4 A. Erzählende Prosa. I. Erzählungen. ja jetzt erfahren konnte, ob Niemand ihren Sohn kenne, ob er noch lebe ulld ob er etwas sei; doch hatte sie nicht den Muth zu fragen. Denn es gehört Herz dazu, eine Frage zu thun, wo man das Ja so gern hören möchte und das Nein doch möglich ist. Auch meinte sie, Jedermann merke es, daß es ihr Sohn sei, nach dem sie frage, und daß sie hoffe, er sei etwas geworden. Endlich aber, als ihr der Diener des Wirths die Suppe brachte, hielt sie ihn heimlich am Rocke fest und fragte ihn: „Kennt Ihr nicht Einen bei der Armee, oder habt Ihr nicht von Einem gehört so und so?" Der Diener sagte: „Das ist ja unser General, der im Lager steht; heute hat er bei uns zu Mittag gegessen," und zeigte ihr den Platz. Aber die gute Mutter gab ihia wenig Gehör darauf, sondern meinte, es sei Spaß. Der Diener ruft den Wirth; der Wirth sagt: „Ja, so heißt der General." Ein Offi¬ zier sagte auch: „Ja, so heißt unser General," und auf ihre Fragen ant¬ wortete er: „Ja, so alt kann er sein;" und: „Ja, so sieht er aus und ist von Geburt ein Schweizer." Da konnte sie sich nicht mehr halten vor in¬ wendiger Bewegung und sagte: „Es ist mein Sohn, den ich suche;" und ihr ehrliches Schweizergesicht sah fast ein wenig einfältig aus vor unver¬ hoffter Freude und vor Liebe und Scham. Denn sie schämte sich vor so vielen Leuten, daß sie eines Generals Mutter sein sollte, und sonnte es doch nicht verschweigen. Aber der Wirth sagte: „Wenn das so ist, gute Frau, so laßt herzhaft Euer Reisegepäck von dem Postwagen abladen und erlaubt mir, daß ich morgen in aller Frühe ein Kaleschlein anspannen lasse und Euch hinausführe zu Eurem Herrn Sohn in das Lager." Am Morgen als sie in das Lager kam und den General sah, ja, so war es ihr Sohn, und die junge Frau, die gestern mit ihm geredet hatte, war ihre Schwiegertochter, und das Kind war ihr Enkel. Und als der General seine Mutter erkannte und seiner Gemahlin sagte: „Das ist sie," da küßten und umarmten sie sich, und die Mutterliebe und die Kindes¬ liebe und die Hoheit und Ke Demuth schwammen in einander und gossen sich in Thränen aus, und die gute Mutter blieb lange in ungewöhnlicher Rührung, fast weniger darüber, daß sie heute den Ihrigen fand, als darüber, daß sie ihn gestern schon gesehen hatte. Als der Wirth zurück¬ kam, sagte er, das Geld regne zwar nirgends durch den Kamin herab, aber zweihundert Franken wären ihm nicht so lieb, als gesehen zu haben, wie die gute Mutter ihren Sohn erkannt und sein Glück gesehen hätte; und der Hausfreund sagt: „Es ist die schönste Eigenschaft im mensch¬ lichen Herzen, daß es so gerne zusieht, wenn Freunde oder Angehörige unverhofft wieder zusammenkommen, und daß es allemal dazu lächeln oder vor Rührung mit ihnen weinen muß." 2. Kanmtverstan. Don Johann Peter Hebel. Werke. Karlsruhe, 1847. Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, in Emmendingen oder Gun¬ delfingen so gut wie in Amsterdam, Betrachtungen über den Unbestand aller irdischen Dinge anzustellen, wenn er will, und zufrieden zu werden mit seinem Schicksale, wenn auch nicht viele gebratene Tauben für ihn in der Luft umherfliegen. Aber auf dem seltsamsten Umwege kam ein Deutscher Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrthum zur Wahrheit und zu