59 55. Die Skiläufer. Zur Zeit als Norwegen mit Schweden im Kriege lag, klopfte es in einer finstern Nacht an die Thüre eines Norwegers, der nahe an der Grenze beider Länder eine einsame Hütte bewohnte. Der Bauer erwartete, einen ver— irrten Wanderer zu finden; aber als er die Thüre öffnete, fühlte er sich von kräftigen Fäusten erfaßt und ins Freie gezogen. Ein Haufe Schweden um— ringte ihn und bot ihm einen Beutel voll Gold an, wenn er ihnen den Weg zur nächsten Stadt zeige, die sie überfallen wollten. Der Normann, so arm er war, verabscheute den Verrat und weigerte sich entschieden. Als sie aber ihm und seiner ganzen Familie den Tod androhten, erklärte er sich endlich bereit. Seufzend band er sich die Schneeschuhe unter, warf noch einen Blick auf seine schlummernden Lieben, ergriff dann die Kienfackel, die man ihm darbot, und in raschem Laufe ging es dem Kamme des Gebirges zu. Bald war dieser erreicht, und mit verdoppelter Schnelligkeit glitt die Schar bergab. Schon sah man in der Tiefe die Lichter der schwer bedrohten Stadt schimmern. Da fiel es dem wackern Manne schwer aufs Herz, und er ersann einen verzweifelten Plan. Im Walde befand sich ein tiefer Abgrund. Dorthin lenkte er seinen Lauf und schleuderte seine Fackel über die Schlucht, wo sie in einem Busche weiterbrannte; dann ließ er sich selbst in die Tiefe gleiten und fand hier seinen Tod. Die Schweden, die dem Lichtscheine ahnungslos folgten, stürzten sämtlich gleichfalls in den Abgrund. So hatte der Bauer durch seinen Opfer— lod die Stadi und seine Familie gerettet und den Feinden des Landes den Untergang bereitet. Otto Dingelde in. 300 kleine Auffätze. 1895. S. 103. 56. Norwegische Treuherzigkeit. In Norwegen ist es ein Gesetz, daß alljährlich von den Bewohnern des ganzen Landes Sendboten nach der Hauptstadt geschickt werden, um dort mit dem Könige über des Reiches Wohl und Notdurft ein Storthing Reichs— versammlung, zu halten. Da kommen nun aus den fernsten Gegenden die nor— wegischen Ratmänner zusammen, und gar mancher Bauer oder Bergjäger mit seinem selbstgesponnenen, altväterischen Rocke, mit schlichtem Haar und rauher, schwieliger Hand sitzt mit im Gericht und gibt ein rechtschaffenes Wort dazu. Einst, nach beendigtem Reichstag, bat der König Karl Johann die Ab— gesandten zu Gast, und darunter war auch ein solch derber, gerader Mann aus den Bergen. Der aber antwortete dem Könige, als dieser selber ihn zum Mahle lud: „Nimm es nicht übel, Herr König, heute kann ich nicht bei dir essen, weil ein andrer guter Freund mich schon eingeladen hat; aber wenn du willst, werde ich morgen zu dir kommen.“ Da wurden die feinen Hof— leute starr vor Schrecken über das grobe Bauernwort. Karl Johann aber war ein rechter König; er erkannte das getreue Herz seines Norwegers und ließ sich den Vorschlag gefallen. Und des andern Tages saß der Storthingmann vom Gebirge an König Johanns Tische. H. Masius, Deutsches Lesebuch. 189011. T. J. S. 75 f.