137. Der Thüringer Wald. Von Ludwig Storch. iV in schönes Gebirge übt stets eine wahre Zauberheilkraft auf das verwundete, bedrängte Gemüt aus, und wenn man oben steht, auf den sonnigen Höhen, wenn man die einsamen Gründe mit dem Waldbache durchwandert, so fühlt und erlebt man die tiefe Wahrheit von Schillers Ausspruch, daß auf den Bergen die Freiheit wohnt. So auch der Thüringer Wald, der, nicht allzu hoch, wahrhaft idyllisch, hie und da sogar romantisch, reich an entzückenden An- uitb Aussichten sowie an historischen Erinnerungen ist. Nirgend ist das Gebirge unwirtbar; seine Höhen sind mit Holz freundlich be¬ standen, die Wände mit malerischen Felsen geziert, die Täler saftig¬ grün, von hellen Bächen durchtanzt. In der ganzen Erscheinung, wie in seinen einzelnen Teilen, ist es eines der schönsten Gebirge Deutschlands, ja in gewisser Beziehung das schönste. Gebahnte Wege führen durch die Täler auf die Höhen, viele Kunststraßen steigen über das Joch des Gebirges, fast in allen Tälern haben sich Menschen angesiedelt. Die Gestalt des Gebirges gleicht einem großen, grünen Blatt, entsprossen dem gewaltigen Gebirgs- stamme, der seine Äste und Zweige durch Europa ausbreitet. Ein schönes, grünes, freundliches Blatt ist der Thüringer Wald, das sich Deutschland zu Schmuck und Zierde an seine Brust gesteckt hat. Aber es ist auch die Gestalt eines Herzens, die dies Gebirge zeigt; ein Herz, durchpulst von grünem Waldleben, voll stiller Poesie, voll Sehn¬ sucht und Hoffnung; ein deutsches Herz ist es, das seine Adern, seine frischen, klaren Quellen und Ströme dem Rheine, der Elbe ititb Weser zuführt. Sie gehen aus von ihm, goldglühend und prächtig, wie die vier Ströme, die von Eden ausgingen. Und wie die Wälder und Berge schön und anmutig, so sind die Menschen dort treu und bieder, und es ist ein wahres Wort, das einst Karl August von Weimar aussprach, als die Rede auf die verschiedenen Smmme des deutschen Vaterlandes kam und jeder die glänzenden Eigenschaften seiner Landsleute pries. „Möglich," sagte er, „daß andere Leute mehr von Kultur beleckt, daß sie nach ein¬ zelnen Richtungen hin durch Zufälligkeiten allerart weiter vorwärts¬ geschritten sind; aber einen so schönen, kräftigen Menschenschlag wie meine Thüringer, so treu und ehrlich, so liederreich und poetisch, den sollt ihr mir noch suchen im ganzen Deutschen Reich." Wer nur einmal an diesen idyllischen Tälern und grünen Fern¬ sichten Thüringens sein Auge gelabt hat, wer nur einmal auf diesen schattigen Waldwegen gewandelt ist, der wird sich immer zurücksehnen nach diesen Bergen, die eine so unwiderstehliche Macht auf das Gemüt ausüben.