den Vorbergen, in Deutschland gern in alten Kieferwäldern in der Nähe von Flüssen, baut er aus groben Prügeln, Stengeln, Heidekraut und Haaren einen roh gefügten, flachen Horst, den er in der Niederung zwischen den obersten Eichenästen, im Gebirge in einer überdachten Felsenspalte anlegt und mit 3 bis 4 weißen, braun gesprenkelten, sehr großen Eiern besetzt. Den Jungen bringen die Eltern allerlei Wild zu und zerfleischen es in anschaulicher Lehrweise vor ihren Augen am Rande des Nestes. Sie sollen ihnen sogar junge Reiher auf 3 bis 4 Meilen zutragen. Nicht selten gelingt es dem Jäger, die Nestvögel auszunehmen, welche sich leicht zähmen lassen, sehr gelehrig sind und mit Glück zur Jagd abgerichtet werden. In der Gefangenschaft kann der Steinadler ohne völlige Erschöpfung 4 bis 5 Wochen lang hungern und soll 30, ja 100 Jahre darin dauern. Im Berner Oberlande ist das Dorf Eblingen am Brienzer See seiner Steinadlerjagd wegen berühmt. Etwa eine Stunde oberhalb dieses Dorfes ist in einer wilden Bergpartie ein merkwürdiger Sammel¬ platz und Lieblingsaufenthalt der Adler. Dort lieben sie einzelne un¬ zugängliche Felszinnen, von denen aus sie das Thal der Seeen be¬